Die Kenianerin Kate Ouma erzählt von ihrem Heimatland
Zusammenfassung zweier Interviews, die Dorit Havel mit Kate Ouma im November 2018 und im Dezember 2019 geführt hat.
Kate Ouma wurde 1982 in Nakuru (Kenia) geboren. Sie gehört zum Stamm der Luo. Sie ging in Nakuru zur Schule und studierte von 2002 bis 2006 an der Universität Nairobi (Bachelor) und von 2009 bis 2010 an der Queen Mary University of London (Masters). Seit 2014 lebt sie in Deutschland (Ludwigsburg) und ist als Projektmanagement-Assistentin tätig. Kate betreibt den Food Blog www.paleolowcarbkate.com.
Lebensverhältnisse in Kenia zur aktuellen Zeit (2010er Jahre)
In der Kurzgeschichte „Lernwelten 2030“ – im Jahr 2020 verfasst von Dorit Havel und Ulrike Arabella Meran – wird der Protagonist Kibe im Murang’a County (District in Central Kenya) verortet und gehört der ethnischen Gruppe „Kikuyu“ an. Er wohnt in einem Dorf, seine Familie betreibt einen Bauernhof.
Dorit: Was ist das Besondere am Leben der Kikuyu in Central Kenya?
Kate Ouma: Die Angehörigen des Kikuyu Stamms sind bekannt als gute Geschäftsleute (zu ihren wirtschaftlichen Aktivitäten gehören z.B. Investitionen in der Verkehrsbranche, Handel mit Aktien und Fonds) und als Landwirte. Die Bäuerinnen und Bauern verkaufen ihre Waren in den nahegelegenen Städten. Mais und Grünkohl sind die Hauptnahrungsmittel. Ein häufiges Gericht bei den Kikuyu ist Gītheri (eine Mischung aus Mais, Bohnen, Kartoffeln und eventuell auch mit Grünkohl, Weißkohl und Karotten). Diese Gemüsesorten werden von fast jeder Familie angebaut, teils für den Eigenbedarf, teils zum Verkauf.
Jedes Dorf im Murang’a County ist heute an eine Busstrecke angebunden. Die Haltestelle liegt entweder im Dorfzentrum oder etwas außerhalb. Der dritte Staatspräsident Kenias, Mwai Kibaki, entstammt der Ethnie der Kikuyu und hat während seiner Amtszeit 2002 bis 2013 viele Straßenbauprojekte ermöglicht, einige davon im Murang’a County.
Wie sieht die Verkehrsinfrastruktur in Kenia insgesamt aus?
Kate Ouma: Im ländlichen Raum ist es in vielen Gebieten so, dass die Straßen zwischen den Dörfern und den nächstgelegenen Städten in der Regel nicht asphaltiert sind. Das sind Schotterpisten, also von den Autos „platt gemachte“ Wege. In einem Dorf verkehren in der Regel Busse und „Matatus“ von der Vereinigung SACCOs (Minivan bzw. kleiner Bus mit Platz für offiziell 14 Personen), jedoch fahren diese nicht regelmäßig, teilweise nur an bestimmten Tagen in der Woche. Im Dorf legen die Menschen viele Strecken zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurück. In der Stadt und mittlerweile auch in den Dörfern gibt es zudem „Boda bodas“ (Mofas). In der Stadt verkehren vorwiegend große Busse und Matatus.
Wie sind die Wohnverhältnisse in den ländlichen Gegenden Kenias?
Kate Ouma: In einem Dorf sind die „besseren“ Häuser – aktuell und voraussichtlich auch im Jahr 2030 – meistens aus Stein gebaut und haben ein Dach aus Metall oder Stroh. Der Fußboden ist aus Stein, manchmal auch aus Fliesen. Holz- oder Laminatboden kommt sehr selten vor. Häuser von Familien ohne Geld sind oft instabil aus Steinen, Lehm, Holz und Blech zusammengesetzt.
