Ich lerne London aus einem neuen Blickwinkel kennen – nämlich aus den Augen eines echten Graffiti-Sprayers – er selbst versteht sich als Street Artist. Ich habe mich im Internet für eine Walking Tour angemeldet. Am Freitag um 11 Uhr erwartet Gregory Simpson mich und 30 andere Interessierte vor einem Coffeeshop im Londoner Viertel Shoreditch (East End). Gregory trägt auch bei bedecktem Wetter eine Sonnenbrille, denn seine Straßenidentität als Sprayer will er geheim halten. Ja, wir werden auch seine Werke auf der Tour sehen, aber er verrät uns nicht, welche es sind und seinen Straßennamen verrät er uns natürlich auch nicht. Stolz erzählt er, wie hoch die Strafen in Großbritannien für Sprayer sind. Ja, einige seiner Kollegen sind schon im Gefängnis gelandet.
Gregory ist Mitte 30, trägt Jogginghose und Sneakers und natürlich seine Sonnenbrille. Er ist ein Lebenskünstler, nachts sprüht er seine Kunst an die Wände der Stadt, tagsüber führt er die Touristen an die Orte seines Schaffens – von den Spenden lebt er (am Ende der Tour sollen wir ihm geben, was seine Führung uns wert war). Mit langen Schritten eilt er uns voraus und führt uns kreuz und quer durch die Gassen des Arbeiterviertels Shoreditch, wo kleine Backsteinhäuser dicht nebeneinander gedrängt stehen, es gibt unvermutete Innenhöfe, dann wieder halb verlassene Fabrikbauten – alle diese Steinwände sind die Leinwand für die Straßenkünstler mit ihren Spraydosen.
Respekt und Verachtung sind die Koordinaten, zwischen denen sich jeder Sprayer der Szene hier bewegt. Gregorys Verachtung trifft auch eine konkurrierende Walking Tour mit französischen Schülern, die nicht von einem Sprayer aus dem Viertel geführt wird. Das wird nicht gerne gesehen. Das Geld der Touristen soll zurück in die Szene fließen.
Gregory spricht in der „wir“-Form, er ist Teil der Szene, hat sich den Respekt der Gemeinschaft erworben. Wenn man am Anfang seiner Sprayer-Karriere steht, muss man seine „dedication“ beweisen, indem man seinen „tag“ (Signatur/Logo) so oft es geht in der ganzen Stadt auf die Mauern schreibt („go all city“). Man muss viel Zeit und Energie einsetzen, sich Wind und Wetter aussetzen, den Gefahren und der (Straf-) Verfolgung trotzen. Dabei gilt es, seinen eigenen Stil zu entwickeln. Übrigens gibt es nur wenige Frauen in der Sprayer-Szene – die nächtlichen Streifzüge und das Risiko ziehe einfach überwiegend Männer in ihren Bann, meint Gregory.
Gregory führt uns zu wandfüllenden Werken („Mural“) – er weiß, wie lange der Künstler gebraucht hat, um sein Bild an die Wand zu bringen (je schneller, umso beeindruckender). Wer zu Hause alles vorbereitet und draußen nur noch anklebt, verdient weniger Respekt, als der, der vor Ort sein Werk kreiert und seine Technik beim Aufbringen der Farbe bei Wind und auf Leitern hangelnd beherrscht. Gregory weist uns auf einige hässliche und technisch einfache Bemalungen hin, die nur aufgrund ihrer Lage („heavens spot“) hoch oben an Gebäuden dem Sprayer Respekt einbringen (weil risikoreich).
Manche der Street Artists sind so berühmt, dass sie ganz konventionell zu Ausstellungen in Galerien eingeladen (und bezahlt) werden. Er zeigt uns zwei Wände mit (frischen) Bemalungen von etablierten Straßenkünstlern, die hiermit ihre aktuellen Ausstellungen bewerben. Gregory hat Hochachtung vor diesem „Helium“-Künstler, der sein Werk unter Zeitdruck in nur zwei Tagen auf die Wand gebracht hat.
Mancher Sprayer holt sich die Erlaubnis der Hausbesitzer ein, die meisten sprühen jedoch illegal.
Begehrt und doch verachtet sind die Auftragsarbeiten. Gerade gestern fertig gestellt ist eine Werbung für die Netflix-Dokumentation „Our Planet“. Hier haben drei Street Artists zusammen gewirkt und ihr Werk signiert. Einer der Künstler steht in der Tür vom Pub gegenüber und Gregory begrüßt ihn mit Handschlag.
