Sommerpanorama auf O

Die Sommersonne hat meine Vokale eingeschmolzen zu einem endlosen „o“. Domot losst soch ooch got dochton…

Sommerpanorama auf O

Oh Sommer, Sonne, Sohlenglühen

ob schattenlose Tropen oder Großstadtpflaster

gehorchen offenkundig vor Hitzedominanz

Orchideen oder Osterglocken

wogen farbenfroh bevor trockener

Torf sinnloses Pflanzenopfer fordert

Wo Fußsohlen rote Flipflops lose kosen

wo Anton ohne Socken ohne Sorgen

salopp Cola-Limo-Dosen poppt

wo Ottilie rigoros große Melonen rollt

wo Leopold Zitronen konsumiert

schmollt Olga vor Wacholderschorle

Ottos Ohren horchen andachtsvoll

oktavenreichem Orchestersolo voller Bravo

Onkel Moritz monologisiert orientierungslos

ohne Boot vor kolossalem Ozean

tobt bodenlose Wellenwoge

wo Albatrosse unverfroren flogen

Entflohen vor Sonnenstichkoma

von wolkenlosem Könighimmelblau

folgen Kosmonauten, Hottentotten, Matadore

tosenden Kommandos vor Honolulu

stoppen ohne Seenot atemlos vor Loreley

prosten sonderbaren Wodkatrunk

Wo Poeten methodisch Vokale stornieren

dort holen Sportler hochspielend Pokale

wo mobile Bustouristen on-off-hoppen

offenbaren Omas Locken vor Frisörsalon

wo hüllenlose Badekörper voller Wonne tollen

toppt Sonnenbrandtattoo große Mode

Wetterorakel prophezeit Hoch von Morgen

so wollen Sonnenfetischisten hoffen

Windstoß vor Orkan überrollt

moderne Großstadtschluchten

doch Donnertrommeln locken

Mondenschein und Sternentrost

Wenn ihr Lust habt, könnt ihr gerne im Kommentar eigene o-vokale Verse hinzufügen – gerne auch aus dem obigen Wörterfundus. Die „contrainte“ (selbstbestimmte Sprachregel) lautet: In jedem Wort muss mindestens ein „o“ vorkommen. Freue mich auf noch mehr Sooooooooommerlyrik.

Meine Weggefährtin Momo führt mich vor die Kamera der „Kulturzeit“

Wenn mir jemand gesagt hätte, dass ich mal die Protagonistin eines Beitrags in meiner Lieblingssendung „Kulturzeit“ auf 3sat werden würde, hätte ich das für reine Fantasie gehalten. Aber vor ein paar Tagen ist dieser unwirkliche Fall wirklich eingetreten.

Ende März 2019 sehe ich auf facebook einen Aufruf der „Kulturzeit„, dass die Moderatorin Vivian Perkovic für die Serie „Was liest du?“ demnächst nach Berlin kommen wird. Wenn man ihr erzählen möchte, welches Buch einen so richtig begeistert, dann soll man sich bewerben. Ich schreibe sofort eine E-Mail an die Redaktion und stelle mein langjähriges Lieblingsbuch „Momo“ von Michael Ende vor.

Einen Monat später bekomme ich eine E-Mail von der Regisseurin Viola Löffler, in der sie sich für mein Interesse an der Mitwirkung bedankt und um Rückruf bittet, damit wir die Details besprechen könnten. Ich denke, es geht schon um die Details der Dreharbeiten, aber das Telefonat verwandelt sich unversehens in ein Interview zu den Inhalten von Momo – ich soll spontan erzählen, was mich an Momo so begeistert. Da sprudele ich nur so los. An den Fragen merke ich, dass es in dem Beitrag nicht um eine Literaturanalyse gehen soll, sondern meine persönliche Beziehung zu dem Buch herausgestellt werden soll und wie die Inhalte in meinem Leben wirken. Die Regisseurin kommt zu dem Ergebnis, dass ich wirklich ein Super-Fan des Buches bin. In der Redaktionssitzung des Teams Anfang Mai wird sie meine Momo-Beziehung vorstellen, dann werden sie sich für 3 Bücher und Protagonisten für Berlin entscheiden.

