Woche 8: Die märchenhafte Grimm-Bibliothek – Von Kobolden und Yoga-Kühen

Warum hier:

Bücher, Bücher, Bücher – was könnte inspirierender sein? Ich mache mich auf eine Entdeckungsreise in das Grimm-Zentrum, die Bibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin. Schon oft bin ich an dem prägnanten Gebäude mit der S-Bahn vorbei gefahren, jetzt wird es Zeit, das Innere kennenzulernen.

Schon die Namensgeber führen mich in meine Kindheit zurück – in die Welt der Märchen und zum Ursprung des Geschichtenerzählens.

Jacob und Wilhelm Grimm haben nicht nur das deutschsprachige Volksmärchen aus der mündlichen Überlieferung in eine schriftliche Form gebracht, sie waren auch die Mitbegründer der Linguistik und Philologie in Deutschland und habe u.a. das Deutsche Wörterbuch erstellt – eine einmalige Sammlung des Wortschatzes mit Nachweisen zur Wortherkunft und -bedeutung.

Zur Einstimmung:

Es war einmal eine Prinzessin namens Rotbäckchen. Sie war wunderschön, aber auch hochmütig und selbstsüchtig. Als bösen Kobolde die Erde zum Stillstand brachten und es sieben Jahre lang keinen Wechsel mehr von Tag und Nacht und von Jahreszeiten gab, waren Erde und Menschen in großer Not. Da zog die Prinzessin aus, um die Welt zu retten…

Der Ort:

Im hellen Foyer des Grimm-Zentrums wuseln wissensdurstige Menschen geschäftig umher. Ich folge dem Strom hinunter zu den Schließfächern. Dort bringe ich meine Sachen unter und muss über den Automaten mit bunter Füllung schmunzeln, der statt Kaugummi Ohrstöpsel ausspuckt.

Auf 7 Etagen reihen sich Bücherregale in striktem Muster im langen Rechteck des Gebäudes aneinander.

Ich gehe auf die Suche nach dem Grimmschen Wörterbuch (den Standort habe ich in der Suchmaschine ermittelt). Auf dem Weg in die 5. Etage verirre ich mich ein wenig. Im siloartigen Betontreppenhaus ohne Fenster und mit einer Wandinschrift („Lost“) kommt bei mir gleich ein bisschen „Hänsel und Gretel“-Stimmung auf.

Hinter der schweren Metalltür des 5. Stockwerks liegt aber kein Lebkuchenhaus, sondern die Germanistikabteilung. Auch hier suche ich meinen Weg durch einen Wald von Regalen mit Ziffern und langen Nummern.

Schließlich werde ich fündig: Das „Deutsche Wörterbuch“ der Brüder Grimm hat 31 Bände und nimmt mehr als 1 Regallänge ein. Ich nehme mir den Band A und Z vor und schaue mir einige Worte vom Anfang („Aas“ – hier begegnet mir bei den Literaturbeispielen wieder Mephisto) und einige vom Ende an („Zizibe“ – juchu, ich habe ein neues Wort gelernt).

Aber wo finde ich einen Grimmschen Märchenband? Ich versuche mein Glück in der 7. Etage in der „Kinderstube“ (der Bereich ist reserviert für Schwangere und Eltern mit Kind – im Moment ist hier niemand, also gehe ich hinein, obwohl ich diese Kriterien nicht erfülle).

Hier finde ich zuerst neben einem knallig orangen Bällebad nur zeitgenössische Kinderbücher, z.B. ein Buch „Bleib gesund mit den Yoga Kühen“.

Aber dann, in der hintersten Ecke, stoße ich auf 3 alte Bände aus dem Jahr 1953 mit brüchigen und vergilbten Seiten: „Die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm“. Ich schmökere in König Drosselbart und Frau Holle. Viele der Märchen kenne ich noch gar nicht, z.B. „Des Teufels rußiger Bruder“.

Nun ist der akademischen und nostalgischen Recherche Genüge getan und ich suche mir einen Platz zum Schreiben.

Das Herzstück der Bibliothek ist der lang gestreckte terrassenartige Arbeitssaal mit regelmäßiger Holztäfelungen und Fenstern. Hier sitzen unzählige Studierende vor ihren Notebooks und Büchern und lesen und schreiben – wie Arbeitsbienen in einen riesigen Bienenstock. Ich höre leises Rascheln und Tippen, manchmal prasselt ein Regenschauer auf das Glasdach, dann fallen wieder Sonnenstrahlen herein.

