Ein Drittel des Weges auf meinem NaNoWriMo-Schreibabenteuer habe ich bewältigt – mit Hängen und Würfen! Noch nie waren 1.667 Wörter (das durchschnittlich zu erringende Tagespensum, damit ich in 30 Tagen auf die Romanlänge von 50.000 Wörtern komme – so ist die Challenge dieses Wettbewerbes mit mir selbst) so schwer zu finden. Wo seid ihr Wörterwellen und Schreibrausch?
Ich frage mich, wie ich das im letzten Jahr so locker geschafft habe, mit Überschuss jeden Tag und leichtem Fluss (zumindest im November – meine Schreibreise ging ja dann noch drei Monate weiter, da wurde der Weg noch steinig).
In der ersten Woche musste ich mich oft mit Stoppuhr (10 Minuten schaffst du, dann Pause) von Etappe zu Etappe hecheln. Auch der Extras-Button (zum Wörter zählen) und mein Taschenrechner sind im Dauereinsatz: „Oh mein Gott, wie viel noch, habe ich es endlich geschafft???“
Liegt es am vielleicht Stoff?
„Blackout“ nenne ich meinen Roman. Ich fürchte, dieser Titel ist in meinen Schreibprozess durchgesickert und zieht dort schwarze Fäden in meinen Gedanken.
Meine Geschichte baut auf den 15 Romanseiten auf, die ich im August in der Romanwerkstatt im Studium geschrieben habe. Die Handlung spielt an einem heißen Julitag – am Freitag, den 13. (den gab es wirklich dieses Jahr) in Frankfurt am Main – kurz nach 14 Uhr fällt in der ganzen Stadt der Strom aus (für mehrere Stunden). Der neue EZB-Wolkenkratzer ist einer der dramatischen Handlungsorte.
Inspiriert zu diesem Romansetting hat mich der große Stromausfall am 13. Juli 1977 in New York City – eine der dunkelsten Stunden der Stadt mit Plünderei und Gewaltausbrüchen. Ich finde es sehr reizvoll, Figuren unterschiedlicher Gesellschaftsschichten und Temperamente in dieser menschlichen und zivilisatorischen Extremsituation aufeinander prallen zu lassen. Wer handelt heldenhaft, wer schurkenhaft?
In meiner Geschichte wird zwar auch Blut fließen, aber im Zentrum steht die Romantik. Im Moment des Stromausfalls führt das Schicksal (ich) die schlagfertige Putzfrau Natasha und den zurückhaltenden Banker Robert im Fahrstuhl zusammen. Sie müssen sich aus der Falle befreien und kommen sich dabei näher.
Außerdem gibt es noch die Milionärsgattin Gabriele von Auerstedt, die im Moment des Stromausfalls in einer Umkleidekabine steht und spontan zur Dessous-Diebin wird. Dabei wird sie vom Fahrradkurier Yul beobachtet, ein 17-jähriger lebenshungriger Junge aus dem Rotlichtmilieu, der von einem besseren Leben träumt.
Dann gibt es noch den älteren Herrn aus Wien im weißen Anzug (bankrott und bigott), der die Asche seiner toten Frau in einer Lebkuchendose mit sich herum trägt und einen fatalen Plan verfolgt. Soweit, so gut.
Als ich am 1. November mit dem Schreiben begonnen habe, wollte ich nicht dort fortsetzen, wo meine Romanseiten endeten (im Moment des Stromausfalls), sondern noch eine wenig zurück gehen und mir mehr Zeit zur Einführung meiner Figuren geben. Die fertigen Seiten (die ich nicht in meinen NaNoWriMo-Wordcount mit einrechne – das ist Ehrensache) sind wie der Rohbau – dort habe ich sehr konzentriert auf wenig Raum die Charaktere aufgebaut – den ich in den letzten 11 Tagen von innen ausgestattet habe – zuweilen mit viel Detailliebe und überflüssigem Stuck.
Ich hatte das Gefühl, dass ich meine Figuren erst noch in ihrem Alltag zeigen möchte, bevor ich sie in die Ausnahmesituation des Stromausfalls stürze.
Also habe ich mich ausschweifend jeder Figur zugewandt: Natasha beim abendlichen Putzen (u.a. tauscht sie versteckte romantische Zettelbotschaften mit dem Inhaber eines der Büros aus, beide wissen nicht, wer der geheimnisvolle Schreiber ist – Spoiler Alert: es ist Robert), Robert beim Frühstücken und mit dem Fahrrad zur Arbeit fahrend, dem Wiener anreisend und Gabriele im Schönheitssalon.