Als dann am 14. Mai der Anruf kommt, dass ich für „Was liest du?“ ausgewählt bin, mache ich Freudensprünge. Das ist endlich mal ein Erfolgserlebnis im Gegensatz zu den vielen Absagen, die ich für die Einsendungen meiner Texte zu Wettbewerben und an Literaturzeitschriften wegstecken muss. Wie schön, dass meine Literaturbegeisterung hier auf Interesse stößt, auch wenn ich nur Rezipientin und nicht Schreiberin bin.

Die Regisseurin schlägt als Drehort ein Yogastudio vor (passend zum Thema der inneren Ruhe), ich nenne ihr den Namen des Studios bei mir in der Nachbarschaft, wo ich einige Schnupperkurse besucht habe (sie will dort anfragen). Sie sendet mir Links zu den Beiträge aus Leipzig und Bielefeld, die ich mir sofort in der Mediathek der Kulturzeit anschaue (sehr sehenswert!). Ein Beitrag dauert 6 Minuten, für jede Person stehen 2 Minuten zur Verfügung. Ich werde also einige Zeilen aus Momo vorlesen müssen (ich denke sofort an die weisen Sätze von Beppo Straßenkehrer) und dann folgt das Interview der Moderatorin (die übrigens meine Favoritin unter den 4 Kulturzeit-Moderator*innen ist – freue mich sehr darauf, sie kennenzulernen).

Dann markierte ich mir Mittwoch, den 29. und Donnerstag, 30. Mai im Kalender und freue mich auf eine ganz neue Erfahrung.

Am Montag der Drehwoche telefoniere ich nochmal mit Viola und wir verabreden die Zeiten für den Dreh. Mit dem Yogastudio Bamboo hat es geklappt.

Mittwoch, 1. Drehtag:

Am Abend zuvor hat mich mein Momo-Hörbuch eingestimmt (das ich seit ca. 6 Jahren regelmäßig mit großer Aufmerksamkeit höre und fast schon mitsprechen könnte – aber die Geschichte, Figuren und Sprache sind so wunderbar facettenreich, dass ich mich nicht daran überhöre).

Gut ausgeschlafen mache ich mich zu Fuß auf den Weg ins „Bamboo“ einige Straßen entfernt von mir. Meine Nervosität hält sich einigermaßen in Grenzen. Ich habe die letzten Tage im Kopf durchgespielt, was ich alles über Momo erzählen könnte. Für den guten optischen Auftritt habe ich auch gesorgt: War vor ein paar Tagen beim Frisör und habe eine neue Bluse an. Make-up habe ich keines aufgelegt (mache ich sonst auch nie), nur etwas Lippenstift. Ich gehe davon aus, dass ich vor Ort von einer Maskenbildnerin geschminkt werde. Das kenne ich von einem Fotoshooting, das ich mal beruflich vor vielen Jahren hatte, außerdem sind die Leute im Fernsehen doch immer ganz dick geschminkt. Eine Fehleinschätzung, wie sich herausstellen wird.

Pünktlich um 12:30 Uhr steige ich die schmale Holztreppe der ehemaligen Molkerei in einem Hinterhof hoch ins Yogastudio. Die Inhaberin Birge begrüßt mich freundlich (ich kenne sie vom Hatha-Yoga-Soft-Kurs), das Fernsehteam ist noch nicht da, sie rufen an und sagen, dass sie ein bisschen später kommen. Birge öffnet an diesem Nachmittag extra für die Dreharbeiten die Türen und stellt ihre Räume kostenlos zur Verfügung. Ihrem Wunsch, den Namen des Yogastudios zu nennen, kann nicht entsprochen werden, da 3sat als öffentlich-rechtlicher Sender keine Werbung machen darf. Sie nutzt die Zeit zum Putzen und Aufräumen und plaudert ein wenig mit mir. Sie erzählt, dass sie auch als Schauspielerin arbeitet, sie spielt im Schlosstheater Steglitz in Boulevardstücken. Daher kommt vielleicht ihre Aufgeschlossenheit und Großzügigkeit gegenüber den Kulturschaffenden vom Fernsehen.

