Woche 11: Spreepark – Vom stillen Riesenrad und grenzenlosen Zäunen

Warum hier:

Der verlassene Spreepark lockt mich schon seit Langem mit seinem Riesenrad, das geheimnisvoll beim Treptower Park über die Baumwipfel lugt. Der Vergnügungspark liegt heute hinter einem Zaun in einem Dornröschenschlaf. Für mich hält er den Zauber meiner Kindheit – es sind nicht die Fahrgeschäfte, sondern die Entdeckungsfreude und der Optimismus, mich in eine unbekannte Umgebung zu wagen und mich in meiner Fantasie wie die Heldinnen und Helden aus den Romanen meiner Kindertage zu fühlen.

Wie Winnetou und Old Shatterhand in der Prärie umher schleichen oder wie Momo und Gigi Fremdenführer im alten Amphitheater ferne Welten imaginieren.

Zur Einstimmung:

Die ganze Welt ist eine große Geschichte, und wir spielen darin mit.“

Aus „Momo“ von Michael Ende

Der Ort:

Im Schatten der Bäume spaziere ich mit meiner jüngeren Schwester Leonie in Richtung Riesenrad – wir können es von hier aus nicht sehen, aber ich versichere ihr, dass es ganz bestimmt da ist.

Vor uns taucht ein stabiler Metallzaun auf. In regelmäßigen Abständen warnen Schilder vor dem unbefugten Betreten und drohen Verfolgung durch Hunde und Strafgerichte an – vor den Hunden fürchte ich mich mehr. Aber als echte Indianerin will ich mich jeder Mutprobe stellen. Also gehen wir auf dem Spazierweg am Zaun entlang. Bald funkelt links von uns das Spreewasser, auf dem Boote schaukeln. Viele Radfahrer und Spaziergänger drehen auf dem Uferweg ihre Runden.

Durch den Zaun kann ich ein rot-gelbes Zelt sehen, dann einen kleinen hölzerner Bahnhof mit Uhr. Dichtes Gras wuchert über die schmalen Gleise, auf denen schon lange keine Bimmelbahn mehr gefahren ist.

Bestens instand gehalten ist jedoch der Zaun. Am Boden sind an vielen Stellen Betonschwellen und Stahlstifte mit Draht von innen angebracht, um ein Untergraben des Zauns zu verhindern.

Hier gibt es kein Durchkommen. Auch die Bäume nehmen wir genau in Augenschein – hier und da könnte ein Stamm und ein Ast das Herüberklettern ermöglichen, aber die Metallspitzen auf dem oberen Rand haben einiges Verletzungspotenzial – das Risiko ist uns zu groß.

Aber so schnell geben wir nicht auf. Und schließlich sehen wir das Riesenrad durch den Zaun, wie es in stiller Würde einen perfekten Kreis in den Himmel malt.

Wir haben das Gelände schon fast umrundet und sind auf dem Rückweg, als Leonie eine Stelle mit weichem Erdboden am Zaun entdeckt und zunächst spielerisch mit Stock und Fuß eine kleine Mulde gräbt.

„Aber da passen wir nie und nimmer durch“, sage ich.

„Wenn der Kopf durchpasst, dann geht auch der Rest des Körpers durch. Das hat ja auch schon bei unserer Geburt geklappt“, sagt Leonie. Und sie vermisst prompt mit ihrem Stock die Mulde und meinen Kopf – passt.

Ich halte entgegen, dass sich meine Körpermaße seit meiner Geburt nicht nur absolut, sondern auch proportional verändert hätten.

Aber sind wir nicht Mitspielerinnen in einem Abenteuerroman? Wer kann schon sagen, ob die nachfolgende Erzählung Fiktion oder Realität ist? Gigi Fremdenführer wird sie sicherlich gefallen.

Bevor noch mehr Spaziergänger neugierig unsere Grabungsarbeiten begutachten und ein selbsternannter Ordnungshüter auftaucht, lege ich mich kurzentschlossen auf den Boden und schiebe meinen Kopf mit zusammengekniffenen Augen unter dem Metallrand des Zauns hindurch (eine Erdbehandlung für meine Haare inklusive) – und tatsächlich, auch Oberkörper und Beine kann ich mit Luftanhalten unter dem Zaun durch quetschen. Auch Leonie gelingt die enge Passage – ganz ohne Hebamme.

Wir suchen erst mal Deckung in einem nahen Betonschuppen, hier begrüßt uns ein toter Vogel. Dann pirschen wir weiter Richtung Riesenrad, müssen aber an einem Verwaltungshaus in der Mitte vorbei, dort steht ein kleines Auto vor der Tür. Plötzlich kommt ein mächtiger Typ ganz in Schwarz um die Ecke: „Security“. Wir hechten hinter die nächste Hauswand. Hoffentlich hat er uns nicht gesehen.

