Berlin: Am Campus der Ada Lovelace Universität – 22. Februar 2030, 14 Uhr – Fiona in der Studienberatung bei Birgit Lindenbaum, Professorin für Pädagogik
„Fail, ich komme zu spät“, dachte Fiona als sie zum Büro von Professorin Lindenbaum hetzte. Auf ihrem Smartphone blinkte auf, dass ihr Termin zur Studienberatung vor zwei Minuten angefangen hatte. Auch die Lichtanzeige an Lindenbaums Tür leuchtete grün. Aber die Tür war noch geschlossen. „Glück gehabt!“ Fiona wusste, dass die Professorin die Wartenden immer selbst hereinbat, man musste warten, bis sie die schwere Holztür öffnete. Ihr Büro befand sich im ältesten Universitätsgebäude, das kürzlich modernisiert wurde. Fiona hatte gehört, dass Professorin Lindenbaum ihr bewährtes Refugium gegen jegliche Eingriffe verteidigt hatte. Die meisten der anderen Büros wurden gerade in Co-Working-Spaces und Multifunktionsräume umgebaut.
Fiona ließ sich in den Sitzsack fallen und ihr Blick fiel auf die Decke über ihr. Dort schwebte dank einer Animation ein blauer Himmel mit Schäfchenwolken, der gar nicht zum grauen Winterhimmel draußen passte. „Wie der Himmel wohl gerade in Afrika aussieht?“, fragte sich Fiona. Hoffentlich würde die Professorin sie dabei unterstützen, dass ihr Traum von Kenia Wirklichkeit werden würde. Sie wollte die Schulen dort mit eigenen Augen sehen, in die Gesichter der Menschen blicken, den Geruch der Luft, der Erde und des Essens in sich aufnehmen.
Jetzt vibrierte KIM und zeigte an, dass es schon zehn Minuten nach Terminbeginn waren. Fiona wippte ungeduldig mit dem Fuß und das Granulat im Sitzsack knirschte unter ihrer Bewegung. Um 14:12 Uhr öffnete sich die Tür und die Professorin erschien im Türrahmen. Mit ihrer schmalen hohen Gestalt und den langen, weiß schimmernden Haaren, die offen über die Schultern hinabfielen, erinnerte die Professorin sie an eine Elbenkönigin aus den Fantasyromanen, die Fiona so liebte.
„Kommen Sie bitte herein, Fiona“, sagte Birgit Lindenbaum mit ihrer warmen Stimme und lächelte mit kirschrot geschminkten Lippen. Fiona folgte der Professorin in deren Büro. Sofort wurde sie umfangen von diesem Zauber aus Ruhe und Bodenständigkeit. Der Duft von würzigem Tee und das Plätschern eines kleinen Salzsteinbrunnens auf der Fensterbank neben den rankenden Zimmerpflanzen, deren Namen Fiona nicht kannte, ließen ein wohliges Gefühl in ihr aufkommen. Fiona nahm an dem altehrwürdigen Holztisch Platz.
„Darf ich Ihnen einen Tee anbieten?“, fragte die Gastgeberin und Fiona nickte.
„Es ist ein Matcha Tee aus Japan, ich habe ihn zwölf Minuten ziehen lassen“, sagte die Professorin und deutet auf eine kleine Sanduhr, „und dabei meine Teemeditation gemacht.“
„Eine Teemeditation?“, fragte Fiona erstaunt.
„Während der Tee zieht, schaue ich ihm dabei zu – und keine Terminbimmelei kann mich davon abhalten. Nur wer gute Pausen macht, kann danach produktiv arbeiten. Keine Sorge, ich habe eine ganze Stunde für Sie reserviert, damit wir uns in Ruhe unterhalten können.“ Die Professorin lächelte sanft und nippte an ihrem Tee. Fiona pustete in die grüne Flüssigkeit, deren Dampf sich warm auf ihre Wangen legte. Ihre Augen wanderten durch das Büro, das mit exotischen Dingen ausgestattet war. Am Boden lagen Wollteppiche mit geheimnisvollen Zeichen, vielleicht Kalligraphie? An den Wänden hingen bemalte Masken. Woher sie wohl stammten? Fionas Blick blieb an einem wunderschönen Foto von einem Baum mit rosafarbenen Blüten hängen.