Um Viertel vor Eins trifft das Drehteam ein: Die Regisseurin Viola begrüßt mich gutgelaunt (wir verständigen uns bald auf’s „Du“, sind ungefähr im gleichen Alter), der Kameramann Andy und Tontechniker Ben geben mir höflich die Hand, während sie taschenweise Ausrüstung hoch schleppen.

Dann steht mir die Moderatorin Vivian gegenüber, sie kommt mir aus den Kulturzeit-Sendungen vertraut vor, ist aber viel zierlicher, als ich vermutet hätte. Auch sie begrüßt mich freundlich und hat eine sympathisch-natürliche Art. Sie erzählt, dass sie gerade vom Treptower Park kommen. Dort waren sie im Tretboot auf dem Wasser (im vorgestellten Roman geht es ums Wasser) und sind alle ein bisschen durchgefröstelt.

Tontechniker Ben und Regisseurin Viola

Ich sitze auf dem großen Sofa im Foyer, wo auch die Yoga-Schauspielerin am Tresen steht und Tee für uns kocht. Das Produktionsteam erkundet die Räumlichkeiten. Im großen Yoga-Saal breitet Viola bunte Matten am Boden aus und macht mit Vivian Sitzprobe im Lotussitz und in Strümpfen – ach ja, wir sollten alle unsere Schuhe unten an der Treppe ausziehen – ich werfe einen skeptischen Blick auf meine weißen Sportsöckchen unter dunkelblauer Jeans (hoffentlich kommen die nicht ins Bild). Der Kammermann baut sein Stativ und eine Beleuchtungsanlage vor ihnen auf, sie sind aber mit den Lichtverhältnissen und dem eintönigen Hintergrund nicht zufrieden. Zwischenzeitlich verkabelt mich Ben (hinten im Hosenbund ein Sender, vorne am Kragen wird ein kleines Mikro angeklebt). Ich warte – und warte noch ein bisschen mehr. Birge zitiert den Schauspieler Anthony Hopkins, der sagte, dass er seine Gage fürs Warten bekomme.

Plötzlich soll es losgehen. Vivian zieht ihren Lippenstift nach (sie trägt Make-up im Gesicht, aber dezent, ihre Frisur mit Zopf und Ponyfransen ist alltagstauglich, auch die Kleidung eher leger mit Bluse und roter Hose). Ich zücke mein Handspiegelchen und prüfe nach, ob mir nicht die Haare zu Berge stehen (auf maskenbildnerische Gestaltung muss ich wohl verzichten, aber Kameramann Andy sagt etwas von Weichzeichner, so dass ich auf digitale Verschönerung hoffen darf) und dann soll ich in den Umkleideraum kommen – dort haben sie (ohne, dass ich es mitbekommen habe) im kleinen Vorflur zwei Sessel neben ein Tischchen mit hölzerner Buddhafigur gerückt. Ich soll mit meiner gelben Bluse auf den dunkelbraunen Sessel für guten Farbkontrast. Vivian nimmt neben mir Platz (im westlichen Sitzmodus ziehen wir auch unsere Schuhe wieder an, auch wenn man es wohl nicht sieht). Wir ruckeln unsere Stühle dichter zusammen. Zwei Meter entfernt steht die Kamera auf einem Stativ, das armlange Raum-Mikro (das zusätzlich zu den beiden Personen-Mikros zum Einsatz kommt) wird von Ben mit einer Stange über uns gehalten. Soll jetzt eine Probe stattfinden?