Mit einigem Herzklopfen tasten wir uns weiter ins Gelände vor, zwischen den Bäumen hindurch und stoßen dann auf die Bahngleise. In bester Westernmanier folgen wir den Gleisen, jetzt können wir im Laufschritt voran kommen und bald finden wir Sichtschutz vor dem gefürchteten Sicherheitsmann. An die Hunde wollen wir jetzt nicht denken.

Vor uns erhebt sich das herrliche Riesenrad – es steht still wie die Zeit – umgeben von einem ausgetrockneten See. Ein längliches Holzschiff mit frech aufgerolltem Bug ruht von seinen Abenteuerfahrten aus.

Am Ufer des Sees erhebt sich eine bunte Häuserzeile – ein Geisterdorf, das uns ganz alleine gehört. Dort hängt eine Brezel über der Tür – vielleicht war hier früher eine Bäckerei… Hier könnten wir Kaufmannsladen spielen.

Ich fühle mich zurück versetzt in meine Kindheit – das Spielen mit meinem Schwestern, bei dem jeder Ort in etwas Magisches verwandelt werden konnte und Raum und Zeit den Regeln unserer Fantasie folgten.

Gerne würde ich hier länger bleiben und jeden Winkel dieser abgeblätterten Zauberwelt erkunden, aber eine atemlose Unruhe schwingt immer mit. Jeden Moment könnten wir entdeckt werden. Aber auch dieses Gefühl von ominöser Gefahr und Vergänglichkeit des Spiels macht seinen besonderen Reiz aus.

Schließlich treten wir den Rückzug über die Gleise an.

Was ich von diesem abenteuerlichen Ausflug mit nach Hause nehme, ist mehr, als die Erde in den Gesäßtaschen meiner Jeans. Es sind diese Eindrücke von Selbstüberwindung und Wunscherfüllung.

Oft geht es mir so, dass ich in meiner Fantasie und insbesondere auch beim Schreiben Orte erkunden und erschaffen kann, die für mich körperlich nicht erreichbar sind. Schreibend kann ich jede Begrenzung überwinden (außer im paradiesischen Schreibland geht ein böser Zauber namens Schreibblockade um).

Heute habe ich es mal umgekehrt gemacht und mich den physischen Grenzen eines realen Ortes gestellt. Diese Sinneseindrücke und die Expedition ins Unbekannte sind Dinge, die ich auf mein Schreiben übertragen möchte. Auch in meiner imaginären Welt möchte ich Neuland entdecken.

Das gewisse Extra:

Eine letzte Fahrt auf dem Riesenrad.

Meine Sterne-Wertung für den Schreibort:

Produktivität („wordcount“)

☆☆☆☆☆

Inspiration

★★★★★

Keine-Riesenra(d)tlosigkeit-bei-Zaunzensur-Faktor

★★★★★

23 Antworten auf „Woche 11: Spreepark – Vom stillen Riesenrad und grenzenlosen Zäunen“

  1. Was für ein Abenteuer! Sehr amüsant finde ich Leonies „Kopf-passt-alles-passt“-Theorie aus ihrer Geburtserfahrung … ob die gelungene „Zaun-Unterkriechung“ auch eine Kopfgeburt der Schriftstellerin ist??? Immerhin haben deutsche Gefängnismauern Karl May auch nicht daran gehindert, durch den Wilden Westen zu reiten, feindliche Lagerfeuer zu umschleichen und Blutsbrüderschaft mit Winnetou zu schließen! Du und Leonie seid jedenfalls blutsschwesterliche Kundschafterinnen, ihr folgt mutig der Fährte des dampfspeienden Strahlrosses in die Wildnis. Ich kann mir vorstellen, dass ihr sogar mit den Hunden gekämpft habt – und sie mit der Magie des Medizinmannes gebändigt habt. Diese Episode muss allerdings euer Geheimnis bleiben.
    Das Haus mit der Brezel gefällt mir (hierzu wünsche ich mir demnächst noch ein Märchen vor dir, Ulrike :-)). Ganz poetisch ist ja das verlassene Riesenrad, das allen Stürmen trotzt und eine Brücke in den Himmel schlägt! Das Riesenrad scheint mir eine starke Persönlichkeit zu haben – stolz wie ein Mustang in der Prairie.
    Insgesamt zeigen die schönen Fotos eine zauberhafte, geheimnisvolle Welt.
    Ich bin gespannt, welches Neuland du in deinen teils live erkundschafteten und teils imaginierten Welten noch entdecken wirst! Als Leserin lasse ich mich jedenfalls gerne in Fesseln schlagen und in die Wildnis entführen. Howgh!

    1. Vielen Dank liebe Dorit. Ja, Leonie und ich haben uns als Greenhörner ganz gut behauptet. Aber beim Hundeangriff hätte Winnetou uns beistehen müssen.