„Haben Sie das selbst fotografiert?“, wollte sie wissen.
„Ja“, sagte die Professorin. „Ich war zum O-Hanami – dem Kirschblütenfest – in Japan. Mit einem Foto kann man die ganze Schönheit und den Duft leider nicht einfangen.“
Fiona hätte die Professorin gerne zu jedem dieser Einrichtungsstücke gefragt, wo es herkam und was es bedeutet. Fiona wurde klar, wie wenig sie von der Welt wusste. Ja, sie konnte sich Millionen von Kunstschätzen und Landschaften virtuell anschauen, aber das waren doch nur leblose Nullen und Einsen.
„Waren Sie schon mal in Afrika?“, platzte es aus Fiona heraus. Die Professorin schaute sie aufmerksam aus ihren graublauen Augen an.
„Nein, in Afrika nicht. Aber ich habe einige Jahre in Japan gelebt. Dort habe ich Bildungskonzepte entwickelt, die sich auf individuelle Lernwege zuschneiden lassen“, sagte Birgit Lindenbaum. „Interessieren Sie sich für Afrika?“
„Ja, sehr, aber ich war noch nie dort. Meine Cousine Lena ist gerade als Lehrerin in Kenia. Sie hat mir erzählt, dass man vieles erst richtig versteht, wenn man dort ist. Zum Beispiel hat ein deutscher Sponsor für diese Grundschule iPads und XR-Brillen liefern lassen, aber einige Schulkinder haben noch nicht mal richtige Brillen fürs tägliche Leben! Außerdem können sich die wenigen Lehrerinnen gar nicht um alle Kinder kümmern“, sprudelte Fiona hervor.
„Es fehlen auch gute Unterrichtsmaterialien“, fuhr sie fort. „Und der Stoff ist wirklich nur Basiswissen, damit können die jungen Leute im internationalen Wettbewerb nicht mithalten. Und wer kein Geld für ein gute, private High School hat, kann es nur mit besonderem Talent und Ehrgeiz auf eine Uni schaffen. Aber Kenia hat viele Seiten. Mein Lernpartner aus Kenia hat mir von seinem Studium an der Murang’a University erzählt. Ich war erstaunt, wie modern sie dort ausgestattet sind. Aber für sein Stipendium hier in Deutschland war viel Eigeninitiative nötig“, erzählte Fiona.
„Ja, das gilt für alle jungen Menschen, egal, wo auf der Welt. In der heutigen Zeit müssen Sie fachlich fit sein, aber auch Ihre Bildungsbiografie aktiv selbst gestalten“, sagte Birgit Lindenbaum.
„Ehrlich gesagt fällt mir das mit der Selbststeuerung manchmal schwer. Ich hätte gerne mehr Input von meinen Dozenten. Ich habe das Gefühl, ich gehe gerade in die falsche Richtung…“, gab Fiona zaghaft zu.
Birgit Lindenbaum schwieg. Sie schrieb mit ihrem Füller etwas auf ein dickes Stück Papier und reichte es Fiona.
„‚Wanderer, es gibt keinen Weg, der Weg entsteht im Gehen.‘ Von Antonio Machado, Gedicht XXIX im Zyklus Kastilianische Landschaften, 1912“, las sie.
Muss ich das kennen? Fiona kramte in ihrem Gedächtnis. Jetzt bloß nichts Falsches sagen.
„Äh … schönes Briefpapier“, sagte Fiona.
„Das ist von Hand geschöpftes Papier aus Japan“, sagte Lindenbaum lächelnd. Dann reichte sie Fiona aus dem Regal ein Buch, das sehr alt aussah, mit einem Einband aus Leder.