Die Häuser der wohlhabenderen Leute haben Strom- und Wasseranschluss. Der Wasserhahn befindet sich meistens draußen vor dem Haus (der Vorplatz wird „compound“ genannt) und die Bewohner*innen tragen das Wasser mit Eimern ins Haus. Das Wasser wird in einem Kessel überm Feuer erwärmt oder bei Häusern der Mittelklasse („middle upper class“) in einem elektrischen Kessel. Im Jahr 2030 kann es sein, dass einige Wohlhabende im Haus selbst einen Wasserhahn und Durchlauferhitzer haben.
Manche Haushalte sind heute (2010er Jahre) immer noch nicht an Wasserleitungen angeschlossen und man muss zum Wasserholen zum Brunnen gehen. Bei manchen Dörfern muss man zum nächsten Brunnen oder einer Quelle 15 Minuten zu Fuß gehen. Die mit Wasser befüllten Eimer werden entweder auf dem Kopf getragen oder in einer Schubkarre oder auf dem Rücken eines Esels transportiert.
Bei den Sanitäranlagen gibt es große Unterschiede. Bei einfachen Behausungen wird ein Erdloch im Außenbereich als Toilette genutzt. Bei einem Haus der Mittelklasse befindet sich die Toilette in einem gemauerten Häuschen – meistens mit Metalldach – im Außenbereich, darin ist ein Plumpsklo über einer Grube. Manche Häuser haben ein separates Badezimmer im Außenbereich. Wer fließendes Wasser im Bad hat, kann dieses mit einem elektronischen Durchlauferhitzer erwärmen, was als „Instant Shower“ bezeichnet wird und in den Städten gängig ist, aber aktuell für Dorfbewohner ein Luxus ist. Die Wohlhabenderen haben Badezimmer und Toiletten im Haus so wie in Europa.
Solarenergie ist sehr wichtig. Es gibt häufig Stromausfälle, deshalb haben immer mehr Leute tragbare Solarlampen. In den Dörfern wird mittlerweile M-KOPA-Solar immer beliebter. Dabei bekommen die Leute kleine Solaranlagen mit einem solarfähigen Fernseher, für die sie jeden Monat Raten zahlen. Die kleinen Solarpanelen auf dem Dach und die Fernseher werden dabei von der Firma installiert. Der Solarstrom reicht nur für den Fernseher sowie für Licht in der Küche und im Wohnzimmer. Im Dorf gibt es außerdem Tataps (Solar Kioske), bei denen man z.B. sein Mobiltelefon aufladen kann.
Was ist typisch für die Landwirtschaft in Kenia?
Kate Ouma: Das ist unterschiedlich. Bei einem kleinen Bauerhof, also einem Familienbetrieb, werden zum Bewirtschaften der Felder meistens Kühe vor einen Pflug gespannt. Etwa fünf Leute arbeiten gemeinsam ab 5 Uhr morgens auf dem Bauernhof. Um 6 Uhr wird dann gefrühstückt, typisch ist schwarzer Tee mit gekochtem Mais und Bohnen. Danach wird weitergearbeitet und die Frauen bereiten das Mittagessen zu. Meistens arbeiten Vater und Mutter beide auf dem Feld. Einige Kinder helfen etwa ab dem 6. Lebensjahr mit, zum Beispiel kümmern sie sich nach der Schule um die Tiere (melken, füttern). Bei ärmeren Familien mit wenigen Helfern müssen die Kinder während der Erntezeit mitarbeiten, wodurch sie ihren Schulunterricht verpassen.
Die größeren Landwirtschaftsbetriebe gehören zu „Farmers Co-Operatives“, wo sie Traktoren mieten können. Es werden auch Maschinen für den Anbau von Tee, Kaffee und Blumen eingesetzt. Mehr als 60 Prozent der Exportgüter Kenias stammen aus der Landwirtschaft.
Was ist typisch für die Kommunikation und den Zahlungsverkehr in Kenia?