Das klingt so, als wäre mir das leicht von der Hand gegangen. Fehlanzeige. Ständig ermahne ich mich beim Schreiben „show, dont’t tell“. Diese goldene Regel habe ich tausendmal gebrochen. Ich bin eine echte Plaudertasche und erkläre ständig die Gedanken und Motivationen meiner Figuren, auch wenn ich versuche, sie wenigstens in Dialogen (wenn schon nicht mit Handlungen) zu zeigen.
Als Erzählperspektive habe ich den Personalen Erzähler gewählt und wechsele zwischen der Sicht von Natasha, Robert, Yul und Gabriele. Ich drifte gefährlich nahe an den Allwissenden Erzähler, was ich vermeiden möchte.
Für den Wiener im weißen Anzug (der in den Action-Szenen aus der Sicht Dritter gezeigt wird und eher unsympathisch rüber kommt) habe ich mir den Trick überlegt, dass ich seine Innenwelt in Briefform sichtbar mache. Wieder ganz und gar „telling“ – er sitzt im Zug und schreibt einen langen Brief an „Meine geliebte Claudette“ – das habe ich an Tag 3 geschrieben, als ich um jedes Wort gerungen habe, um meinen Wordcount zu schaffen (habe nach 557 Wörter kapituliert).
Ja, die Statistik sitzt mir im Nacken. Die Disziplin ist das oberste Gebot. Ich zwinge mich, an jedem Tag zu schreiben (meistens zwischen 21 Uhr und Mitternacht, wenn es kein „später“ mehr gibt). Ich lasse keine Ausreden gelten. „Heute lasse ich es sein, dann schreibe ich morgen eben das Doppelte“, gibt es nicht. Die Aufholjagt ist Stress pur – selbst, wenn mir nur ein paar hundert Wörter fehlen. An Tag 3 und Tag 7 habe ich mich zu 557 und 432 Wörtern gequält (immerhin), dafür an anderen Tagen 2.400 Wörter geschafft. Ich versuche jedoch, den Durchschnittslevel zu halten (1.700 pro Tag wären ideal, mit Mini-Polster).
Hier meine aktuelle Statistik. In der Zeile „At This Rate You Will Finish On“ steht nun endlich der 30. November. Bis vor 2 Tagen war es der 3. Dezember – too late! – Panikaufwallung.
Genug der Worte? Mein obiges Lamento hat 899 Wörter (das wäre schon über die Hälfte meines heutigen Tagespensums) – ach, ich glaube, ich leide an einer word-count-compulsion – einem Schriftstellerzwangsstörungszahlensyndrom…
Jetzt möchte ich euch noch eine Leseprobe gönnen. Ich hatte letzte Woche ein intensives Vorstellungsgespräch und habe daraus jede Menge Tintensaft gesogen. Die Fragen des Interviewers sind mir echt so gestellt worden – ihr werdet sehen, wie meine Romanheldin Natasha damit klar kommt.
Übrigens neben dem Briefschreiben eine weitere Selbstaustricksung: Wenn ich meiner Erzählerstimme schon das Schwafeln verbiete (show show show), dann lasse ich meine Figur im Job Interview einfach ihre Lebensgeschichte erzählen. Mein innerer Kritiker soll sich halt bei Natasha beschweren.
Liebe Ulrike,
ich habe gerade eine Mail an dich mit der Frage weggeschickt, wann wir denn in dem NaNoWriMo-Monat mal wieder unsere Geschichten sich schreibend begenen lassen, als ich deinen neuen Beitrag hier las und mich sofort festeglesen habe, wie immer, wenn ich deine Blog-Beiträge lese. Und ja, dieses Jahr ist es anders zu schreiben, Auch ich quäle mich oft, ganz anders wie im letzten Jahr, aber da habe ich auch noch keine Masterarbeit damit vor mir hergeschoben … Und auch ich habe mit den ersten Seiten des Romanentwurfs angefangen und dabei gemerkt, dass ich eine ganz andere Hauptfigur habe und mit der schlage ich mich jetzt herum …
Und, meine Liebe, Natasha gefällt mir, ich will mehr über sie lesen, du hast mich neugierig gemacht, lass mich bitte mehr lesen! 🙂
Und, um es mit den Worten von Julia Cameron zu sagen, immer da anfangen, wo wir gerade stehen oder hängen und dann entsteht immer etwas Neues auf dem Bildschirm, selten, das, was wir wollen …
Liebe Grüße,
Mia
Vielen Dank für deinen Zuspruch liebe Mia! 🙂 Es freut mich, dass Natasha dein Interessse geweckt hat. Ich staune ja, wie du deinen Roland-Roman zusätzlich zur MA stemmst – bestimmt ist auch der Sog des Unerwarteten eine Zutat. Es stimmt, kein Schreibprojekt ist wie das andere, man selbst fühlt sich anders, die Figuren verwandeln sich anders, als man dachte. Der Rat von Julia Cameron ist gut. Ich denke auch es bringt nichts, wenn ich mich an Ideen klammere, die jetzt nicht mehr funktionieren oder an ein Leichtigkeitsgefühl, das sich einfach nicht einstellen will. Ich wünsche dir jedenfalls gute Entwicklung deiner Figur, heiße Schreibnächte mit heißem Kaffee. 😉 Bin gespannt, bald mehr aus deiner Romanwelt zu lesen.