  2. Spuk unterm Riesenrad

    da werden Kindheitserinnerungen wieder wach…

    In den Ferien waren mein Bruder und ich im Spreepark Berlin.
    Auch Erinnerungen an der DDR-Kinderserie „Spuk unterm Riesenrad“ (dort wo die Serie u.a. gedreht worden ist) werden wieder lebendig.

    Schade das es nicht mehr genutzt wird.

    1. Vielen Dank lieber Oliver. Habe auf youtube mal beim „Spuk unterm Riesenrad“ reingeschaut. Ulkig! Sogar eine Eisenbahn kam vor.

  3. Liebe Ulrike,
    für mich ist es fast ein wenig, als wäre ich mit dabei gewesen. Und wie sehr wünschte ich mir, ich hätte mit von der Partie sein können! Denn dieses nicht zugängliche Riesenrad übt schon lange eine große Faszination auf mich aus; vor etwa zehn Jahren habe ich mir sogar mit einem Freund einen Krimi ausgedacht, dessen Ende dort stattfindet (der Krimi wurde nie geschrieben, so stimme ich dir also bzgl. der Inspirationspunkte und des word count voll zu). Als ich deinen Beitrag jetzt gerade las, war mir so, als hätte ich letzte Nacht erst von dem Riesenrad geträumt, allerdings, dass es wieder in Betrieb genommen worden sei — und auch bei mir vermischen sich demnach sofort Traum/Fantasie/Wirklichkeit, wenn ich an diesen sehr speziellen Ort denke. Du schaffst es in deinem Text und durch die Fotos die Weltentzogenheit und Mysteriösität des Ortes hervorragend einzufangen.
    Das Video, das du aufgetan hast, rundet die Stimmung perfekt ab.
    Zum Glück hast du deinen Beruf an den Nagel gehängt — sonst hätten wir auf das alles verzichten müssen!
    Danke für diese zahlreichen Wort- und Bildgeschenke der vergangenen Wochen.
    Deine Fe.

    1. Vielen Dank liebe Fe. Das Riesenrad als Schauplatz (show down) für einen Krimi klingt wirklich spannend. Vielleicht rollt sich das Rad ja doch noch in eine deiner nächsten Geschichten…(in deinen Träumen kreist es ja schon). 🙂

  4. Liebe Ulrike,
    ich finde es beeindruckend, dass Ihr euch so mutig unter dem Zaun durchgezwängt habt und dass Du diesen Mut zum realen Leben auf den Mut, dein Schreiben zu leben, überträgst…
    Ich habe richtig mit Euch mitgefiebert. 🙂
    Gleichzeitig finde ich es so traurig, dass ein Ort der Freude und Vergnügung hinter Gittern verrottet. Gleichwohl dieser Ort ganz bezeichnend dafür ist, wie in unserer Zeit mit Kultur umgegangen wird und so ist er wohl in gewisserweise in seiner jetztigen Form zu einem Denkmal geworden und mahnt umso mehr, wofür ja auch du plädierst, mutig zu leben und Leben zu genießen.
    Danke Dir für diesen anregenden Ausflug!
    lg. mo…

    1. Vielen Dank liebe Mo. Ja, der Park und seine bunte Pracht hat es wirklich verdient, wieder für Besucher geöffnet zu werden (dann möchte ich zuerst auf dem Riesenrad fahren). Aber im jetzigen Zustand fordert er mehr zum fantastischen Abenteuer heraus.

  5. Liebe Ulrike,
    danke für deine mutige Reise an einen verwunschenen Ort! Ich selbst bin so obrigkeitshörig und hätte diese Welt sonst nie gesehen. Obwohl ich früher oft auf der Insel der Jugend zu Konzerten war, für den Plänterwald hat es nie gereicht. Wäre auch nicht dasselbe gewesen wie dein Besuch. Wahrscheinlich träume ich kommende Nacht vom quietschenden Riesenrad.
    LG nach Berlin, Amy

    1. Vielen Dank liebe Amy. Ja, der Plänterwald ist echt schön (war zum ersten Mal dort). Und auf die Insel gehe ich mal bei meinem nächsten Besuch.