Hier sitze ich nun und lasse meine Gedanken in die Märchenwelt schweifen.

Was sind die wichtigsten Zutaten eines Märchens?

  • eine Hauptfigur, die eine charakterliche Reise macht – entweder ist sie schon „gut“ und wird in Versuchung geführt, oder sie hat noch schlechte Eigenschaften und muss zur Läuterung geführt werden
  • ein Gegenspieler (z.B. Stiefmutter), eine böse Kraft (z.B. Hexe), ein Fluch
  • Märchenzahlen wie 3, 7 und 12
  • Zauberkräfte, übernatürliche Ereignisse, Gegenstände mit magischen Eigenschaften
  • Menschen, die sich in Tiere verwandeln oder umgekehrt, sprechende Tiere
  • ein beschwerlicher Weg mit Prüfungen und Entbehrungen für die Hauptfigur
  • eine helfende Kraft (z.B. Königssohn küsst die Prinzessin wach) oder Besinnung auf die eigenen Tugenden
  • Belohnung für die Guten, Bestrafung für die Bösen, eine Moral der Geschichte
  • Märchen sind auch Spiegel der Gesellschaft und zeigen Missstände auf

Das gewisse Extra:

Schon auf meinem Hinweg fällt mir am Bahnsteig dieser Unhold auf – ich habe ihn mir gleich als Märchenbösewicht vorgemerkt.

Inspiriert von meinen Eindrücken aus der Grimm-Bibliothek und natürlich ihren Märchen habe ich aus den genannten Zutaten am Sonntag ein Märchen geschrieben.

Möchtet ihr wissen, wie es Prinzessin Rotbäckchen auf ihrer Reise ergeht?

Ich kann schon verraten, dass sie auf einen tanzenden Storch und eine Yoga-Kuh trifft und auch Aas, Bienen und Zizibe vorkommen. Auch hat sich heimlich eine Liebesgeschichte eingeschlichen, obwohl das gar nicht mein Plan war.

Ich hoffe, ihr findet Vergnügen an:

Prinzessin Rotbäckchen und der siebenjährige Tag

Meine Sterne-Wertung für den Schreibort:

Produktivität („wordcount“)

★★★★☆

Inspiration

★★★★★

Kindheit-trifft-Germanistik-Faktor

★★★★★

Woche 7: Tempelhofer Feld – Osterspaziergang mit Faust

Warum hier:

An diesem Ostersonntag zieht es mich aus meinem Studierzimmer ins Freie – obwohl sich Regen, Hagel und Sonnenschein minütlich abwechseln. Und wer wäre ein besserer Begleiter für meinen Osterspaziergang, als Faust? Und welcher Ort „vor dem Tor“ Berlins bietet ein freies Feld für naturverbundenes Spazieren: Das Tempelhofer Feld.

Zur Einstimmung:

Wer gerade bei „naturverbunden“ geschmunzelt hat, der lausche doch bitte in meinem Video auf das Vogelgezwitscher der Feldlerche (und ist hoffentlich schwindelfrei):

Der Ort:

Faust begrüßt mich, ich kann seine Worte über das Kirchengeläut kaum verstehen. Er hat die ganze Nacht in seinem Studierzimmer verbracht und steckt gerade ziemlich in der Krise.

Ich selbst war eben im Ostergottesdienst in der Evangelischen Kirche bei mir um die Ecke (zum ersten Mal) – dort habe ich in der Predigt von der Auferstehung Jesu gehört und wie wir Menschen auch aufstehen und den Stein von unserem eigenen Grab der Gewohnheiten rollen müssen und einen Weg zur Selbstbefreiung und zur Öffnung für neue Erfahrungen finden sollen – im Glauben.

Faust will davon nichts hören. Mit der Religion hat er es wohl nicht so – aber die Gretchenfrage überlasse ich lieber einer anderen. Trotzdem ist auch Faust auf der Suche nach Befreiung – Befreiung aus seiner eigenen Begrenztheit. Sein Leben lang strebt er schon nach höherem Wissen („was die Welt im Innersten zusammen hält“).

Faust stampft mit schnellem Schritt und gesenktem Kopf vor mir her. Seinen redseligen Gehilfen Wagner haben wir zum Glück abgeschüttelt.

