Gespenstersolitüde

Winde heulen

eine Diele knarrt

eine Tür schlägt zu

im Schloss von Tudory

 

Eine Uhr schlägt Zwölf

ein Vorhang bläht sich

ein Gespenst erwacht

im Schloss von Tudory

 

Seine Kunst ist ausgefeilt

griffbereit sind seine Requisiten

es senkt den Schauerschleier das

Gespenst von Tudory

 

Es klappern gelbe Zähne

ohne Lippen ohne Blut

Bühne frei für das

Gespenst von Tudory

 

Im Mondschein glitzert Staub

auf geheimen Gängen

geht mit Kettenrasseln das

Gespenst von Tudory

 

Es lässt die Kerzen flackern

mit seinem kalten Hauch

wer spürt es voller Furcht

im Schloss von Tudory

 

Versteinerte Gesichter

zeigen keine Regung

auf der Ahnengalerie

im Schloss von Tudory

 

Grausig tut es seine Pflicht

geistert Nacht um Nacht

doch niemand sieht es das

Gespenst von Tudory

 

Längst verhallt sind

schrille Schreckensschreie

der Marquise von Albury

im Schloss von Tudory

 

Längst verblichen sind

Grimassen des Entsetzens

vom Gesicht des Grafen Ginsbury

im Schloss von Tudory

 

Sehnend lauschend schleppend

zieht es durch leere Gemäuer

sein Kostüm in Fetzen das

einsame Gespenst von Tudory

Hans im Glück – eine Aussteigergeschichte über heitere Besitzlosigkeit

Hans im Glück ist kein typischer Märchenheld, denn er sammelt weder Schätze noch Ruhm an und gewinnt auch nicht das Herz einer schönen Frau. Nein, er ist ein Trottel, der seinen Verdienst der letzten sieben Jahre in kürzester Zeit durch dumme Tauschgeschäfte verliert und mit leeren Händen zu seiner Mutter zurück kehrt – mittellos, aber glücklich. Ist er gerade deshalb ein Vorbild in unserem Zeitalter des Konsumzwangs und der Erfolgsversessenheit?

Seine Geschichte ist schnell erzählt:

Hans war sieben Jahre in der Lehre eines Handwerkers. Zum Abschluss erhält er seinen Lohn in Form eines Goldklumpens von der Größe seines Kopfes. Auf dem Weg nach Hause wird ihm das Tragen beschwerlich und so tauscht er sein goldenes Vermögen gegen ein Pferd ein. Er folgt also einem momentanen Impuls (Bequemlichkeit) und stellt bei diesem Tauschgeschäft keine übergeordnete Wertkalkulation an.

Auf seinem weiteren Weg tauscht er das Pferd gegen eine Kuh, die Kuh gegen ein Schwein, das Schwein gegen eine Gans und die Gans gegen einen Schleifstein. Wir als Leser*innen merken sofort, dass er mit jedem Tauschgeschäft einen herben Verlust macht. Aber Hans ist jedes Mal sehr zufrieden damit.

Wenn Hans selbst seine Geschichte erzählt, klingt sie ganz anders – nämlich so, als seien ihm alle seine Besitztümer geschenkt worden (weil er sie nicht kaufen musste). Das zeigt eindrücklich: Erfolg oder Misserfolg, Glück oder Unglück – sie sind keine festen Messwerte, sondern Variablen, die alleine von der Perspektive abhängen, aus der man sie betrachtet.

Scherenschleifer: »Aber wo habt ihr die schöne Gans gekauft?«

Hans: »Die hab ich nicht gekauft, sondern für mein Schwein eingetauscht.« »Und das Schwein?« »Das hab ich für eine Kuh gekriegt.« »Und die Kuh?« »Die hab ich für ein Pferd bekommen.« »Und das Pferd?« »Dafür hab ich einen Klumpen Gold, so groß als mein Kopf, gegeben.« »Und das Gold?« »Ei, das war mein Lohn für sieben Jahre Dienst. (…) Hans lud den Stein auf und ging mit vergnügtem Herzen weiter; seine Augen leuchteten vor Freude, »ich muß in einer Glückshaut geboren sein«, rief er aus, »alles was ich wünsche, trifft mir ein, wie einem Sonntagskind

Zu Schluss fällt Hans der Schleifstein (der für ihn im Übrigen auch keinen Nutzwert hat, da er dieses Handwerk gar nicht gelernt hat) in einen Brunnen.

