Menschenbetrachtungen – Schwäbischer Kunstsommer (Teil 2)

Nachdem wir uns in der Prosa-Meisterklasse zuerst den Tieren und Pflanzen zugewendet haben, stehen in der zweiten Schreibaufgabe von Katja Lange-Müller die Menschen im Fokus unserer Betrachtungen. Es gilt, einen hässlichen (abstoßenden) Menschen mit Empathie zu beschreiben oder alternativ einen unsympathischen Menschen mit Spott, Hohn oder Zorn zu portraitieren. Das Portrait soll in wenigen Sätzen gezeichnet werden (nicht länger als eine halbe Seite). Da ich mich zwischen den Möglichkeiten nicht entscheiden konnte, habe ich beide umgesetzt.

Hier nun meine Texte. Ihr dürft gerne raten, welche Figur aus welcher Aufgabe hervorgegangen ist.

Text 1:

Alexanders großartiger Sieg

Alexander saß auf dem dritten Sessel linker Hand des Abteilungsleiters am Konferenztisch und lauerte hinter gesenkten Lidern auf den richtigen Moment, um seinen präzisen und eleganten Todesstoß zu vollführen. Ein aberratio ictus war ihm noch nie unterlaufen – seine Geschosse trafen zuverlässig das richtige Ziel. Heute hieß das Ziel Peter der Große – diesen Beinamen verdankte er solum seiner Körpergröße von 1,92 Metern und war mitnichten auf Intelligenz oder strategisches Geschick zurückzuführen. Peter ergoss sich in einem unendlichen Redeschwall von Trivialitäten und täuschte Kompetenz vor. Alexander frohlockte innerlich, wie Peter seine rechtlichen Ausführungen als „de lege artis“ bezeichnete, wo jener de facto mit seinem Vortrag bewies, dass er keinesfalls die Regeln der Kunst beherrschte. De facto verstrickte der tölpelhafte Schwätzer sich in Widersprüche und tappte in jede Falle, die Alexander ihm voller Raffinesse gestellt hatte.

„Attacke“, sagte der General in seinem Kopf und Alexander erhob sich zu seiner vollen Größe von 1,61 Metern.

„Mein geschätzter Kollege scheint übersehen zu haben, dass im vorliegenden Fall ein Empfangsbekenntnis der Partei vorliegt, Blatt 8 der Akte. Somit dürfte ihm ein saltus in demonstrando unterlaufen sein.“

Der Abteilungsleiter warf einen verächtlichen Blick auf Peter. Alexander – der wahrlich Große – spürte den Triumph warm durch seine Brust rauschen.

Text 2:

Schönheit und Sorgen am Morgen

Alba richtete sich ächzend auf und tastete mit ihren krummen Zehen auf dem Teppichboden nach Halt. Unter ihren Fußsohlen spürte sie das harte Granulat vom Hamsterfutter – vielleicht waren auch ein paar Köttel ihrer Lieblinge mit dabei. Die Hamster Max und Moritz hockten auf dem zerrupften Polster vom Lehnsessel beim Fenster und schliefen. Draußen war es noch dunkel, aber Alba konnte nicht mehr schlafen. Ihr Rücken schmerzte und ihre Gelenke auch. Ihre schmale Hand mit den dicken Venen tastete nach dem Off-Knopf der Fernbedienung und das körnige Bild im Flimmerkasten erlosch. Sie griff nach ihrem Holzstock und rappelte sich hoch, schlurfte langsam in die Küche und zur Kaffeemaschine. Sie presste den spitzen, brüchigen Nagel ihres Zeigefingers in eine Öffnung im Plastikgehäuse, wo einst die Einschalttaste saß. Die Maschine erwachte gurgelnd zum Leben und heiße Tropfen fielen in großen Abständen in den Filter mit dem Kaffeepulver von Gestern. Alba nickte zufrieden und drehte das Radio auf.

„Juuu ahhhr soooo bjutifuul tu miiii“, stimmte sie zahnlos und heiser in den Gesang der Frau aus dem Radio ein. Sie öffnete das Fensterglas im knirschenden Holzrahmen und streute Sonnenblumenkerne für die Spatzen auf den Fenstersims; dabei musste sie sich mühevoll hochrecken, ihr buckliger Rücken sträubte sich. Sofort kam die fette Taube mit dem Klumpfuß aus dem Kirschbaum der Liebermanns angeflogen und wollte die Körner picken.

„Der Winter bringt Hunger und Sorgen“, schmatzte Alba und ließ die Taube gewähren.

Von Menschen und Kühen – Schwäbischer Kunstsommer 2019

Ein zweites Mal lasse ich mich im Schwäbischen Kunstsommer im Kloster Irsee von den Musen umgarnen. Dieses mal bin ich in der Meisterklasse Prosa bei Katja Lange-Müller. Schon beim Abendessen am Samstag sehe ich einige bekannte Gesichter aus dem letzten Jahr – zwei Dichterinnen sind wieder in der Lyrik-Klasse und wir frischen alte Erinnerungen auf.