In der S-Bahnstation tummeln sich viele Leute beim Bäcker und im Blumenladen – einige erkennen Faust und grüßen ihn respektvoll mit „Herr Magister“ und „Herr Doktor“. Faust nickt darauf nur mürrisch. Ja, er ist Gelehrter in den Fächern Philosophie, Jura, Medizin und Theologie – und trotzdem findet er keine Antwort auf seine existenzielle Frage.

„Da steh ich nun, ich armer Tor! Und bin so klug als wie zuvor“, murmelt Faust vor sich hin. Ich hoffe, seine Laune bessert sich noch.

Endlich öffnet sich das Tempelhofer Feld vor uns und ein kräftiger Regenschauer begießt uns. Die Fläche aus Asphaltbahnen und Wiese dehnt sich scheinbar unendlich aus. Im Moment ist hier kaum jemand außer uns unterwegs.

Vom Eise befreit sind Strom und Bäche
Durch des Frühlings holden, belebenden Blick;
Im Tale grünet Hoffnungsglück;
Der alte Winter, in seiner Schwäche,
Zog sich in raue Berge zurück.“

Tatsächlich leuchtet die Wiese grün und die Natur erobert sich ihr Recht zurück.

„Von dorther sendet er, fliehend, nur
Ohnmächtige Schauer körnigen Eises
In Streifen über die grünende Flur;
Aber die Sonne duldet kein Weißes,
Überall regt sich Bildung und Streben,
Alles will sie mit Farben beleben;
Doch an Blumen fehlt’s im Revier,
Sie nimmt geputzte Menschen dafür.“

Die Sonne könnte sich heute schon ein bisschen mehr ins Zeug legen. Blumen sehe ich hier wirklich nicht, dafür unvermutet eine Bauminsel.

Ich bin schon ziemlich durchnässt (ans Schreiben in mein Notzibuch ist nicht zu denken), mein roter Regenschirm scheint mir im Moment der einzige Farbklecks zu sein.

Faust lächelt milde, als mir mein Schirm beim fotografieren mal wieder vom Wind weggerissen wird. Er lässt den Regen über seine Wangen laufen und fühlt sich wohl in diesem unbeherrschbaren Wechselspiel der Natur.

Auf dem weiten Feld kommt Bewegung auf – wir sehen Menschen auf Fahrrädern und anderen Fortbewegungsmitteln einher sausen (warum tragen alle Leute schwarz?).

Plötzlich deutet Faust auf ein Tier im Gras, das uns seit einiger Zeit aus der Ferne umkreist.

„Trägt etwa auch der Osterhase Schwarz“, scherze ich. Doch Faust meint, es sei ein Pudel. Ich glaube, er irrt sich (seine Augen sind nicht mehr die Besten, das kommt vom vielen Lesen bei Kerzenschein…).

„Aus dem hohlen, finstern Tor
Dringt ein buntes Gewimmel hervor.
Jeder sonnt sich heute so gern.
Sie feiern die Auferstehung des Herrn,
Denn sie sind selber auferstanden,
Aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern,
Aus Handwerks- und Gewerbesbanden,
Aus dem Druck von Giebeln und Dächern,
Aus der Straßen quetschender Enge,
Aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht
Sind sie alle ans Licht gebracht.“

Jetzt kommt die Sonne doch ein bisschen beständiger zum Vorschein und im Nu strömen mehr Leute auf das Feld.

Mein Regenschirm bekommt Gesellschaft in Form eines roten Drachens – der schon beim zweiten Anlauf mit im Wind klatschenden Flügeln in den Himmel aufsteigt.

Warum kommen die Menschen hierher? Jeder von ihnen strebt nach etwas. Nach Befreiung aus dem Alltag, nach Bewegung, nach Alleinsein, nach Gemeinschaft, nach Stille – die großen Lebensfragen werden hier wahrscheinlich nicht beantwortet. Aber was man hier erleben kann: Einen Moment der inneren Freiheit.

„Ich höre schon des Dorfs Getümmel;
Hier ist des Volkes wahrer Himmel,
Zufrieden jauchzet Groß und Klein:
Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein!“

Faust und ich kommen nach unserer großen Runde wieder zum Eingang. Meine Kleidung ist immer noch durchnässt und meine Frisur für heute ruiniert, aber ich habe rote Wangen von Wind und Regen und fühle mich beschwingt. Faust ist auch guter Stimmung. Wir verabschieden uns. Den lästigen Pudel kann ich mit der S-Bahn zum Glück abhängen.

