Wie weit weg sind wir noch von der totalen Überwachung? Längst bin ich daran gewöhnt, dass Google, facebook und Co. meine Wünsche besser, als ich selbst voraus sieht, weiß, wen ich kenne und wen ich kennen lernen möchte. Kürzlich habe ich eine neue Bekanntschaft gemacht – natürlich im world wide web – mit einem Artikel über die Gesichtserkennung im Klassenraum in China. In einer Schule in Hangzhou hängen drei Kameras über der Tafel und zeichnen die Mimik der Schüler auf, dabei identifiziert die Software 7 verschiedene Emotionen. Ist ein Kind unaufmerksam, meldet der Computer das der Lehrerin. Diese dystopische Aktualität hat mich zum folgenden Gedicht inspiriert.
Das Land des überwachten Lächelns
(Hangzhou)
Chinesische Kinder sind glücklich
glücklicher, als anderswo
Chinesische Kinder sind traurig
trauriger, als anderswo
Chinesische Kinder sind verärgert
verärgerter, als anderswo
Chinesische Kinder sind abgeneigt
abgeneigter, als anderswo
Chinesische Kinder sind überrascht
überraschter, als anderswo
Chinesische Kinder sind neutral
neutraler, als anderswo
Chinesische Kinder haben Gefühle
sieben Arten, so wie anderswo
Ihre Gesichter verraten sie
vermessen und ausgewertet, so wie nirgendwo
Drei Kameras wachen über Schüler
überwachsamer, als anderswo
Die Erkennungssoftware ist klug
klüger, als anderswo
Chinesische Schulen sind fortschrittlich
fortschrittlicher, als anderswo
Noch umfassender ist die Überwachung durch das Sozialkreditsystem in China. Hier steht das Sozialverhalten der Menschen unter Bewertung. Für gutes Betragen gibt es Pluspunkte, für Verfehlungen Punktabzüge. Jeder Mensch ist in eine von 4 Klassen eingeteilt (A bis D), je nach Punktestand. Wer nicht in A ist, wird nicht befördert, wer in C abrutscht, wird zusätzlich kontrolliert und wer auf D abgesunken ist, bekommt keine Wohnung, keine Kredite, keinen Job und darf nicht mehr ins Ausland fliegen. Klingt nach George Orwell reloaded?
Ich frage mich, ob wir in Deutschland vor diesem System wirklich sicher sind – wo die meisten Menschen heute schon freiwillig für ein paar Euro ihre Konsumgewohnheiten preisgeben (Payback) und sogar ihre Biodaten per App an ihre Krankenkassen übermitteln würden, damit sie Prämiennachlässe und Boni für gesundheitsförderliches Verhalten (Ernährung, Sport, präventive Zahnreinigung u.a.) bekommen. Vieles, was eigentlich empörend ist, wird mit einem Schulterzucken hingenommen. Macht halt jeder… Solange ich Vorteile davon habe…
Mein folgendes Gedicht trägt den Titel „Rongcheng“ – diese Küstenstadt im Osten Chinas gilt als Vorzeigeprojekt des Sozialpunktekreditsystems.
Rongcheng
Sammelst du Sozialpunkte?
an der roten Ampel halten
mit dem Fahrrad fahren
Schulden bezahlen
um die Eltern kümmern
Vater Staat schreibt es dir gut
Steigst auf zur Stufe A
bekommst Kredite
gehörst zur Elite
Verlierst du Sozialpunkte?
alleine Auto fahren
öffentliches Ärgernis
Beschwerden einhandeln
demonstrieren
der Staat schreibt es dir an
steigst ab zur Stufe D
bleibst am Boden
Beförderung gestrichen
Moral ist unsere Marktwirtschaft
Sozial ist unsere Währung
sei vollkommen
sei willkommen
Abweicher auf’s Abstellgleis
Punkte sind unparteiisch
Belohnung und Bestrafung
so funktioniert
die digitale Diktatur
Liebe Ulrike,
George Orwells 1984 auf chinesisch, sehr gruselig …
Nachdenkliche Grüße,
Mia
Vielen Dank liebe Mia. 🙂 Stimmt, schon erschreckend, wie die Realität der Fiktion nacheifert.
Liebe Ulrike,
von der inneren Vorstellung ist mir diese Art von Überwachung eigentlich immer noch sehr fern. Wenn ich dann aber nur beim Tippen auf meinem Smartphone sehe, was dieses Teil schon von mir im Voraus weiß, was ich gleich sagen werde und mir das auch entsprechend vorschlägt, kriege ich das große Gruseln. Aber ganz ohne digitale Welt möchte ich auch nicht mehr leben.