Vivian verwickelt mich in ein Gespräch (fragt nach meinem Beruf und wo ich herkomme). Ich werde ein bisschen lockerer (halte mich aber mit beiden Händen am Momo-Buch auf meinem Schoß fest, dabei soll ich im Interview gar nicht daraus vorlesen). Die Regisseurin sitzt vor uns auf dem Boden und gibt das Startsignal.

Vivian sagt die erste Klappe an und schon sind wir mitten im Interview. Ich konzentriere mich ganz auf meine Gesprächspartnerin und bekomme von Kamera und Mikro kaum etwas mit.

Vivian stellt mir einige Fragen (die sie auf ihrem Smartphone vorbereitet hat), aber sie nimmt sehr spontan auf, was ich ihr gerade erst gesagt habe (dass ich früher als Juristin gearbeitet habe – „Sie selbst haben mal im grauen Anzug gesteckt“ – wie die Grauen Herren in Momo von der Zeit getrieben) – man merkt, dass sie Erfahrung in live-Interviews hat.

Ich werde von ihren Fragen überrascht (z.B. zur Kapitalismuskritik von Michael Ende), finde aber spontan Antworten darauf (nur auf die Frage, wem ich „Momo“ denn schon geschenkt habe, druckse ich herum, weil ich das Buch noch nie verschenkt habe). Es entwickelt sich ein lebendiges Gespräch (ich spreche von Beppo und seiner Philosophie des Straßenkehrens: ein Atemzug, ein Besenstrich – wende ich auf mein Leben an bei Leistungsdruck und Gefühl der Überforderung; mit Gigi dem Geschichtenerzähler habe ich zu meiner verschütteten Kreativität und der Lust zum Schreiben zurück gefunden).

Nach ca. 10 Minuten haben wir einen runden Gesprächsbogen geschlagen. Ich finde ganz salbungsvolle Abschlussworte, was ich aus Momo gelernt habe (achtsam und in Verbindung mit sich selbst sein, dann ist es auch möglich, sich anderen Menschen aufmerksam zuzuwenden und ihnen gut zuzuhören).

Regisseurin Viola ist sehr zufrieden. Allerdings hat sie sich notiert, dass bei einer bestimmten Frage draußen eine S-Bahn vorbei gefahren ist (was der Tontechniker bestätigt, bildtechnisch hat uns einmal eine Fliege gestört). Das müssen wir wiederholen.

Vivian fragt mich nochmal: „Momo führt eine Revolution an. Auch Sie haben in Ihrem Leben eine regelrechte Revolution erlebt“ – und ich erzähle von meiner beruflichen Umorientierung und Neustart in Berlin) – allerdings komme ich bei der Wiederholung total ins Stocken, suche nach den Wörtern von vorhin, die mir nicht mehr einfallen.

„Das habe ich vorhin irgendwie besser gesagt“, murmele ich.

„Nicht so schlimm. Wir machen das nochmal. Unterhalte dich einfach mit mir.“

Also stellt mir Vivian die Frage ein drittes Mal und ich versuche eine frische Antwort mit neuen Worten.

Nach insgesamt ca. 15 Minuten ist alles im Kasten. Die Regisseurin sagt, dass sie total gefesselt zugehört hat und am liebsten eine längere Version des Interviews für eine Online-Version machen würde (dazu kommt es vermutlich nicht, weil zu aufwendig). Ich freue mich sehr über das enthusiastische Feedback. Bin echt gespannt, wie sie das Interview letztendlich schneiden wird (bei 1 Minute Redezeit muss leider vieles wegfallen).

Jetzt soll ich noch einige Yoga-Übungen auf den Matten machen. Im großen Saal vollführe ich mein Mini-Repertoire an Übungen (aus dem Sonnengruß – keine Ahnung, wie die Figuren alle heißen), der Kameramann macht Großaufnahmen und Slow-Motions von meinen Bewegungen (oh Schreck, als Yoga-Vorturnerin mache ich überhaupt keine gute Figur, das darf gerne der Schere zum Opfer fallen). Vivian bereitet sich schon mit Smartphone auf Schiller vor, gleich treffen sie am Gendarmenmarkt im Theater einen alten Schauspieler – ihre dritte und letzte Station heute (ganz schön intensiver Tag für das Team).