Später sehen wir eine weitere Auftragsarbeit (für Gucci mit Andy-Warhol-Motiv), die Künstler stehen gerade auf dem Gerüst und legen letzte Hand an – ob sie ihre Wandbemalung signieren werden? Wer sich vom Kommerz einfangen lässt, ist ein „sellout“, er erntet Spott und Verachtung in der Community. Deshalb erledigten einige der Sprayer ihre Auftragsarbeiten maskiert und ohne Signatur, um sich die Schande zu ersparen.
Die Community hat das Territorium fest im Griff. Hinterlassen Sprayer von außerhalb ihre „tags“ oder Bilder an den Wänden, werden sie in der nächsten Nacht sofort wieder übersprüht. Nur, wer sich hier den Respekt durch seine unermüdliche Arbeit erworben hat, wird geduldet. Wenn man über das Bild eines andere drüber sprayen will („crossen“), gehört es zum guten Stil, das Bild des anderen komplett auszulöschen (mit Grundierung übermalen, bevor man selbst etwas Neues anbringt). Wenn einer den anderen übermalt, muss das neue Werk besser sein, als das Übermalte. Sonst übersteht es nicht die nächste Nacht.
Wer entscheidet über die Qualität? Anders, als in der konventionellen Kunstwelt, entscheiden hier nicht Galeristen, Kritiker und Käufer über den (künstlerischen und materiellen) Wert eines Werks. Es ist alleine die Eigendynamik der Sprayer-Gemeinschaft, die ihren ungeschriebenen Gesetzen folgt. Es gibt Hierarchien und Meinungseminenzen. Freiheit ist eine Illusion. Der Sprayer lehnt sich gegen das Establishment auf, muss sich aber gleichzeitig den Regeln der Szene unterwerfen. Sie bilden eine sehr ausgereifte Subkultur, die sich am Puls der Zeit bewegt und in der ihre Mitglieder sich ständig im Kampf („battle“) miteinander befinden. Sie kommen mir wie Street Gangs vor, die ihre Revierkämpfe mit Spraydosen anstelle von Messern austragen.
Natürlich kommt Gregory auch auf Banksy zu sprechen – der wohl bekannteste aller Street Artists. Auf unserer Tour sehen wir eine pink bemalte Schrottkarre auf einem Dach und eine wiederhergestellte Wandbemalung hinter Glas (wie im Museum) an der Fassade eines Cafés. Banksy sei nur ein mittelmäßiger Künstler (so die Bewertung von Gregory), seine Popularität begründe sich aus seiner guten Auswahl der Orte für seine Werke und einer cleveren Selbstvermarktung (wie jüngst der medienwirksame Publicity-Stunt des geschredderten „girl with balloon“ während der Versteigerung bei Sotherbys).
Nach zwei Stunden Rundgang verabschiedet sich unser Guide (vorher füllt sich seine Hand noch mit 10-Pfund-Noten). Wieder zuhause bekomme ich eine E-Mail von Gregory, wo er (ganz geschäftstüchtig) um eine gute Online-Bewertung seiner Tour bittet, seine facebook und instagram (@Aciz82)-Seiten nennt und sogar vier Fotos seiner Streetart beifügt – ganz so anonym möchte er wohl doch nicht bleiben. Ein Künstler braucht sein Publikum, um Anerkennung zu erfahren.