»Hans, als er sie mit seinen Augen in die Tiefe hatte versinken sehen, sprang vor Freuden auf, kniete dann nieder und dankte Gott mit Thränen in den Augen, daß er ihm auch diese Gnade noch erwiesen und ihm auf eine so gute Art und ohne daß er sich einen Vorwurf zu machen brauchte, von den schweren Steinen befreit hätte; das einzige wäre ihm nur noch hinderlich gewesen. »So glücklich wie ich«, rief er aus, »gibt es keinen Menschen unter der Sonne.« Mit leichtem Herzen und frei von aller Last sprang er nun fort, bis er daheim bei seiner Mutter war.«

Da kann ich nur Staunen und Schmunzeln. „Frei von aller Last“ hallt in mir nach. Ja, das ist ein Wunsch, der wohl in so manchem zeitgenössischen Menschen rumort. Leistungsdruck, Burn-Out, Statussymbole, Konsumterror – das sind die Zeichen unserer Zeit.

Hans ist die Gegenfigur dazu – seine Geschichte die Mutter aller Aussteigerphantasien.

Ja, der naive Hans taugt als Lichtgestalt für alle Menschen, die sich von den Fesseln des Materialismus und der persönlichen Versklavung im Dienste der Karriereleiter befreien möchten.

Geschichten über die menschliche Sinnsuche sind heute allgegenwärtig.

Kürzlich habe ich den Film Into the wild“ (2007) gesehen – ein Zivilisationsflucht-Drama, das auf einer wahren Geschichte basiert: Der 22-jährigen Student Christopher McCandless (er nennt sich „Alexander Supertramp“) verlässt nach dem Collegeabschluss 1990 seine Familie, sagt sich von allem Besitz los (spendet sein Vermögen), lässt sein Auto zurück, behält nur die Kleidung auf seinem Körper und einen Rucksack, er wandert und trampt zwei Jahre lang quer durch die USA, dabei begegnet er einigen Menschen, die ihm Formen des Zusammenlebens anbieten, aber für ihn ist die Einsamkeit die erstrebte Lebensform.

Schließlich findet er in der Wildnis von Alaska einen verlassenen Campingbus, in dem er überwintert. Abgeschnitten von der Zivilisation denkt er über den Sinn des Lebens und das Glück nach (braucht man andere Menschen, um glücklich zu sein?). Aber die materiellen Bedürfnisse des Menschen werden ihm zum Verhängnis: Er leidet Hunger und stirbt im Laufe des Winters an Auszehrung und an einer Lebensmittelvergiftung (1992). Aus seinen Tagebuchaufzeichnungen geht hervor, dass er kurz vor seinem Tod zu der Erkenntnis gelangt sei, dass man nur glücklich wird, wenn man das Glück mit Anderen teilen kann.

Demnächst kommt der Film „100 Dinge“ (von und mit Florian-David Fitz und Matthias Schweighöfer) ins Kino, in dem zwei Männer aufgrund einer Wette alle ihre Besitztümer aufgeben und jeden Tag eines davon zurück bekommen können. In diesem Experiment lernen sie den wahren Wert von Glück kennen. Hier geht es um Besitzlosigkeit, Konsumverweigerung und die Frage, was der Mensch für sein Glück braucht. Die zwei Typen hätten Hans im Glück bestimmt in ihre WG aufgenommen.

Unser Hans jedoch stürzt sich nicht völlig ins materielle Nichts – er kehrt heim an den warmen Ofen seiner Mutter. Diese stelle ich mir als gutmütiges Weiblein vor, die halb blind bei Kerzenschein bis tief in die Nacht Handarbeiten macht, um ihren trotteligen Sohnemann zu ernähren.