Draußen drehen sie noch einige Bilder, wie die Moderatorin ins Haus geht, ihre Schuhe auszieht und die Treppe hoch geht.

Gegen 15:30 Uhr verabschieden wir uns. Ich mache mit Vivian noch ein Erinnerungsfoto (bei den morgigen Dreharbeiten wird sie nicht mehr dabei sein).

Donnerstag, 2. Drehtag:

Heute wollen wir uns schon um 12 Uhr treffen. Diesmal bereite ich mich auf die Großaufnahme mit ein wenig Concealer unter den Augen, Wimperntusche und Lidstrich vor. Für die optische Kontinuität ziehe ich dieselbe Bluse und Hose von gestern an.

Gerade gehe ich im Sonnenschein über die Ampel, als es hinter mir hupt und jemand meinen Namen ruft. Ich springe ins weiße Auto aus Mainz und fahre die letzten 500 Meter mit meinem TV-Team zum Yogastudio. Heute morgen haben sie schon am Müggelsee gedreht (im Kamerastativ knirscht der Sand). Die Regisseurin hat den Schlüssel für die Räume bekommen und wir haben den Drehort für uns.

Heute bin ich entspannter und bekomme auch mehr von Andy und Ben und ihrer engagierten Arbeit mit. Auf meinen Wunsch drehen wir zuerst mein Vorlesen. Die Textstelle, die ich mir ausgesucht habe, muss ich auf wenige Sätze kürzen (auf max. 15 Sekunden).

Kameramann Andy (Anfang 30, lange schwarze Haare im Zopf) ist sehr wählerisch, was den Bildhintergrund angeht, er achtet auf Farben, Strukturen und das Licht. Er sucht das grüne Holztor auf roter Backsteinwand draußen im Innenhof aus. Einige Vögel singen und die S-Bahn rauscht regelmäßig vorbei, aber für den Ton finden wir einige Moment der Stille. Ben verkabelt mich wieder. Er ist ein stiller Typ mit Mütze, trägt gerne Grün – und kennt sich auch mit Momo und Michael Ende aus.

Ich stehe mit dem Buch in der Hand vor dem Tor, die Kamera ist auf mich gerichtet, Andy und Viola probieren den Faltreflektor (Alu auf der einen Seite, weißer Stoff auf der anderen) in unterschiedlichen Distanzen aus – das Sonnenlicht wird intensiv auf mein Gesicht geworfen, je nach Lichtstärke muss auch der Filter der Linse verändert werden – das Ganze dauert ein bisschen, bis Andy zufrieden ist.

Dann soll ich 10 Sekunden direkt in die Kamera blicken, meine Sätze vorlesen, dabei immer wieder aufschauen (es dem Zuschauer erzählen), danach wieder 10 Sekunden den Blick in die Kamera halten.

Ich starre ins Objektiv, bekomme Blinzelreflex, dann lese ich los:

„Man darf nie an die ganze Straße auf einmal denken, verstehst Du? Man muss nur an den nächsten Schritt denken, den nächsten Atemzug, den nächsten Besenstrich. Und immer wieder nur den nächsten. Dann macht es Freude; das ist wichtig.“

Kameramann Andy hält in 15 Meter Entfernung den Lichtreflektor in die Höhe, der vom milden Wind wie ein Segel erfasst wird und gar nicht so leicht still zu halten ist. Ben hält das riesige Mikro mit dem grauen Fell über mich. Ohne es zu merken, habe ich beim Lesen instinktiv zur Regisseurin geschaut, die neben der Kamera steht. Ich soll nur in die Kamera blicken. Ich wiederhole das Vorlesen noch 2 Mal, dann sind alle zufrieden.

Als nächstes filmen wir die Spiegel-Sequenz, die meine Idee war. Wie in der Szene vom Frisör Fusi, der von einem Grauen Herrn besucht wird, schreibe ich einen Tagesablauf in Sekunden auf einen Spiegel.