Das gewisse Extra:

Hier ein kleiner Ausblick, wie es Faust nach dem Osterspaziergang (in Bild und Ton) weiter ergeht. Während er noch vom Erlebnis auf dem Felde schwärmt, schleicht sich der Pudel in seiner wahren Gestalt in Fausts Studierzimmer. „Dai campi, dai prati“ aus „Mefistofele“ von Arrigo Boito (aus dem Jahr 1868) – eine meiner Lieblingsopern.

Meine Sterne-Wertung für den Schreibort:

Produktivität („wordcount“)

☆☆☆☆☆

Inspiration

★★★★☆

Pudelnass-Faktor

★★★★★

Woche 6: Deutsches Technikmuseum – Rendezvous mit Roboter Tim

Warum hier:

Normalerweise würde es mindestens 11 Pferde brauchen, um mich ins Technikmuseum zu schleppen. Aber eine besondere Attraktion lockt mich an: Der Museumsroboter Tim.

Schon seit der Antike hat der Mensch immer wieder versucht, eine künstliche Figur nach seinem Ebenbild zu erschaffen – einen künstlichen Menschen, der mit den Mitteln der Mechanik, der Elektronik und manchmal auch der Magie seinem Schöpfer nicht nur an Intelligenz gleicht, sondern auch über das Unbegreifliche verfügen soll: eine Seele.

In der Literatur und auch in anderen Kunstformen ist diese Hybris des Menschen (Mannes) und sein tragisches Scheitern immer wieder beschrieben. Heute will ich den Berliner Roboter kennenlernen und bin gespannt, ob er mich zum Schreiben inspirieren kann.

Zur Einstimmung:

Der Ort:

Im Hauptgebäude des Deutschen Technikmuseums nähere ich mich ein wenig widerstrebend der Computer-Abteilung. Hier stehe ich dem ersten elektromagnetischen Computer von Konrad Zuse (Z3) von 1941 gegenüber. Metallschalter und Kabel in raumfüllender Größe. Wie hierin mit Nullen und Einsen künstliche Intelligenz erzeugt wird, bleibt für mich ein Rätsel.

Um den Roboter Tim zu finden, gehe ich über das stimmungsvolle Gelände zwischen Tempelhofer Ufer und Park am Gleisdreieck zum langgestreckten Ladegebäude.

Drinnen führt mich mein Weg an einiger Pferdestärke vorbei, bis ich in die Ausstellung „Das Netz“ gelange.

Hier wird die Wirkungsweise von Computer und Internet in verschiedenen Lebensbereichen (z.B. Wissen, Nachrichten, Shopping, Haus, Spiele) gestern und heute anschaulich dargestellt. Viele Kinder mit ihren Eltern tummeln sich hier – und schon höre ich ein kleines Mädchen neben mir sagen: „Wo ist denn Tim?“. Das Kind und ihre Freunde laufen durch die Ausstellung auf der Suche nach dem Roboter – und ich hinterher.

Und bald finden wir ihn – der vielbeschäftigte Museumsführer ist von Kindern umringt. Auf seinem Touchscreen sind Bilder von Ausstellungsobjekten. Eine Berührung und schon verkündet Tim mit monotoner Stimme: „Okay, ich bringe dich jetzt zu deinem Ziel.“

Dann saust er auf seinem kreisrunden Standbein los, dreht dabei animierend seinen durchsichtigen Plexiglaskopf um 360 Grad (ob er wohl zur Physio muss, um seine verspannten Kabelstränge im Nacken zu lockern?), als wolle er sehen, ob ihm seine Gäste auch folgen. Dabei sagt er in regelmäßigen Abständen: „Hier lang“ und „Alle noch da?“

Wenn seine Schar zurück fällt, rollt er unbeirrt weiter. Als Babysitter würde ich ihn jedenfalls nicht engagieren. Dann schon lieber den Terminator – der opfert sich für seinen Schützling auf und lernt sogar ein paar menschliche Werte (man darf nicht einfach jeden töten) und coole Sprüche („Hasta la vista, baby“) vom Menschenkind.

Manchmal dreht Tim eine Pirouette, wenn ein Hindernis auftaucht, ansonsten ist er sehr zielstrebig. Konversation ist nicht seine Stärke. Fragen ignoriert er. Ein schlechter Gastgeber ist er aber nicht – immerhin kommen die menschlichen Besucher untereinander ins Gespräch.

