Die Märchenwelt steht Kopf. Marie ist keine schöne Prinzessin, sondern ein ungeliebtes dickes Kind, das mit Vorliebe die Gestalten in ihrem Märchenbuch mit ihren Filzstiften tyrannisiert. Als sie plötzlich selbst in der Märchenwelt landet, wird sie mit ihrer eigenen Not konfrontiert – hierbei sind der hungrige Wolf und der ungeküsste Frosch das kleinste Problem.
„Marie mag keine Märchen“ habe ich gestern fertig geschrieben und bei einem Wettbewerb eingereicht. Die Vorgabe lautete, bekannte Märchen neu zu erzählen („die ganze Wahrheit“).
Bei der Ideensuche für meine Geschichte habe ich die altvertrauten Grimm’schen Märchen wieder gelesen und nach übergreifenden Themen und Verbindungen gesucht. Was treibt die Figuren an und warum kommen sie in Schwierigkeiten?
Es sind Hochmut, Eifersucht, Eitelkeit, Ungehorsam und Übermut, die die Märchenwesen in die Bredouille bringen und die bösen Stiefmütter und Hexen zu ihren Intrigen und Zaubereinen anstacheln.
In „König Drosselbart“ ist die Prinzessin hochmütig, indem sie die Prinzen verspottet und abweist, die um sie werben.
Hänsel und Gretel sowie Rotkäppchen kommen aus Ungehorsam im wahrsten Sinne des Wortes vom Weg ab und müssen dafür bezahlen.
Die Eitelkeit und die Eifersucht treiben die Stiefmutter von Schneewittchen und die Schwestern von Aschenputtel dazu an, diese guten Mädchen ins Unglück zu stürzen.
Sind die Heldinnen und Helden erst einmal in Schwierigkeiten – entweder wegen ihres schlechten Charakters oder durch ihre Neider – müssen sie sich schweren Prüfungen stellen, sich behaupten, Buße tun und geläutert werden, um zum guten Schluss belohnt zu werden.
Ein gutes Beispiel für die Belohnung einer guten Tat findet sich im „Gestiefelten Kater“, wo der jüngste Sohn seinen geerbten Kater nicht zu Handschuhen verarbeitet, sondern das Tier am Leben lässt, das wiederum mit Witz und Betrug dafür sorgt, dass sein Herr zum reichen Landbesitzer und Prinzgemahl wird.
Aber ist das schon das ganze Rezept? Ich drehe und wende die Geschichten und richte meinen Blick auf die Eltern-Figuren. Sind es nicht die nachlässigen Eltern, die Hänsel und Gretel in den dunklen Wald schicken?
Ist es nicht der grausame Vater in „König Drosselbart“, der die Selbstbestimmung seiner Tochter unterdrückt (hat sie nicht das Recht, einen Brautwerber abzulehnen?) und sie zur Strafe dem nächstbesten Bettler mitgibt?
Warum strengt sich der Vater von Dornröschen nicht mehr an, die 13. Fee zum Fest einzuladen (ein zusätzlicher goldenen Teller ließe sich im Königreich doch wohl auftreiben)? Warum setzt sich der Vater von Aschenputtel nicht mehr für seine Tochter ein? Väter schrecken auch nicht davor zurück, ihre Söhne im Kampf um das Erbe gegeneinander antreten zu lassen („Die drei Brüder“, „Die drei Federn“). In „Tischlein deck dich, Goldesel, Knüppelausdemsack“ glaubt der Vater eher dem Lügengemeckere der Ziege, als den wahren Worten seiner drei Söhne und jagt sie einen nach dem anderen mit Schlägen aus dem Haus.
Ganz evident ist das Versagen der Mutter in Rapunzel (die in der psychologischen Deutung mit der Zauberin, die Rapunzel im Turm gefangen hält, identisch ist). Von grausamen Stiefmüttern brauche ich gar nicht erst anzufangen – in „Schneewittchen“ kann man über die fantasievolle Bandbreite an Mordanschlägen auf die Stieftochter staunen (vom Jäger erschießen lassen und Lunge und Leber zum Beweis ausweiden, Erwürgen mit Halskette, mit Apfel vergiften).
Alle Eltern, die in Märchen vorkommen, versagen in ihrer elementaren Aufgabe, ihre Kinder zu beschützen und gut für sie zu sorgen. Oft ist es erst diese Vernachlässigung, die die Kinder in ihre Notsituationen stürzt.
Das bringt mich dazu, die Prämisse des Märchens als Erziehungsstück für Kinder auf den Kopf zu stellen. Wie wäre es, wenn im Märchen mal die Eltern geprüft, geläutert und erzogen würden?
Mit diesen Gedanken im Hinterkopf lade ich euch nun ein, mein Märchen-Remix von Marie zu lesen. Ihr werdet bestimmt einige bekannte Figuren und Themen wieder erkennen.