Woche 7: Tempelhofer Feld – Osterspaziergang mit Faust

Warum hier:

An diesem Ostersonntag zieht es mich aus meinem Studierzimmer ins Freie – obwohl sich Regen, Hagel und Sonnenschein minütlich abwechseln. Und wer wäre ein besserer Begleiter für meinen Osterspaziergang, als Faust? Und welcher Ort „vor dem Tor“ Berlins bietet ein freies Feld für naturverbundenes Spazieren: Das Tempelhofer Feld.

Zur Einstimmung:

Wer gerade bei „naturverbunden“ geschmunzelt hat, der lausche doch bitte in meinem Video auf das Vogelgezwitscher der Feldlerche (und ist hoffentlich schwindelfrei):

Der Ort:

Faust begrüßt mich, ich kann seine Worte über das Kirchengeläut kaum verstehen. Er hat die ganze Nacht in seinem Studierzimmer verbracht und steckt gerade ziemlich in der Krise.

Ich selbst war eben im Ostergottesdienst in der Evangelischen Kirche bei mir um die Ecke (zum ersten Mal) – dort habe ich in der Predigt von der Auferstehung Jesu gehört und wie wir Menschen auch aufstehen und den Stein von unserem eigenen Grab der Gewohnheiten rollen müssen und einen Weg zur Selbstbefreiung und zur Öffnung für neue Erfahrungen finden sollen – im Glauben.

Faust will davon nichts hören. Mit der Religion hat er es wohl nicht so – aber die Gretchenfrage überlasse ich lieber einer anderen. Trotzdem ist auch Faust auf der Suche nach Befreiung – Befreiung aus seiner eigenen Begrenztheit. Sein Leben lang strebt er schon nach höherem Wissen („was die Welt im Innersten zusammen hält“).

Faust stampft mit schnellem Schritt und gesenktem Kopf vor mir her. Seinen redseligen Gehilfen Wagner haben wir zum Glück abgeschüttelt.

In der S-Bahnstation tummeln sich viele Leute beim Bäcker und im Blumenladen – einige erkennen Faust und grüßen ihn respektvoll mit „Herr Magister“ und „Herr Doktor“. Faust nickt darauf nur mürrisch. Ja, er ist Gelehrter in den Fächern Philosophie, Jura, Medizin und Theologie – und trotzdem findet er keine Antwort auf seine existenzielle Frage.

„Da steh ich nun, ich armer Tor! Und bin so klug als wie zuvor“, murmelt Faust vor sich hin. Ich hoffe, seine Laune bessert sich noch.

Endlich öffnet sich das Tempelhofer Feld vor uns und ein kräftiger Regenschauer begießt uns. Die Fläche aus Asphaltbahnen und Wiese dehnt sich scheinbar unendlich aus. Im Moment ist hier kaum jemand außer uns unterwegs.

Vom Eise befreit sind Strom und Bäche
Durch des Frühlings holden, belebenden Blick;
Im Tale grünet Hoffnungsglück;
Der alte Winter, in seiner Schwäche,
Zog sich in raue Berge zurück.“

Tatsächlich leuchtet die Wiese grün und die Natur erobert sich ihr Recht zurück.

„Von dorther sendet er, fliehend, nur
Ohnmächtige Schauer körnigen Eises
In Streifen über die grünende Flur;
Aber die Sonne duldet kein Weißes,
Überall regt sich Bildung und Streben,
Alles will sie mit Farben beleben;
Doch an Blumen fehlt’s im Revier,
Sie nimmt geputzte Menschen dafür.“

Die Sonne könnte sich heute schon ein bisschen mehr ins Zeug legen. Blumen sehe ich hier wirklich nicht, dafür unvermutet eine Bauminsel.

Ich bin schon ziemlich durchnässt (ans Schreiben in mein Notzibuch ist nicht zu denken), mein roter Regenschirm scheint mir im Moment der einzige Farbklecks zu sein.

Faust lächelt milde, als mir mein Schirm beim fotografieren mal wieder vom Wind weggerissen wird. Er lässt den Regen über seine Wangen laufen und fühlt sich wohl in diesem unbeherrschbaren Wechselspiel der Natur.