Liebe Ulrike
Schön, wieder Natasha zu begegnen, die sich gut schlägt!
Doorknob Moment, was gelernt! (Darauf werde ich künftig achten.)
Herzlich, Urs
Das freut mich, vielen Dank lieber Urs! 🙂
Hi Ulrike, zunächst meine Eindrücke zu deinem Format des Schreibmarathons: Das ist wirklich eine sportliche (Kreativitäts)Leistung, Hut ab!!! Sicherlich ist der Druck durch das tägliche Pensum einerseits stressig, andererseits treibt es dich auch an, diszipliniert zu sein und mehr am Tag zu schaffen, als du es normalerweise tun würdest.
Deine Techniken zum Selbstaustricksen finde ich sehr erfinderisch und offenbar auch wirksam. Du schreibst ja schon humorvoll darüber, vielleicht hilft es, das Ganze noch mehr als humorvolle Selbststudie zu sehen. Außerdem ist es auch eine Art Selbstexperiment über Schreibblockaden bzw. Durchhänger, wodurch du wertvolle Erfahrungen für deine Tätigkeit als Schreibcoach sammeln kannst.
Ich finde den Überhang von Telling statt Showing nicht so schlimm (im Zweifelsfall kannst du einige Szenen in der Überarbeitungsphase aufpolieren): Gib dich doch ganz dem ausschweifenden Charakterisieren deiner Figuren und Fabulieren hin! Ich lese gerne so was. Spiel doch ruhig damit, einen Kitschroman zu schreiben und lockere deine Qualitätsansprüche.
Ich kann auch gut verstehen, dass sich das Feeling vom letztjährigen Novel writing month (vor allem die Leichtigkeit) im zweiten Durchlauf nicht wiederholen lässt. Diesmal ist es halt was anderes.
Zum Inhaltlichen: Dein Handlungskonzept und Figuren finde ich sehr spannend, ich bekomme sofort Lust, diesen Roman in aller Länge zu lesen! Schön, dass dich das real life Vorstellungsgespräch zu einer tollen Szene inspiriert hat, das wirkt dann auch sehr authentisch.
Also: rock on!
Deine Leserin Dorit
Vielen Dank liebe Dorit! 🙂 Das ist ein sehr befreiender Ansatz, dass ich mir erlaube, im (Liebes-) Kitsch zu schwelgen. Es stimmt, dass ich oft zu streng mit mir bin. Es gibt ja noch die Überarbeitungsphase(n), wo ich Längen und zu viel „telling“ abschleifen kann. Es freut und motiviert mich total, dass du meine begeisterte und treue Leserin bist! 🙂
Ich habe eine Idee, wie du vielleicht deine kleinen (zehnminütigen) Arbeitseinheiten in die Romanstruktur einbringen kannst: Du hast ja bereits Perspektivwechsel drinnen. Vielleicht kannst du (wie in der Collage-Technik von modernistischer Literatur um 1920) auch ein paar kleine „Zwischenspiele“ einstreuen, z. B. einen kurzen Dialog zwischen den Polizisten oder was aus dem Newsticker.
Denkbar ist auch das Format der Vignette:
„In der Literatur wird ein kurzer (impressionistischer) Text, der sich auf einen Moment, eine Person, einen Ort, ein Objekt oder eine Idee bezieht, als Vignette bezeichnet. Die Analogie zur Malerei besteht darin, dass die Vignette durch die visuelle Beschreibung – und nicht etwa durch eine Handlung – wirkt.“
Wie findest du das?
Das ist eine super Idee!! Das probiere ich sofort mal aus. 🙂
Die Szene über das Bewerbungsgespräch finde ich ausgesprochen gelungen! Sie ist sehr spannend zu lesen und die Figuren kommen schillernd rüber, ich kann mir alles bildlich vorstellen. Die Szene ist aus dem Leben gegriffen und wirkt sehr authentisch. Ich mag auch den dezenten Humor, besonders im Portrait des Personalers, der sich durch Showing (nicht Telling) als Unsympath entlarvt.
Vor allem identifiziere ich mich mit Natasha, die Progatonistin deines Romans ist sehr liebenswert. Ich möchte gerne mehr über sie lesen.