„Hans im Glück“ lässt uns nachdenken darüber, was du und ich brauchen, um glücklich zu sein. Welche materiellen und immateriellen Dinge sind es? Im Fall von Hans scheint es seine optimistische Weltsicht zu sein, sein Leben im Augenblick und sein Vertrauen in ein liebevolles soziales Umfeld. Er ist frei von Erwartungsdruck. Hans‘ Glück entspringt seiner inneren Einstellung.

Wie ihr euch denken könnt, juckt es mir in den Fingern, zu diesem Thema meine eigene Märchen-Interpretation zu schreiben.

Holla – da ist mein Märchen schon fertig: Sieben Seiten gefüllt mit Buchstaben. Puh, dauert das Korrigieren aber lang. Ein komischer Vogel besucht mich und bietet mir an, meinen Text gegen einen Tweet zu tauschen. Super: 140 Zeichen leichtes Leseglück. Dann knurrt mein Magen. Kollege Knorr kommt des Wegs und bietet mir an, den Tweet gegen eine Buchstabensuppe zu tauschen. Ein Handel ganz nach meinem Geschmack: In meiner Suppe schwimmen Dutzende von Buchstaben, ich werde satt davon. Wie schön, dass ich mein Märchen jetzt gestärkt noch mal schreiben darf!

Die Buchstaben bleiben dann hoffentlich in meinem Besitz, so dass ihr sie nächste Woche hier lesen könnt.

Die Erfolgsgeschichte der Täuschung – gut gelogen ist halb gewonnen

„Lügen haben kurze Beine!“ Nicht im Märchen! Dort stecken sie in Stiefeln und bringen den Märchenhelden ganz nach oben. So in »Der gestiefelten Kater«. Dieser gut gekleidete Kater ist ein wahres Marketinggenie und sollte jedem Salesman des 21. Jahrhunderts Modell stehen. Im Handumdrehen bzw. Zungeumdrehen schafft der pelzige Stiefelträger es, seinen Herrn vom armen Schlucker zum Großgrundbesitzer, Schlossherrn und Prinzgemahl zu erheben.

Zur Erinnerung: Es war einmal ein Müller, der hatte drei Söhne. Als dieser stirbt, teilen sich die drei Söhne die Erbschaft: der älteste bekommt die Mühle, der zweite den Esel, der dritte den Kater. Der Kater ist gut im Mäuse fangen, aber damit kann der jüngste Sohn wenig anfangen. Er überlegt, sich vom Fell des Katers ein Paar Pelzhandschuhe machen zu lassen. Der Kater ist klug und hält ein Plädoyer um sein Leben:

»Hör, du brauchst mich nicht zu töten, um ein Paar schlechte Handschuhe aus meinem Pelz zu kriegen; laß mir nur ein Paar Stiefel machen, daß ich ausgehen und mich unter den Leuten sehen lassen kann, dann soll dir bald geholfen sein.«

Der Müllerssohn gibt dem Vorschlag aus einem Impuls heraus nach und bald schon marschiert der Kater aufrecht und gestiefelt in die Welt, um für seinen Herrn Werbung zu machen.

Er kümmert sich bestens um die Public Relations, indem er dem amtierenden König Rebhühner als Geschenk seines Herrn bringt, den er als „Graf“ betitelt. Zum Dank sendet der König dem falschen Grafen säckeweise Gold. Aber Zahlungsfähigkeit alleine ist für den Müllersgrafen nur der erste Schritt seines Aufstiegs. Der clevere Kater weiß: Wer ein großer Mann werden will, braucht Statussymbole und eine gesellschaftliche Stellung. „New Money“ hat sich schon immer mittels Ehe in den Hochadel eingekauft.