Auf dem weiten Feld kommt Bewegung auf – wir sehen Menschen auf Fahrrädern und anderen Fortbewegungsmitteln einher sausen (warum tragen alle Leute schwarz?).

Plötzlich deutet Faust auf ein Tier im Gras, das uns seit einiger Zeit aus der Ferne umkreist.

„Trägt etwa auch der Osterhase Schwarz“, scherze ich. Doch Faust meint, es sei ein Pudel. Ich glaube, er irrt sich (seine Augen sind nicht mehr die Besten, das kommt vom vielen Lesen bei Kerzenschein…).

„Aus dem hohlen, finstern Tor
Dringt ein buntes Gewimmel hervor.
Jeder sonnt sich heute so gern.
Sie feiern die Auferstehung des Herrn,
Denn sie sind selber auferstanden,
Aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern,
Aus Handwerks- und Gewerbesbanden,
Aus dem Druck von Giebeln und Dächern,
Aus der Straßen quetschender Enge,
Aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht
Sind sie alle ans Licht gebracht.“

Jetzt kommt die Sonne doch ein bisschen beständiger zum Vorschein und im Nu strömen mehr Leute auf das Feld.

Mein Regenschirm bekommt Gesellschaft in Form eines roten Drachens – der schon beim zweiten Anlauf mit im Wind klatschenden Flügeln in den Himmel aufsteigt.

Warum kommen die Menschen hierher? Jeder von ihnen strebt nach etwas. Nach Befreiung aus dem Alltag, nach Bewegung, nach Alleinsein, nach Gemeinschaft, nach Stille – die großen Lebensfragen werden hier wahrscheinlich nicht beantwortet. Aber was man hier erleben kann: Einen Moment der inneren Freiheit.

„Ich höre schon des Dorfs Getümmel;
Hier ist des Volkes wahrer Himmel,
Zufrieden jauchzet Groß und Klein:
Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein!“

Faust und ich kommen nach unserer großen Runde wieder zum Eingang. Meine Kleidung ist immer noch durchnässt und meine Frisur für heute ruiniert, aber ich habe rote Wangen von Wind und Regen und fühle mich beschwingt. Faust ist auch guter Stimmung. Wir verabschieden uns. Den lästigen Pudel kann ich mit der S-Bahn zum Glück abhängen.

Das gewisse Extra:

Hier ein kleiner Ausblick, wie es Faust nach dem Osterspaziergang (in Bild und Ton) weiter ergeht. Während er noch vom Erlebnis auf dem Felde schwärmt, schleicht sich der Pudel in seiner wahren Gestalt in Fausts Studierzimmer. „Dai campi, dai prati“ aus „Mefistofele“ von Arrigo Boito (aus dem Jahr 1868) – eine meiner Lieblingsopern.

Meine Sterne-Wertung für den Schreibort:

Produktivität („wordcount“)

☆☆☆☆☆

Inspiration

★★★★☆

Pudelnass-Faktor

★★★★★

17 Antworten auf „Woche 7: Tempelhofer Feld – Osterspaziergang mit Faust“

  1. Liebe Ulrike,
    deine Idee Faust mit auf den Osterspaziergang zu nehmen, ist wahrscheinlicher anregender als der Ort, den du dir dafür ausgesucht hast — schade nur, dass du von deinem Begleiter kein Foto gemacht hast 😉
    So oder so: dein Beitrag hat mich am heutigen Ostermontag erst richtig aufgeweckt. Und dazu gibt es auch noch die passende Musik — was will man mehr? Danke, Heike.

  2. Liebe Ulrike,

    Faust und du – gemeinsam auf dem Tempelhofer Feld, welch besonderer Anblick und das an Ostern.
    Ich sah ihn mürrisch dreinschauen, sah, wie sich seine Laune besserte, war erfreute, auch Goethes Texte zu lesen und verstand… Der Pudelnass-Faktor ist eine besondere Dreingabe für mich an diesem Schreibort unter dem roten Schirm.