Klosterpark

Am Sonntagmorgen um neun Uhr sitze ich im Kapitelsaal unter Stuck und Freskomalerei – es ist derselbe Raum, wie letztes Jahr in der Lyrik, aber ein Déja-vu erlebe ich nicht.

Die Meisterin Katja Lange-Müller setzt sich nicht an das Kopfende des Tischs, aber das Zepter hält sie trotzdem in der Hand. In der Vorstellungsrunde beäuge ich meine Prosa-Gefährt*innen für die nächsten sieben Tage. Neun Frauen (eine davon aus Österreich) und ein Mann (aus der Schweiz), alle zwischen 60 und 75 Jahre alt bis auf ein junges Mädel (22), die einen Schwäbischen Nachwuchsliteraturpreis gewonnen hat (in Form eines Stipendiums für den Kunstsommer). Alle verbindet die Leidenschaft für das Schreiben und das Lesen („Im Schreiben wirken Lebenserfahrung und Leseerfahrung zusammen – wobei auch Leseerfahrung Lebenserfahrung sein kann“ – so die Meisterin). Einige haben einen Hintergrund als Lehrerin, sind nun im Ruhestand, bei allen ist das Interesse an Bildung und Kultur groß. Eine hat früher schon ein Kinderbuch veröffentlicht, alle anderen bewegen sich noch in den Sphären von Schriftstellerei ohne Veröffentlichungen mit vielen Texten in der Schublade („Ein Text ist erst fertig, wenn es zwischen zwei Buchdeckeln steckt.“).

Katja Lange-Müller (Jahrgang 1951) nimmt das Leben in vollen Zügen (nicht nur beim Rauchen) in sich auf, ist eine echte Berlinerin (erst im Osten, dann im Westen – aber auch sonst viel in der Welt herumgekommen) und als Linkshänderin mit Rechtsschreibeverbot hat sie sich dem Schreiben schon aus purer Rebellion zugewandt, sie schreibt immer gegen Widerstände und mit viel Empathie für die unterdrückten Menschen (sie hat z.B. viele Jahre als Krankenschwester in der Psychiatrie gearbeitet) und die missverstandenen Tiere, dabei mit viel skurrilem Humor. Von ihrem unvergleichlichen Witz bekommen wir in der Klasse viel ab, sie haut Sätze raus, die uns zum Lachen bringen (und die wir bald schon eifrig als Zitate für die Ewigkeit notierten).

Zeichnung und Schrift stammen von Gabriele Vogt

Das Thema der Meisterklasse ist die schreibende Beobachtung von etwas Lebendem (Pflanze, Tier, Mensch). Zum Einstieg liest Katja uns Auszüge aus „Bummel durch Europa“ von Mark Twain vor, wo er urkomisch und ironisch zwei Ameisen bei ihrer sinnlosen Aktivität beschreibt. „Das Fliegenpapier“ von Robert Musil erschüttert mit seiner detaillierten Annäherung an den Todeskampf. Zur Vorbereitung auf die Klasse habe ich (auf Empfehlung der Meisterin) die Grauen erweckenden Erzählungen von Patricia Highsmith und die von Katja selbst („Die Enten, die Frauen und die Wahrheit“) gelesen, um mich auf das Genre der Erzählung einzustimmen. Wir kommen auf Kafkas „Verwandlung“ zu sprechen und auf seine genaue Beschreibung des Käfers, der sich für den informierten Biologen als Kakerlake entpuppt. Im Stundentakt machen wir Pause, weil Katja rauchen gehen muss (50 pro Tag) – von diesem Laster will/kann sie sich trotz Dauerhusten nicht lösen.

Für den Nachmittag bekommen wir die Aufgabe, einen Spaziergang in die Natur zu unternehmen und etwas Lebendiges (es darf auch ein phantastisches Wesen sein) zu beobachten und zu beschreiben – aber nicht (nur) äußerlich, sondern wir sollen das Wesen erfassen. Am Montagvormittag wollen wir uns wieder treffen und kurz berichten, ob jede etwas gefunden hat, ab 16 Uhr soll Vorleserunde sein.

Damit starten die ersten zwei Tage schreiberisch eher geruhsam. Ich mache einen langen Spaziergang durch den Klostergarten und in die Felder (die mir aus dem letzten Sommer noch angenehm vertraut sind), hocke mich an einen Teich und beobachte Fliegen, die auf dem Wasser schweben (nein, es sind Wasserläufer, wie ich später in der Klasse aufgeklärt werde – leider bin ich ein ziemlicher Biologie-Depp und weiß fast nie, wie die Pflanzen und Tiere heißen) und Frösche, die wie tot im Wasser tümpeln.