Wie in einer Reality Soap (selbstverständlich mit Drehbuch) lässt der Miezemeister der Illusion den Müllerssohn nackt in einem See baden und versteckt dessen armseligen Kleider. Als der König in seiner Kutsche vorbei gefahren kommt, erzählt der Kater ihm eine Räuberpistole und der König glaubt alles. Er kleidet den ausgeraubten Grafen (den er als Spender der Rebhühner schätzt) in prächtige Gewänder und lässt ihn in sein Luxusgefährt einsteigen, wo just auch die Prinzessin sitzt.

Jetzt zieht der gestiefelte Kater alle Register einer guten Imagekampagne auf.

So wie Donald Trump sich dreist in die Liste der 400 Superreichen des US-Magazins „Forbes“ geschummelt hat (indem er das Vermögen seines Vaters als sein eigenes deklariert hat), trägt der Kater die Täuschung wie ein Banner vor sich und seinem Herrn her: Er beeinflusst die öffentliche Meinung mittels einer Flüsterkampagne – in Zeiten von Social Media würden seine „alternativen Fakten“ und „fake news“ von unzähligen Followern geteilt werden: Der PR-Kater setzt die Lüge in die Welt, die Wiesen, der Wald, das Schloss (die in Wahrheit alle einem Zauberer gehören) stünden im Eigentum seines Grafen. Die leichtgläubigen Leute geben diese Nachricht ungefiltert an den König weiter, der keine Zweifel an der Echtheit dieser Aussagen hegt.

Mit List bringt der Kater den Zauberer um (als jener sich in eine Maus verwandelt, kann der Kater nochmals auf seine Kernkompetenz zurück greifen) und enteignet ihn somit seiner Habe.

Der Müllerssohn tritt nun als Graf in das unrechtmäßig ergaunerte Gut ein und ist prompt der perfekte Heiratskandidat für die Königstochter. Bald schon ist er selbst König und der gestiefelte Kater wird sein erster Minister.

Was für eine Erfolgsgeschichte! Und alles dank Lüge (der PR-Kater würde es „List“ nennen) und Täuschung („aktive Imagepflege“).

In einigen Märchen finden sich noch weitere Lehrstücke, wie unehrliches Verhalten belohnt wird. So zum Beispiel in »Das tapfere Schneiderlein«. Der Schneider erschlägt sieben Fliegen mit einem handelsüblichen Tuchlappen. Diese Alltagstat bauscht er zur Heldentat auf, indem er sich einen Gürtel (man denke an asiatischen Kampfsport) anlegt, den er mit der Aufschrift „Sieben auf einen Streich“ bestickt.

Diese Übertreibung im Dienste der Selbstvermarktung wird fortan sein Wahlspruch. Im Verlauf der Geschichte erliegt so mancher Gegner dieser vorgetäuschten Heldentat und prüft sie nicht auf ihre Substanz. Stiftung Tapferkeitstest gab es offenbar noch nicht.

Auch die praktische Täuschung beherrscht das „tapfere“ Schneiderlein bestens: Er zerquetscht Käse in seiner Hand, den er für einen Stein ausgibt und er besiegt zwei Riesen, indem er sie gegeneinander aufbringt und sich gegenseitig zerfleischen lässt (so mancher Politiker mag diese Taktik bewundern).

Inspiriert von diesen Lehren gibt es nun mein neustes Märchen:

Der geföhnte Pudel oder Sieben Lügen auf einen Streich

Darin werdet ihr sehen, wie lange die  Lügenbeine tragen und was den Protz zum großen Mann werden lässt…

Ein gewisser Kater schaltet sich ein und übernimmt die Ankündigung:

OUT NOW:  Die sensationelle Neuerscheinung steigt gleich in die TOP 7 der All-time-Märchen-Favoriten ein.

(Räusper) Leider zurzeit nicht lieferbar, da noch nicht geschrieben. Vorbestellung jederzeit möglich.

Coming soon…

Out NOW (really – as of Oct. 7, 2018): 

http://www.ulrikearabella.de/2018/10/07/der-gefoehnte-pudel-oder-mit-siebenmeilenstiefeln-zur-wahren-groesse/

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