Liebe Grüße
Anne
Vielen Dank liebe Anne. 🙂 Stimmt, die Vorteile und Erleichterungen der digitalen Welt sind verführerisch und auch ich möchte nicht darauf verzichten. Aber man zahlt einen Preis…
Liebe Ulrike,
Dieses Sozialsystem aus China wird auch in einer Folge der Serie „Black Mirror“ aufgegriffen und weiter gedacht. Dort wird jede zwischenmenschliche Interaktion von deinem Gegenüber bewertet. Oft ist ja Thema, dass das Internet durch die Anonymität brutale Ehrlichkeit hervorruft und man macht sich darüber Gedanken, wie man dagegen etwas tun kann. Aber dass die andere Seite, nämlich verlogene Freundlichkeit, auch nicht das Gelbe vom Ei ist, finde ich einen interessanten Gedanken!
Deine poetische Verarbeitung hat mir auf jeden Fall auch gut gefallen. 🙂
Vielen Dank liebe Cari! 🙂 „Black Mirror“ klingt super interessant (habe mir einen trailer auf youtube angesehen). Ja, das ist ein sehr interessanter und kluger Gedanke von dir, wie die Freundlichkeit – wenn nur zum Ziel einer Belohnung für normiertes und überwachtes Sozialverhalten praktiziert – die Kehrseite der anonymen Ehrlichkeit (in positiver und negativer Ausprägung) ist.
Liebe Ulrike,
das ist wirklich ein wichtiges und spannendes Thema, über das es sich tiefergehend nachzudenken lohnt (z. B. verführerische Vorteile der digitalen Welt mit Inkaufnahme der Überwachung…). Das hast sehr pointiert in Poesie gekleidet! Deine Verse finde ich sehr modern, sie haben in ihrer Schlichtheit viel (Aussage-)Kraft und Tiefgründigkeit. So geschmeidig sich die Worte lesen lassen, so leichtgängig verfällt man den digitalen Verführungen.
Dazu fällt mir ein, was Max Frisch mal gesagt hat (sinngemäß): „Man soll seinem Publikum die Wahrheit nicht wie einen nassen Waschlappen um die Ohren hauen, sondern sie hinhalten wie einen Mantel, in den man bequem schlüpfen kann.“
So ist es dir auch mit deinen Versen gelungen: Deine Denkanstöße gleiten geschmeidig in die eigene Gedankenwelt des Lesenden und wirbeln dort die gewohnten (allzu bequemen) Muster auf.
Nachdenkliche Grüße, Dorit
PS: Deine bildliche Umsetzung (Spiel mit C und Emoticon-Bildsprache der Social Media) finde ich – wie immer – sehr gelungen!
Vielen Dank liebe Dorit! 🙂 Den Ausspruch von Max Frisch finde ich super und für mich als Schreibende ein gutes Ideal. Es freut mich, dass du meine Verse so empfunden hast. Habe mir auch einige Mühe gegeben, einen modernen und einfachen (zur verkürzten Netz-Sprache passenden) Sprachstil zu finden (insbesondere nach der vielen Kritik aus meiner Lyrik-Meisterklasse kürzlich, wo mir ein antiquierter Stil vorgeworfen wurde…). Schön, dass du mein Smile-C erkannt hast. 🙂 🙂 🙂
Dahinter steht der Glaube, dass alles als ein Abgegrenztes identifizierbar ist und es auch alles an der Oberfläche erkannt werden kann. Die Künstler vertrauen darauf, dass das unrealistische Annahmen sind. Wenn du darüber so gekonnt in Versen schreibst, ist das eine sehr gelungene Widerlegung des Überwachungswahns.
Ganz lieben Dank! 🙂 Ja, ich denke auch, dass ein Computer selbst mit genauster Analyse der Mimik nicht die Seele eines Menschen auswerten kann, und schon gar nicht dessen jeweilige Individualität und Einzigartigkeit erfassen kann – denn die Identifizierung beruht ja gerade auf dem Prinzip der Verallgemeinerung/Gleichmachung. Genauso wenig glaube ich, dass ein Computer Kunst erschaffen kann (auch wenn ich im Internet schon einen Lyrik-Generator gefunden habe – die Gedichte sind aber nonsense). Das kann nur ein Mensch.