Zum Glück treffe ich noch auf sechs Jungkühe (seit meiner Kindheit meine Lieblingstiere), die am Zaun Futter suchen und die ich eine Viertelstunde lang Aug in Aug beobachte (inklusive Fliegengeschwirre und ein paar Mückenstichen).

Stürmische Begrüßung

Meinen Kuh-Text schreiben ich dann vor dem Abendessen innerhalb einer Viertelstunde per Hand (am nächsten Morgen tippe ich es auf dem PC ab und mache ein paar Änderungen). Zu den Wasserläufern schreibe ich auch eine halbe Seite, aber die Tierchen sind für mich nicht so ergiebig.

Die Musen halten mich ganz schön auf Trapp. Das Programm ist voll und ich gehe zu jeder Veranstaltung. So sieht mein Tagesablauf aus:

07:00 Uhr: Aufstehen

08:00 Uhr: Frühstück

09:00-12:00 Uhr: Arbeit in der Meisterklasse (bzw. Schreibzeit)

12:00-13:30 Uhr: Mittagessen (plus Spaziergang)

13:30-14:15 Uhr: Werkstattgespräch (die Meister der bildenden Künste – 2x Malerei, Illustration, Textilkunst – stellen sich und ihre Werke vor)

15:00-18:00 Uhr: Arbeit in der Meisterklasse (bzw. Schreibzeit)

18:00 Uhr: Abendessen

20:00-21:00 Uhr: Abendwerkstatt (Einblicke in Tanz, Chor, Kammermusik, Lesungen Prosa und Lyrik)

21:00-22:00 Uhr: Spaziergang

22:00 Uhr: Bettruhe

Hierbei sammele ich jede Menge Inspiration. Beim Essen gibt es neben den Gaumenfreuden am reichhaltigen Buffet auch viel Gelegenheit, mit anderen Teilnehmenden ins Gespräch zu kommen. In den ersten Tagen tragen alle Namensschilder mit Klassen-Angabe – aber mit der Zeit lerne ich, die Menschen anhand ihres Aussehens ihrer Kunstform zuzuordnen – die Tänzerinnen sind aufgrund von Jugend und Schönheit leicht zu erkennen, die Maler sind mit Farbklecksen verziert, die Chorsänger sind öfters rund.

Am Montagnachmittag lesen wir erste Texte in der Klasse vor. Zu meinen Kühen gesellen sich eine Wespenfliege (die ein Florentiner Porträt bekrabbelt), eine gemeine Ackerwinde, Wasserläufer, ein Elch, eine Staublaus in einem Schweizer Labor und eine Raupe im grauen Bus auf dem Weg in den Tod (die jüngste Teilnehmerin überrascht mit einem Faible für schwere Themen und hat die Euthansie-Verbrechen der Nazis aufgegriffen, die im Kloster Irsee stattgefunden haben – es gibt hier eine Gedenkstätte).

Bei der Besprechung unserer Texte zeigt sich Katja als sehr interessiert, zugewandt und direkt. Sie nimmt auch kein Blatt vor den Mund, wenn sie etwas zu kritisieren hat („Da hast du mit dem Schinken nach der Wurst geworfen“ – bei einer Anhäufung von Klischees). Sie verbündet sich mit dem Text, notfalls auch gegen die Autorin („Das war aber so, ist kein literarisches Argument“), aber mit Herzlichkeit und Humor. Es zeigt sich auch ihre frühere Ausbildung zur Textsetzerin – sie nimmt die Texte auf Punkt und Komma unter die Lupe („Jeder Literaturliebhaber freut sich, wenn er mal wieder einem Semikolon begegnet“), auch der Schrifttyp (bitte mit Serifen) und Zeilenabstände (groß genug, einzeilig ist ein no-go) müssen stimmen, sonst vergehe der Leserin von vorneherein die Lust am Text.

Auch die Mitschreibenden geben sich sehr wertschätzend und konstruktiv Feedback. Mein Kuh-Text stößt auf viel positive Resonanz, was mich natürlich freut (vielleicht liegt es auch an den Tieren, die die meisten so sympathisch finden).

Nur die Zeit hat Katja nicht im Blick, da wird schon mal eine Stunde lang ein einziger Text auf jedes Wort hin abgeklopft. Eine Teilnehmerin übernimmt dankenswerterweise die Rolle der Strukturwächterin und macht die Meisterin auf die Uhrzeit und andere organisatorische Belange aufmerksam.