Am Ziel angekommen, referiert es über den Ausstellungsgegenstand – das wollen die Kinder aber gar nicht hören, sondern schicken ihn gleich wieder los und rennen ihm nach.

Ein Mädchen versucht, ihn zu umarmen oder aufzuhalten – was Tim völlig kalt lässt. Nur wenn man ihm seinen Fuß in den Weg stellt, bleibt er stehen und sagt: „Kannst du bitte deinen Fuß wegnehmen?“

Irgendwann habe ich Tim mal für mich alleine und er erzählt mir etwas zur Wortherkunft von „SPAM“ (Dosenfleisch) – dabei schaue ich in seine großen blauen Kameraaugen in seinem runden Riesenkopf – er verwirklicht das Kindchenschema und erinnert mich auch ein wenig an E.T. Hin und wieder klimpert er mit den Augen: mit mechanischem Geräusch schiebt ein Bügel seine Augenlider über die Linse. Das ist so tölpelhaft, dass ich es arglos und irgendwie rührend finde. Er kann ja nichts dafür, dass sein Schöpfer ihn nicht mit mehr Fähigkeiten ausgestattet hat.

Ein paar Sätze mehr hätten Tim gut getan. Im Androiden-Roman „L’Eve de future“ (1886) vom Dichter Auguste Philippe Villiers de l’Isle Adam lässt sich der Protagonist Lord Ewald eine Automatenfrau namens Hadaly konstruieren, die seiner Freundin Alicia nachempfunden, jedoch nach seinen Wünschen ins Vollkommene gesteigert ist. Diese Idealfrau kann zum Beispiel dank eines Goldphonographens 7 Stunden lang tiefsinnige Texte großer Dichter rezitieren.

Schließlich verabschiede ich mich von Tim (was er leider nicht erwidert) und lasse im Museumscafé Tor Eins meine Eindrücke nachklingen.

Worin besteht die Faszination eines künstlichen Menschen? Selbst der recht simple Mechanismus vom Roboter Tim hat Klein und Groß angezogen.

Ist es die Beherrschbarkeit des Maschinenmenschen?

Die Roboter der Antike waren Diener der Menschen – bewegliche Statuen zur Bedienung der Götter beim Essen oder Riesen aus Eisen zur Bewachung einer Stadt.

Ist es der Wunsch, eine Kreatur zu schaffen, die einzig und alleine der Erfüllung eines menschlichen Bedürfnisses dient? Fast immer ist es die Liebe.

In E.T.A. Hoffmanns „Der Sandmann verliebt sich der Jüngling Nathanael unter dem Einfluss einer magischen Brille in die Puppe Olimpia, die mechanisch sprechen (ihr einziges Wort lautet: „Ach“), singen und tanzen kann.

„Eiskalt war Olimpias Hand, er fühlte sich durchbebt von grausigem Todesfrost, er starrte Olimpia ins Auge, das strahlte ihm voll Liebe und Sehnsucht entgegen und in dem Augenblick war es auch, als fingen an in der kalten Hand Pulse zu schlagen und des Lebensblutes Ströme zu glühen. (…) Er saß neben Olimpia, ihre Hand in der seinigen und sprach hochentflammt und begeistert von seiner Liebe in Worten, die keiner verstand, weder er, noch Olimpia. Doch diese vielleicht; denn sie sah ihm unverrückt ins Auge und seufzte einmal übers andere: »Ach – Ach – Ach!« – worauf denn Nathanael also sprach: »O du herrliche, himmlische Frau! – du Strahl aus dem verheißenen Jenseits der Liebe – du tiefes Gemüt, in dem sich mein ganzes Sein spiegelt« und noch mehr dergleichen, aber Olimpia seufzte bloß immer wieder: »Ach, Ach!«“

Hier wird deutlich, dass diese Liebe eine reine Wunschprojektion ist. Seine Idealfrau ist ein Spiegel seiner selbst, die ihm Bestätigung gibt. Eine ziemlich narzisstische Form der Liebe.

Die Metamorphose des Narziss von Salvador Dalí (1937), Tate Modern London

Aber macht nicht gerade auch das Unvorhersehbare, nicht Beherrschbare des Gegenübers seine menschliche Qualität aus?

In Liebesdingen würde Oscar Wilde dem auf jeden Fall zustimmen. „The very essence of romance is uncertainty“ (aus: „The Importance of Being Earnest“).