Kate Ouma: In ländlichen Gebieten gibt es kein Telefonfestnetz, es werden Mobiltelefone benutzt. Im Alltag ist es zunehmend wichtig und praktisch, ein Smartphone zu besitzen, da man seit 2007 über eine App mit M-Pesa bezahlen kann: Das ist ein bargeldloser Zahlungsverkehr. Es ermöglicht den Nutzer*innen über Händler (M-Pesa-Agents) die Ein- und Auszahlung von Bargeld auf ein elektronisch geführtes Guthaben – auch ohne ein reguläres Bankkonto. Wer ein Bankkonto hat, kann mit M-Pesa für Überweisungen sowie Ein- und Auszahlungen darauf zugreifen. Die meisten Kenianer aus der Mittelklasse („middle upper class“) besitzen ein Smartphone (preiswert aus China). Unter den weniger Wohlhabenden besitzen viele ein älteres Handy.
Wo kauft man ein?
Kate Ouma: In Kenia kaufen die meisten Leute ihre Lebensmittel im Supermarkt ein. Die Städte haben große Einkaufszentren. Gemüse und Obst kauft man oft frisch auf dem Markt. Außerdem gibt es in den Städten „Hawkers“, das sind Straßenhändler, bei denen man eher „spontan“ einkauft … zum Beispiel, was man gerade unterwegs etwas braucht. Die Hawkers kaufen ihre Waren zum Beispiel den Bauern ab und verkaufen sie dann auf einem fahrbaren Kiosk weiter. Diese Verkäufer haben keine festen Preise, der Preis wird verhandelt. Bezahlt wird bar (kenianische Schilling) oder mit M-Pesa (bargeldloses Zahlungssystem per Mobiltelefon).
Was ist typisch für das Bildungssystem in Kenia?
Kate Ouma: Es gibt zwar eine Schulpflicht, deren Einhaltung aber nicht überprüft wird. Deshalb gehen viele Kinder aus finanziell schwächeren Familien nur unregelmäßig zur Schule, weil sie bei der Arbeit (Ernte, Verkauf von Waren) mithelfen müssen. Die öffentlichen Grundschulen (Primary Schools) und weiterführenden Schulen (Secondary Schools) sind kostenfrei. Die privaten Schulen sind kostenpflichtig und haben ein höheres Bildungsniveau.
Bis Dezember 2018 war das Schulsystem 8-4-4, das bedeutet: 8 Jahre Primary School, 4 Jahre Secondary School / High School, 4 Jahre College (Universität oder technische Hochschule). Seit Januar 2019 wurde das Schulsystem auf 2-6-3-3-3 umgestellt.
Die Übergänge waren bislang so organisiert: Am Ende der Primary School gibt es eine landesweite Abschlussprüfung (Kenya Certificate of Primary Education, KCPE). Diese wird mit einer Note und Punkten bewertet. Je besser die High School ist, an die ein Kind gehen möchte, desto mehr Punkte werden benötigt. Am Ende der High School gibt es erneut eine Prüfung (KCSE Kenia Certificate of Secondary Education).
Die öffentlichen Hochschulen sind kostenpflichtig und man braucht gute Noten im KCSE für die Zulassung. Es gibt auch zunehmend private Hochschulen mit hohen Studiengebühren. Die Studierenden leben größtenteils in Wohnheimen auf dem Campus. Manche Anwohner vermieten Zimmern neben dem Campus, die Hostels heißen.
Wie ist ein typischer Klassenraum ausgestattet und wie wird unterrichtet?
Kate Ouma: In einer Klasse einer öffentlichen Grundschule (Primary School) werden in der Regel etwa 40 Schülerinnen und Schüler von einer Lehrkraft unterrichtet. In den ersten drei Jahren der Primary School gibt es Gruppentische mit 6-7 Schülern. Wichtige Schulfächer sind in diesen ersten Jahren Mathematik, Swahili und Englisch, später kommen weitere Fächer dazu.
Im Klassenzimmer hat jedes Kind seinen eigenen Tisch mit Stuhl. Die Schulbücher können im Tisch verstaut werden, man kann ihn auf- und zuklappen und abschließen. Die Lehrkräfte schreiben an eine große Kreidetafel. Die Schüler schreiben in ihre Hefte, in den ersten drei Jahren mit Bleistift, ab der Secondary School mit Füller oder Kugelschreiber.