  6. Liebe Ulrike,
    das alte Riesenrad steht da und lädt ein, der Wind vermag es zu drehen und unsere Phantasie und es fasziniert mich, wie nennst du es an einer Stelle: „..schreibend kann ich jede Begrenzung überwinden.“ Und so klettere ich mit dir und deiner Schwester unterm Zaun durch, in eine andere Zeit, in eine Geschichte, die nach Abenteuern riecht und schmeckt und die nach Hunden und Security Ausschau hält, immer auf der Suche nach etwas Altem, das inspiriert, an dem zwar der Zahn der zeit nagt, aber genau deshalb so besonders ist … Was für ein Ort und was für eine Kulisse für die Phantasie unserer Kindheit, die bis heute durch genau solche verwilderten Orte wach gehalten und ausnahmlos beflügelt wird.
    Danke für diesen besonderen Ausflug, wische mir gleich nochmal den Dreck vom Boden unterm Zaun aus dem Gesicht …:-)
    Da, siehst du, es dreht sich wieder, das Riesenrad, nachts, wenn nur der Mann im Mond zuschaut, bis gleich …
    Liebe Grüße,
    Mia.

    1. Vielen Dank liebe Sabine. Ja, dieses Eintauchen in Kindheitserinnerungen und das kindliche Gefühl von Optimismus (gemischt mit Grusel) sind etwas Besonderes. Ob ein verwunschener Ort oder der Mann im Mond – diese Welten beflügeln unsere Fantasie.

  7. Liebe Ulrike,
    ich habe beim Lesen die ganze Zeit gehofft, dass die Hunde nicht doch noch kommen. Wie mutig sich da einfach unter dem Zaun durchzudrücken. Und welch eine verzauberte Welt. Am besten hat mir dieses Boot gefallen und natürlich auch das alles dominierende Riesenrad. Und das tolle, ihr hattet alles für Euch – Herzklopfen inklusive. Danke, dass Du mich visuell mit in das Abenteuer genommen hast.
    Liebe Grüße
    Anne

  8. Liebe Ulrike, der Park liegt genau an meiner Jogging Strecke, manchmal wenn es sehr windig ist dreht sich das Riesenrad wie von Geisterhand, das finde ich toll. Mutig von Euch, daß Ihr Euch da reingetraut habt. Ich war mal vor Jahren drin, da gab es aber noch keinen Wachschutz und soetwas. Es gibt auch offizielle Führungen, ich gehe aber davon aus, daß man dann auf den Wegen bleiben muss. Ich verfolge weiterhin Deine Abenteuer in Berlin. Was steht denn noch au der Liste? Der ehemalige Militärflughafen Berlin Gatow? Die Abhörstation auf dem Teufelsberg? Das Stasi-Ausbildungszentrum vor den Toren Berlins? Bin gespannt. Herzliche Grüße Tobias

    1. Vielen Dank lieber Tobias. Ja, der Park ist wirklich schön und das Rad scheint geheimnisvoll darüber zu wachen. Eine geisterhafte Drehung erlebe ich vielleicht beim nächsten Mal. Hinsichtlich Woche 12 meiner Blog-Expedition hast du wahrlich eine prophetische Gabe!

  9. So lebendig erzählt, auch die humorvollen kleinen Zugaben im Text.
    Das Rad und der Himmel, das erinnert an alte Mythen. Ich finde es auch erstaunlich, wie viele Erinnerungen und Beziehungen zu dem Ding in den Kommentaren lebendig werden.

  10. Liebe Ulrike,

    Dein Beitrag über das stillgelegte Riesenrad und die Abenteuer mit Deiner Schwester haben mich inspiriert. Ich liebe es auch sehr, Dinge zu entdecken, Spuren nachzugehen, Abenteuer zu erleben.
    Wenn es dann gelingt, so etwas auf das Schreiben zu übertragen, wirken Geschichten sehr authentisch. Ich habe diese und andere Geschichten von Dir gern gelesen. Es gelingt Dir gut, spannend zu schreiben.
    Dein Märchen mag ich.
    L.G.
    Gabriele

  11. Hallo liebe Ulrike,
    heute endlich komme ich dazu, mir deine Zeilen über das Riesenrad durchzulesen. Ich habe mich damals in Berlin nie aufs Gelände gewagt und finde eure Aktion beneidenswert!
    An die Serie zu DDR-Zeiten kann ich mich auch schwach erinnern (hab mal schnell bei youtube geguckt). Krass, was man alles so vergisst.
    Es ist eine sehr gute Idee, neue und mal andere Orte aufzusuchen, um sich kreative Anregungen zu holen. Berlin bietet ja allerhand Gelegenheit, wie ich deinem Blog immer entnehme.

    Zumindest schön, dass ihr beide wieder unterm Zaun zurück gekommen seid, ohne dass euch ein Hund am Schlawitschen gepackt hat oder vielleicht wäre er gern mitgekommen (denkbar, dass er ein verzauberter Prinz war, der einen Ausgang aus dem verwunschenen Park gesucht und über zwei Feen gefunden hätte *smile*).

    LG aus Frankfurt
    j.

    1. Vielen Dank liebe Janina! Hi hi – ich stelle mir jetzt bei jedem furchteinflößenden Hund vor, dass er in Wirklichkeit ein verzauberter Prinz ist. 🙂

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