Auch beim Roboter ist die Faszination glaube ich weniger die Beherrschbarkeit, sondern vielmehr die Suche nach dem magischen Etwas, was wir Seele nennen – und manchmal in einem guten Menschen-Immitat zu erkennen glauben.

Allerdings gibt es Roboter, die einem Menschen zum Verwechseln ähnlich sind, bisher nur im Film.

In Filmen wie Metropolis, Blade Runner und A.I. – Künstliche Intelligenz entwickeln Maschinen / Androide / Replikanten ein eigenes Bewusstsein. Sie lösen sich aus ihrer Knechtschaft und wenden sich gegen ihren Schöpfer. Oder sie lernen zu träumen und zu lieben – wie der Roboter-Junge David aus A.I., der durch einen Zauber menschlich werden möchte, damit seine Menschenmutter ihn liebt.

Die Kreatur sehnt sich genauso nach Liebe, wie ihr Schöpfer. Diese Sehnsucht bleibt aber für beide Seiten unerfüllbar.

Zurück im Café. Ich unterbreche meinen Gedankenfluss, um den Ort für meinen Blog auch fotografisch festzuhalten. In dem Moment kommt die Bedienung (ein Mann mit Hipster-Bart) an meinen Tisch, stellt das Stück Ziegenkäse-Himbeertorte vor mich hin und sagt:

„Hier ist noch was zum fotografieren“.

Da fällt mir noch ein Unterscheidungsmerkmal zwischen Mensch und Maschinenmensch ein: Der Humor.

Das gewisse Extra:

Ich kann meinen Namen nun mit Bits schreiben:

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Eine wunderbare musikalische Umsetzung der Geschichte von E.T.A. Hoffmann kann man an der Komischen Oper Berlin erleben „Les Contes d’Hoffmann“ von Jacques Offenbach (Mo, 17. April).

Wer möchte mitkommen?

Meine Sterne-Wertung für den Schreibort:

Produktivität („wordcount“)

★★☆☆☆

Inspiration

★★★★☆

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★★★★★

Woche 5: Verlassenes Institut für Anatomie – die Anatomie der Fantasie

Warum hier:

Seit ich Bilder vom verlassenen Institut für Anatomie der Freien Universität Berlin gesehen habe, möchte ich diesen Ort entdecken. Es ist einer der top Berliner Pilgerorte für Fotografen, die „lost places“ aufsuchen. Mich reizen der geisterhafte Hörsaal und der gruselige Keller mit den Leichenkühlfächern. Und mich reizt auch, dass es ein verbotener Ort ist.

Zur Einstimmung:

Der Ort:

Bei herrlichem Sonnenschein spaziere ich die Peter-Lenné-Straße in Dahlem entlang, vorbei an prächtigen Villen mit umzäunten Gärten. Nichts kann diese heile Welt trüben. Doch da liegt es – das Eckgrundstück mit wilden Sträuchern und verrottetem Herbstlaub im struppigen Gras. Darauf steht trotzig ein Gebäude mit zerbrochenen Scheiben und Graffiti an der bröckelnden Fassade. Ein stabiler Bauzaun umkreist das Objekt. Hier scheint es kein Hineinkommen zu geben.

Doch was ist das? Direkt vor dem Hauptportal gibt es einen kleinen Durchschlupf unter dem Zaun. Also nichts wie hinunter auf den Boden, meine Haare fegen beim Durchrollen über den erdigen Untergrund – und ich bin drinnen. Übrigens habe ich für mein heutiges Abenteuer einen Komplizen (Olli) dabei – für den Fall, dass es böse Geister im Haus gibt.

Wir klettern durch die scheibenlosen Öffnungen der doppelten Holztüren und jetzt sind wir im Haus.

Vom Foyer gehen Türen in alle Richtungen ab. Auf meinem Erkundungsweg durch das Erdgeschoss knirschen bei jedem Schritt Glasscherben unter meinen Sohlen. Alle Fenster sind ohne Gläser und lassen die Frühlingsbrise herein. Ich komme durch große Säle mit kathedralenhafter Andächtigkeit. Überall sehe ich bunte Bilder und Schriftzeichen an den Wänden – die lebendigen Zeugnisse meiner Vorgänger.

Ich gehe durch lange Flure, kleine Bürozimmer, breite Laborräume mit gemauerten Tischen vor den Fenstern, die den Blick freigeben in einen lauschigen Innenhof mit Tannengrün und gelb blühenden Osterblumen.