„Das hier ist die Übersetzung der „Campos de Castilla“ Gedichte vom Spanischen ins Deutsche von Fritz Vogelsang. Ich habe ein Faible für Lyrik mit etwas Kitsch“, lächelte Lindenbaum. „Sie können ja mal hineinschauen. Wenn Ihnen die Gedichte gefallen, können Sie das Buch behalten … bis es eine neue Leserin findet. Auch Bücher wollen wandern.“
Fiona nahm das wundersame Buch. Beide schwiegen, der Zimmerbrunnen plätscherte.
„Es gehört zum Leben, nicht alle Antworten zu kennen“, sagte Birgit Lindenbaum. „Oft lohnt es sich, einen erfahrenen Menschen zu fragen. Was genau ist heute Ihr Anliegen, Fiona?“
„Also es geht um die Entscheidung, welche Seminare ich im kommenden Semester belegen soll“, sagte Fiona. Die Professorin rief auf ihrem Notebook das Studierendenprofil von Fiona auf, dort hatte Fiona aus ihrem My-Path-Portfolio ihre bisherigen Studienleistungen und Kompetenzprofile freigeschaltet.
„Wie Sie sehen, habe ich in den letzten drei Semestern Module zu Lernpsychologie und Economy & Strategy im Projektmanagement belegt und auch Kompetenzen für K.I. Education Systems erworben“, erklärte Fiona.
„Warum denken Sie denn, dass dieser Weg Sie in die falsche Richtung führt, Fiona?“
„Ich möchte etwas mit Bildungsentwicklung in Kenia machen. Und mir wird immer klarer, dass es für gute Bildungskonzepte Planerinnen braucht, die Knowhow in Lerntechnologien haben, sich aber auch mit Pädagogik und Projektmanagement auskennen. Aber wenn ich mir die aktuellen Stellenausschreibungen anschaue, finde ich dieses Profil nicht wieder. Vielleicht stelle ich mir auch etwas Unrealistisches vor?“, sagte Fiona.
„Das haben Sie gut erkannt. Die Berufsfelder und Technologien entwickeln sich rasant weiter. Sie müssen sich so qualifizieren, dass Sie gut gerüstet sind für die neuen Berufsprofile, die sich heute abzeichnen. Aus meiner Erfahrung mit Bildungsprojekten kann ich Ihnen sagen, dass Sie als medienpädagogische Bildungsmanagerin auf dem zukünftigen Arbeitsmarkt gefragt sein werden“, sagte Lindenbaum.
„Ja? Giga!“ rief Fiona erleichtert. „Und in einem bin ich mir seit meinem Praktikum an einer Berliner Grundschule sicher: Mir liegt das Arbeiten mit Kindern. Ich denke, dass ich eine gute Lehrerin werden kann. Dafür fehlen mir aber bisher die pädagogischen Qualifikationen.“
„Dann sind Sie bei mir doppelt an der richtigen Adresse“, sagte Birgit Lindenbaum, die nicht nur Studienberaterin, sondern auch Pädagogikprofessorin war. „Gibt es denn im Sommersemester ein pädagogisches Modul, das Sie gerne belegen würden?“
„Ja, Ihr Kurs zur pädagogischen Anleitung von Peergroup-Learning interessiert mich sehr. Ich habe dazu Ihre Podcasts angehört.“
„Da Sie das Einführungsmodul verpasst haben, kann ich Ihnen einen Quereinstieg mit einer Aufnahmeprüfung anbieten. Dafür schalten Sie mir bis zum 15. März eine Portfolio-Präsentation frei. Darin stellen Sie mir Ihre bisherigen Projekte innerhalb und außerhalb der Universität vor. Als Motivationsschreiben hätte ich gerne, dass Sie Ihren Traumberuf beschreiben und welche Kompetenzen Sie dafür weiterentwickeln möchten.“
„Ja, das mache ich gerne, vielen Dank!“, strahlte Fiona.
Professorin Lindenbaum nickte und tippte das Besprochene mit flinken Fingern in ihr Notebook ein.
Als Fiona die Studienberatung leichten Schrittes verließ, sah sie ihren zukünftigen Weg in schillernden Farben vor sich liegen.
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Begriffserläuterungen: Digitales und Kenia
Bezugspunkte: Fachliteratur und Populärkultur
Die Autorinnen stellen sich vor
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