    Beste Grüße

    Hedda

    1. Vielen Dank liebe Hedda. Ja, habe mich und meinen roten Schirm allen Launen und Elementen ausgesetzt – und die Inspiration dieses Orts (und der genialen Goethe-Zeilen) noch bis zum PC in der warmen Stube herüber gerettet.

  3. Liebe Ulrike,
    mir geht es wie Heike, ich vermisse das Foto von Herrn Faust! Das ist aber auch das einzige was ich zu bemängeln habe. Ansonsten sind die Fotos wie immer sehr ausdrucksstark, besonders der rote Regenschirm kommt gut. Den hätte Herr Faust eigentlich richtig über Dich halten können, dann wärst Du vielleicht nicht so pudelnass geworden. Aber der Herr war wahrscheinlich zu sehr mit sich selbst beschäftigt.
    Liebe Grüße
    Anne

  4. Liebe Ulrike,
    ja, endlich ein Ort, den ich kenne, denke ich nich bei der Überschrift und schon ist der da, am Ende der Überschrift, faust und ich überlege, zweimal war ich da, nein, ich habe ihn nicht gesehen …
    oder nur nicht erkannt?!
    Ich mag den Wechsel zwischen Zitaten des Herrn Faust, „was die Welt im Innersten zusammen hält“ und Beobachtungen der Menschen, „Tragen alle Menschen schwarz. Trägt der Osterhase schwarz?“des Feldes, des Wetters …
    Diesen Ort kenne ich bisher nur bei schönem Wetter, vermutlich ist der Herr Faust nur bei Regenwetter dort, oder? 😉
    Herzlichen Dank für diesen vergnüglichen Osterspaziergang,

    Sabine
    „was die Welt im Innersten zusammen hält“

    1. Vielen Dank liebe Sabine. Ja, der Regen hat besondere Gestalten auf das Feld gelockt. Herr Faust ist dir wegen der Rechtschreibung ganz sicher nicht gram, als ich ihn gestern gesehen habe, war er ganz euphorisch und auf dem Weg in einen Garten, um eine sittsame junge Frau zu treffen, auch schien er mir erstaunlich verjüngt…

  5. Liebe Ulrike,
    auch ich rufe: den Ort kenn ich, sogar noch als Fluggast! und bin begeistert, was frau mit Herrn Faust alles erleben kann. Beim „pudelnass“ werde ich jedoch stutzig – hoffentlich hast du dir über Ostern nicht so ne fiese Erkältung zugezogen wie ich.
    Falls du irgendwann noch einmal das Tempelhofer Feld besuchst und dabei mehr Natur erleben willst, schau doch beim Allmende-Kontor vorbei, http://www.allmende-kontor.de/, Freunde von mir sind da sehr aktiv.
    Herzliche Grüße in die Hauptstadt: Amy

    1. Vielen Dank liebe Amy. Erstaunlich – da bist du vom Tempelhofer Feld sogar noch abgehoben. Der Gemeinschaftsgarten des Allmende-Kontors klingt super – wenn ich das nächste Mal da bin, gehe ich Blumen suchen. Bin trotz Nässe zum Glück unerkältet geblieben, auch Faust fühlt sich pudelwohl.

  6. Liebe Ulrike
    Ach, wie toll Du einen meiner Lieblingsorte mit Faust besuchst. Und selbst die Feldlerchen erklingen lässt, die ich dort kürzlich auch aufgenommen habe.
    Das ist alles sehr schön geschrieben, trotz viel Regen und Null-Sterne-Produktivität vor Ort.
    Liebe Grüße, Urs

  7. Liebe Ulrike,
    welch schöne Idee, mit Faust spazieren zu gehen. Und uns alle auch noch mitzunehmen. Es war ein bisschen frisch und feucht vielleicht, aber dennoch sehr beschwingt. 😉 Die Kombination deiner Erzählung mit den Fotografien hat deinene Ausflug wirklich sehr plastisch (mit-) erlebbar gemacht. Vielen Dank dafür & liebe Grüße. mo…

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