Die Grenze zwischen drinnen und draußen ist aufgehoben.

Dort ein „Operationstheater“.

Wo geht es nun in den Keller? Tatsächlich finden wir kurz vor der Treppe einige rote Tropfen auf dem Fliesenboden – bei denen es sich nach unserer forensischen Fachmeinung eindeutig um Blutspuren handelt. Im dunklen Keller ist es sofort um einige Grad kälter, die Flure sind enger und die Decken niedriger. Unvermittelt stoße ich in einem Zimmerchen auf einen stählernen Seziertisch – der mit roten Blütenblättern fotogen dekoriert ist.

Und schließlich finden wir sie – die langen Reihen von Metallfächern, die in steriler Funktionalität der Aufbewahrung von Leichen dienten. Heute können die bunt bemalten Klappen der Fantasie als Gerüst für eine Schauergeschichte dienen. Die Geister sind aber schon ausgeflogen. Auf eine Kühlkammer hat jemand geschrieben: „Ganz schön tot hier“.

Den Eindruck habe ich gar nicht. Der Ort ist voll von der Präsenz anderer Menschen, die hier ihre kreativen Spuren hinterlassen und sich den Raum gestalterisch zueigen gemacht haben.

Wieder im Tageslicht und einige Flure weiter komme ich endlich in den Hörsaal – ein würdevolles Amphitheater. In einer Ecke steigt mir beißender Brandgeruch in die Nase, ein paar verkohlte Überreste zeugen davon.

Standhaft reihen sich die unzähligen Holztische und Bänke vor mir auf, als könnte hier jeden Augenblick eine Verwandlung stattfinden und der Saal sich mit wissbegierigen Studierenden füllen.

Ich gehe durch die Reihen. Auf dem Boden liegen Chipstüten, süße Knabbereien, Getränkeverpackungen – vielleicht von der Party der letzten Nacht. #aboutlastnight

Ich suche mir einen Platz – die meisten Klapptische verharren unbeweglich in halb aufrechter Lage, aber einige laden doch mit (staubiger) Tischfläche zum Schreiben ein. Die hölzerne Sitzfläche ist schon ein bisschen aufgesplittert, aber wie ich hier so mit Schreibbuch und Stift sitze, fühle ich mich sofort am richtigen Ort.

Rundherum lassen die großen Fensterrahmen die Luft und die Sonnenstrahlen ungehindert in den Raum schweifen, ich höre Vogelgezwitscher und manchmal ferne Stimmen und Motoren von draußen. Das Haus und dieser Raum gehören im Moment mir alleine, ich bin nicht abgeschnitten, aber doch abgeschirmt vom Rest der Welt. Ich befinde mich außerhalb der Zeit, auf einer Insel der Fantasie – und der Freiheit.

Jetzt kommt mir nochmal der Leichenkeller in den Sinn und ich muss an Mary Shelleys „Frankenstein“ denken – wie dort ein Mensch versucht, gottgleich mit den Mitteln der Medizin einen neuen Menschen anatomisch zu rekonstruieren und ihn zum Leben zu bringen („It’s alive„- herrliches Pathos im Film von 1931 ).

Als Schriftsteller benötige ich jedoch nur meine Fantasie, um einen Menschen zu erschaffen. Dieser schöpferische Akt des Schreibens ist grenzenlos. Manchmal frage ich mich, ob meine Figuren ein Eigenleben haben und was sie so treiben, wenn ich ihnen den Rücken kehre. Und was ist mit all den Charakteren in den Büchern, die ich gelesen habe? Hören sie auf zu existieren, sobald ich das Buch zuklappe? Ich glaube nicht…

Das gewisse Extra:

Das verlassene Gebäude ist für viele ein (Frei-) Raum, um ihre Kreativität auszuleben. Hier hat jemand eine kleine Ausstellung kuratiert.

Hier ein surrealistisches Wort-Bild: „Das ist noch nicht das Ende. Das ist noch nicht mal der Anfang vom Ende. Aber das hier ist vielleicht das Ende vom Anfang“.

Was wohl hinter dieser Tür liegt? Hier sind auch eurer Fantasie keine Grenzen gesetzt.

Meine Sterne-Wertung für den Schreibort

Produktivität („wordcount“)

★★★☆☆

Inspiration

★★★★★

Vorstrafenregistererweiterungs-Faktor

★★★★★

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