Natasha: „Wollen wir mal einen Kakao zusammen trinken gehen, liebe Dorit?“
Marcus Waidemann: „Vielen Dank für Ihre Bewerbung auf die Stelle der Chef-Kommentatorin für den Blog unseres Unternehmens. Nach gründlichen Überlegungen haben wir unsere Wahl getroffen und uns letztlich zugunsten eines Mitbewerbers entschieden, dessen Qualifikations- und Erfahrungsprofil unseren Vorstellungen in ganz besonderem Maße entspricht. Wir bedauern, Ihnen keinen günstigeren Bescheid geben zu können und wünschen Ihnen für Ihre weiteren Bewerbungen viel Erfolg und für die Zukunft alles Gute.“
(intern) „Hallo Kollegen, Raucherpause in 10 Minuten. PÜNKTLICH!“
🙂 🙂 🙂 Puh, zum Glück muss ich nicht für den Waidemann arbeiten.
Liebe Ulrike,
die Bewerbungsszene, die Du da geschrieben hast, funktioniert sehr gut. Je weiter ich las, desto mehr stieg ein Gefühl von Unwohlsein in mir hoch. Ich vermeinte Nataschas Gäsnehaut zu spüren und auch ihren Impuls, diesem eitlen Fatzke mal richtig die Meinung zu sagen. Ich war sofort bei Deinen Figuren und wünsche mir nun für Natascha den Moment, an dem sie Herrn Waidmann entweder mal richtig einen einschenken kann, oder aber – vielleicht sogar noch besser – ihn aus einer für ihn unangenehmen Situation befreien kann. Mir geht grad so durch den Kopf, ob die zwei nicht mal in einem steckenbleibenden Fahrstuhl hängen und Herr Waidmann eine nette kleine Panikattacke schiebt. Natascha gelingt es, ihn durch gutes Zureden zu beruhigen – aber ist wahrscheinlich eine abgegriffene Kitschromanidee.
Ich finde es bewundernswert, dass Du Dich wieder dem Schreibmarathon stellst. Dass es da nicht immer so fließt, kann ich mir gut vorstellen und gerade beim zweiten Mal dürfte der Druck noch größer sein. Der Reiz des Neuen und Ungewohnten ist verloren, vielleicht auch die Unbekümmertheit des ersten Herangehens. Ich drück die Daumen, dass Du bis zum Ende durchhälst – wovon ich überzeugt bin. Ich bin gespannt auf den Blackout-Roman, der ja nun hier bei mir in Sichtweite spielt. Viel Glück und liebe Grüße
Anne
Vielen Dank liebe Anne! 🙂 Gerade heute möche ich eine Szene schreiben, in der Waidemann seinen zweiten großen Auftritt hat (als bad guy natürlich). Gestern habe ich geschrieben, wie Natasha und Robert (ihr „love interest“) sich aus dem steckengebliebenen Fahrstuhl befreit haben (ohne Panikattacke, dafür aber mit kleinem verbalen Schlagabtausch- die Liebesvögelchen dürfen sich erst am Scchluss „kriegen“), da steht im Flur plötzlich der Personaler Waidemann vor ihnen – der sich für die Evakuierung des Gebäudes zuständig fühlt. Ich bin mir noch nicht sicher, in welche Richtung die Szene gehen soll. Du hast Recht, dass auch ein böser Charakter vielschichtiger wird, wenn er Schwächen hat, mit denen man Mitgefühl hat. Ich könnte ihn ambivalent zeichnen, aber irgendwie juckt es mir in den Fingern, ihn durch und durch unsympathisch zu lassen. Meine Helden brauchen starke Gegenspieler – bisher fehlen mir die echten Bösewichter. Mal sehen. Deine Idee einer versöhnlichen Annäherung ist jedenfalls sehr anregend für mich! 🙂
Übrigens macht es mir viel Spaß, zu Frankfurt als Schauplatz im Internet Bilder und Straßenkarten anzusehen und meine Erinnerungen anzuzapfen. Kennst du eigentlich den Rothschildpark? Dieser Ring von Statuen, die im Kreis stehen (laut Wiki von Georg Kolbe), finde ich irgendwie unheimlich. Da werde ich eine Messerstecherei spielen lassen.
.. nee, kenn ich nicht. Muss ich mir die Tage mal anschauen…
Ein enorm genauer und in der Abfolge zwingender Text. Der Perspektive der Natasha kann man sich nicht entziehen. Man würde ihr wünschen, dass sie die Stelle bekommt. Sie ist multilinear genug, so dass sie in ein Setting verschiedener Milieus und Personen passt.
Ein interessantes, viel versprechendes Beginnen. Zu bewundern ist das Schreiben in so kurzer Zeit mit soviel Willenskraft.
Ganz lieben Dank! 🙂