Praktischerweise hängt im Umkleideraum ein langer Spiegel im Goldrahmen, Viola hat Kreidestifte mitgebracht. Auch hier erfordert das Einrichten der Kamera (Winkel) und des Lichts (diesmal Matte mit Glühbirnchen an einem Ständer) einiges an Präzision. Andy erzählt mir von den verschiedenen Filtern. Er lässt die Menschen vor seiner Linse immer gut aussehen. Besonders schmeichelhaft sind blaue Glitzersterne. Andy arrangiert Licht und Filter so, dass meine Augen schön leuchten.

Für diese Aufnahme brauchen wir keinen Ton. Aber Tonmann Ben übernimmt die Aufgabe des Souffleurs und liest mir die langen Zahlenreihen aus meinem Buch vor. Ich schreibe in Türkis auf den Spiegel:

Schlaf 441 504 000 Sek.

Arbeit 441 504 000 „

Nahrung 110 376 000 „

Mutter 55 188 000 „

Einkauf usw. 55 188 000 „

Freunde, Singen usw. 165 564 000 „

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Zusammen: 1.103 760 000 Sekunden

Wir kürzen die Original-Liste aus dem Buch um einige Positionen (Wellensittich, Fenster, Geheimnis) und Ben ermittelt die neue Summe auf seinem Handy (falls ein Zuschauer auf „Pause“ drückt und nachrechnet).

Dabei zoomt der Kameramann mal auf die Schrift, mal auf mein Gesicht – ich weiß nicht so genau, was die Kamera gerade im Bild hat, aber ich führe die Bewegungen aus und konzentriere mich darauf, mich nicht zu verschreiben. Andy ist ganz begeistert von der Optik – der Spiegel erzeuge eine tolle Wirkung.

Zum Abschluss setzen wir Violas Idee um: Ich soll aus einer Buchseite eine Lotusblüte falten. Dazu schneidet sie einige Seiten quadratisch zu und ich studiere die Faltanleitung auf ihrem Handy. Leider bin ich im Origami-Basteln total unerfahren und kapiere nicht sofort, wie das gehen soll. In der Zwischenzeit bauen Andy und Ben ein neues Set im großen Yoga-Saal auf: Neben einem weißen Buddha und einer Paillettenstehlampe in der Ecke. Die Kamera guckt diesmal von oben auf mich herab.

Es geht los und meine Finger fühlen sich dick und ungeschickt beim Falten an. Bei den letzten Knickschritten hilft mir Viola, dann kommt tatsächlich eine erstaunliche Blüte zum Vorschein, die ich dann dem Buddha in den Schoß lege.

Um 14 Uhr sind alle Bilder im Kasten. Die vielen Utensilien werden wieder ordentlich verstaut und in den Kofferraum geschleppt, gleich werden sie alles im Theater wieder auspacken.

Viola, Andy und Ben verabschieden sich herzlich von mir. Wirklich ein tolles Team (auch mit Moderatorin Vivian), bei dem jede und jeder seine Leidenschaft und Perfektion einbringt für das bestmögliche Ergebnis. Es war eine schöne und einmalige Erfahrung für mich, für 2 Tage in dieses Kreativteam mit aufgenommen zu werden.

Bin natürlich sehr gespannt auf den Berliner „Was liest du?“-Beitrag. Es ist schon erstaunlich, wie viel Aufwand in einen 6-minütigen Film gesteckt wird – aber das ist halt Qualitätsfernsehen. Der Beitrag soll noch vor der Sommerpause gesendet werden und wird danach auch in der Kulturzeit-Mediathek zu sehen sein. Ich füge den Link hier ein, wenn es soweit ist.

Ich hoffe, ich konnte euch mit meinen Eindrücken vom Dreh gut unterhalten.

Meine Origami-Lotusblüte

Update 25. Juni 2019: Der Beitrag ist heute Abend gesendet worden. Hier könnt ihr ihn euch anschauen: Was liest du, Berlin?

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