Die Regierung bietet seit einigen Jahren (um 2013) ein Free-Laptop-Programm an, bei dem jedem Schulkind ein eigener Laptop zum Lernen zur Verfügung gestellt wird. In einigen Schulen wird dieses Programm bereits umgesetzt, aber die flächendeckende Umsetzung funktioniert bislang nicht. Zum Beispiel fehlt vielen Lehrpersonen eine pädagogische und technische Weiterbildung zum Einsetzen der Laptops im Unterricht. In manchen Schulen fehlen auch zuverlässige Stromversorgung und Internetzugang.
Wie gestaltet sich die Lehre an Hochschulen in Kenia?
Kate Ouma: Aus meiner Studienzeit von 2002 bis 2006 an der Universität Nairobi kenne ich es so, dass etwa 70% der Hochschullehre aus Frontalunterricht besteht. Im Anschluss an eine Vorlesung gibt es Hausaufgaben und gelegentlich Gruppenarbeiten. Insgesamt ist der Stoff eher theorielastig und nur teilweise praxisorientiert. Es gibt kleinere Prüfungen während des Semesters (Continuous Assessment Tests) und eine große Prüfung am Semesterende.
Welche Religionen und Traditionen gibt es in Kenia?
Nach der Volkszählung von 2009 sind rund 83 Prozent der Gesamtbevölkerung Kenias Christen. Muslime der sunnitischen Richtung machen rund 11 Prozent aus, daneben sind 0,1 Prozent der Bevölkerung Hindus und 2,4 Prozent sind konfessionslos. Nur knapp 1,6 Prozent der Kenianer werden den traditionellen afrikanischen Religionen zugerechnet. [Quelle: Wikipedia Eintrag zu Kenia.]
Kate Ouma: Die Kikuyu glauben an den Gott des Christentums, den sie „Ngai“, nennen. Bei den Luos heißt er „Nyasaye“, bei den Kalenjins „Asiis“. Parallel zur offiziellen Religionszugehörigkeit ist ein tradierter Aberglaube weit verbreitet. Das hängt aber auch von dem Ort (mehr Aberglaube in den Dörfern als in den Städten), dem Bildungsniveau und dem Stamm ab. Zum Beispiel sind die Luos, Kisii und Luhya abergläubischer als zum Beispiel die Kikuyus. Ein Beispiel ist: Wenn man von einer schwarzen Katze, einer Schlange oder einer Eule träumt, gilt das als ein „schlimmer Geist“, der einem Pech bringt. Das kann auch bedeuten, dass eine andere Person versucht, Voodoo an einem selbst auszuführen – zum Beispiel aus Neid. Um sich dagegen zu schützen, gibt es bestimmte Gebete. Manche Leute suchen außerdem einen „witch doctor“ auf. Dieser trägt einem dann beispielsweise auf, einen weißen und einen schwarzen Vogel zu kaufen und sie dann zu schlachten. Es gibt keine als heilig erachteten Tiere.
Welchen Arten von Kleidung tragen Kenianer?
Kate Ouma: In manchen Volksstämmen wird noch traditionelle Kleidung getragen, meistens jedoch Kleidung wie in Deutschland. Die meiste Kleidung kommt Second Hand aus Europa und wird „Mitumba“ genannt. Etwa 95 Prozent der Kenianer kaufen ihre Kleidung Second Hand, da sie preiswert ist und den Leuten gefällt. Neue Kleidung ist qualitativ oft weniger hochwertig – zum Beispiel erwerben Geschäftsleute solche meistens in der Türkei.
Ein traditionelles Kleidungsstück in Kenia ist zum Beispiel eine Kanga. Kangas sind farbige Stoffe, die oft mit einem afrikanischen Spruch (der deutschen Sprichwörtern ähnelt) bedruckt sind. Die Stoffe werden in Kenia als Kleidungsstück um die Hüften oder den Oberkörper gewickelt getragen, als Decke oder Tragetuch für die Kinder verwendet. Viele Kenianer besitzen zwar eine Kanga, tragen sie aber selten im Alltag, sondern nur zu Feierlichkeiten wie einer Hochzeit.
Dorit: Vielen Dank für das Interview!
Das Foto wurde von der Abgebildeten, Kate Ouma, für die Verwendung in diesem Blog zur Verfügung gestellt (fotografiert in einem Fotostudio).