Meine Eindrücke aus der Sprayer-Szene habe ich in dieses Gedicht gesprüht:
street respect
meine sneakers auf dem asphalt
lautlos
zwischen den leuchtkegeln der laternen
verborgen
unter meiner kapuze
helle nase, dunkle augen
im rucksack klappern meine cans
molotow, kobra und montana
mein finger am sprühknopf
skinny, medium und fat
ich beherrsche jede technik
aus dem handgelenk gegen den wind
klopf klopf am nachmittag an einer haustür
„darf ich auf ihre hauswand sprayen?“
„nein“
„kein problem“
ich komme wieder in der nacht
auf sneakers unter meiner kapuze
die wand ist meine neue welt
ich bin ihr kapuzen-kolumbus
mein „tag“ ist meine fahne
ich schreibe meine markierung
an die mauern meines viertels
an die mauern deines viertels
an die mauern aller viertel dieser stadt
ich gehe „all city“
tag tag – all night – all city
schreibe mich ein in den kreis der brüder
dreißig tags in einer nacht
seht meinen einsatz, seht meine hingabe
mein tag ist meine währung
bezahle meinen eintritt
in den außenring der ringe
ich bombe die fassaden
werde gebustet von den bullen
bald kennen meine brüder meinen tag
sie kennen meine schrift, sogar mein gesicht
graffiti war gestern, streetart ist heute
ich finde meinen style
der fuchs ist mein character
drei nächte für mein erstes mural
ein echter burner, finden meine brüder
hänge kopfüber vom hausdach
mein leben in der hand eines freundes
sprühe mich in den heavens spot
seht meinen mut, gebt mir euren respekt
shoreditch hat mich aufgenommen
freestyle bringt mir fame
heute crosse ich über ein mural von tizer
tizer überspüht morgen mein werk
der battle ums territorium ist on
mutiny sprayed für netflix
er ist ein sellout – shame on you!
ich spraye ohne bezahlung
respekt ist meine belohnung
tag tag – all night – all city
Liebe Ulrike,
wow, da sind wirklich geniale Bilder dabei, meinen Respekt für die Wandbilder, die so entstehen.
Vor meinem SCHREIBRAUM habe ich auch noch eine tolle freie hässliche Wand … 😉
Liebe Grüße,
Mia.
Vielen Dank liebe Mia! Stimmt, so manche graue Wand / trostloses Viertel kann durch kunstvolle Graffiti-Gestaltung aufgewertet werden. In der Street Art gibt es auch die reinen Wortbilder. Vielleicht kann aus deinem Schreibraum ja mal eine poetische Textzeile auf die Wand gegenüber wandern. Max und Mia nachts in Kapuze kann ich mir gut beim Sprayen vorstellen… 🙂
Hi Ulrike,
da ich ja bei der Walking Tour mitgegangen bin, ist es ein besonderes Vergnügen, hier deine pointierte Aufbereitung und Analyse des Gesehenen und Gehörten zu lesen.
Ich finde die Grafitti- und Street Art-Werke als Kunstform sehr interessant und oftmals hochwertig. Dabei werden gerade die verwahrlosten Stadtviertel starkt aufgewertet.
Umso spannender ist es, einen Einblick „hinter die Kulissen“ der Sprayer zu gewinnen – das ist ja eine vielschichtige Angelegenheit mit dem Kampf um Respekt innerhalb der Community, um die Territorien und um die Anerkennung in der Gesellschaft.
Die Persönlichkeit von Gregory hast du sehr treffend und lebendig eingefangen. Deine tolerante und humorvolle Sichtweise auf andere – vielleicht auch etwas seltsame – Menschen ist spürbar.
Dein Gedicht mag ich sehr! Das Feeling des nachtaktiven Sprayers kommt toll rüber.
Vielen Dank für liebe Dorit! 🙂 Seit unserer Tour gehe ich mit geschärftem Blick durch Berlin – hier sind viele Wände mit Graffiti übersäht, aber in ganz anderem Stil, als in London. Werde meine Augen weiterhin offen halten, vielleicht mache ich hier auch mal eine geführte Tour mit (hoffentlich mit einem „Insider“).
Liebe Ulrike,
ich war gerade in Lissabon. Dort gibt es sehr viel Graffiti an den zum Teil verfallenden Häusern und auch an den allgegenwärtigen Straßenbahnen. Wenn ich Deinen Post vorher gelesen hätte, wäre ich sicher mit viel offeneren Augen an ihnen vorbeigegangen. Ich habe mir nie Gedanken darüber gemacht, dass dies eine ganz eigene Welt mit eigenen Regeln ist. Die Fotos zeigen beeindruckende Kunstwerke. Danke für das Augen öffnen.
Liebe Grüße
Anne
Vielen Dank liebe Anne! 🙂 Jede Stadt scheint seine eigenen Stilrichtungen zu haben – in Berlin sehen die Graffitis ganz anders aus, als in London (auch wenn einige Künstler ja international agieren – „Fanacapan“ mit den Heliumbuchstaben hat kürzlich in B-Friedrichshain ein Auftragsbild auf eine Wand gemalt, das gehe ich demnächst mal besichtigen). Wie der Street-Art-Stil in Lissabon aussieht, würde mich auch interessieren…