Katja selbst kämpft mit dem Berg loser Blätter (wir kopieren unsere Texte immer für alle, damit jeder ein Mitleseexemplar hat) bis sie schließlich davon träumt, sie hätte die Büroklammer erfunden. Eine ganze Schachtel dieser Drahtwunder kapert sie sich Mitte der Woche aus dem Hotelbüro, um das Blätterchaos zu bändigen. Am Dienstag ist sie völlig überrascht, dass sie am Abend mit einer Lesung auf dem Programm steht (ein Organisationsgenie ist sie wahrlich nicht, dafür umso spontaner).

Am Donnerstag scheint die Sonne höchst sommerlich (übrigens ist das Wetter keineswegs so verregnet, wie im Wetterbericht angedroht – was mich am Abend meiner Abreise dazu brachte, erschrocken noch schnell ein Regencape in meinen Koffer zu den Röcken und Sandalen zu stopfen, das ich dann doch nicht gebraucht habe) und wir halten unsere Vorleserunde im Park ab.

Hierbei raucht Katja unaufhörlich und nach zwei Stunden stehen ihre Füße in einem Berg von Zigarettenstummeln. Inzwischen haben wir eine zweite Schreibaufgabe bekommen: Wir sollen einen Menschen auf einer halben Seite beschreiben, entweder einen Hässlichen mit Empathie oder einen Unsympathen mit Spott, Zorn, Ironie. Ich bearbeite beide Varianten (meine Texte dazu teile ich nächste Woche mit euch). Hier bin ich wieder über die stilistische Bandbreite und den Einfallsreichtum meiner Mitschreiber*innen erstaunt. Auch wenn in der ganzen Woche nur zwei Texte von mir besprochen wurden und ich weniger Text produziert habe, als ich mir gewünscht hätte, sind der Lerneffekt und die Anregung aus den Fremdtexten doch ziemlich groß.

Die große Kunstsommernacht am Samstag rückt näher und wir müssen unsere Lesung vorbereiten. Die Prosa bekommt zwei Zeitblöcke zu je 30 Minuten zugeteilt. Katja legt fest, dass im ersten Block fünf Autorinnen ihre Tier-Texte lesen werden und im zweiten fünf Autorinnen ihre Menschen-Texte. Wer was vorlesen soll/möchte, entscheidet sich einvernehmlich (ich will meinen Kuh-Text vorlesen). Wir sollen kürzen und proben (Freitag).

Als Werbung für unsere Lesungen (in der Kunstsommernacht finden immer drei Veranstaltungen gleichzeitig statt, so dass man Konkurrenz hat) druckt eine Teilnehmerin, die ein talentiertes Zeichenhändchen hat, ihre Illustrationen zu Katja-Zitaten auf grünes Papier, das wir den Besuchern austeilen und auslegen werden.

Am Samstag um 19:30 Uhr ist der große Moment unserer Lesung gekommen. In den Fluren des Klosters wimmelt es von kunstinteressierten Besuchern aus nah und fern. In unserem Lesesaal haben sich etwa 50 Zuhörer versammelt.

Katja Lange-Müller (erste Reihe links im schwarz-weißen Kleid)

Katja spricht einleitende Worte, in denen sie die Aufgabenstellung für unsere Texte erklärt. Ich komme als Zweite dran (wir lesen in alphabetischer Reihenfolge) und trage meinen Text vor, bemühe mich langsam zu sprechen und gut zu betonen und ernte sogar einige kleine Lacher für meine Kuh-Komposition (mit Proben ist es nun das vierte Mal, dass ich den Text vor Publikum vorlese und ich denke, ich konnte mich in der Interpretation steigern – bin ja im Vorlesen eher verhalten). Auch meine Mitleser*innen laufen zu Höchstform auf und interpretieren ihre Texte wunderbar verschroben, pedantisch, zornig. Je öfter ich die Texte höre, umso mehr treten deren sprachlichen Stärken und die Persönlichkeiten der Verfasserinnen hervor.

Unsere Lyrik-Kollegen erhasche ich nur im dritten Teil ihrer Lesung – in der Kunstsommernacht gibt es so viel zu erleben, dass man kaum alles schaffen kann – ich höre ein eindrucksvolles Chorkonzert mit einer Uraufführung der Vertonung des Dietrich Bonhoeffer Gedichts „Wer bin ich“, erlebe den zeitgenössischen Tanz, die Kammermusik und die Bilderausstellung in den Fluren und Ateliers (Pressebilder von der Kunstsommernacht hier). Während der Woche habe ich natürlich mit großem Interesse bei meinen alten Bekannten nachgehorcht, wie es ihnen dieses Jahr so in der Lyrik-Klasse ergeht. Auch die Lesung ihres Meisters Mirko Bonné habe ich angehört, ein kühler Hamburger, der neben seiner Dichtertätigkeit auch Prosa schreibt und sich als Übersetzer (z.B. von Emily Dickinson) einen Namen gemacht hat. Die Lyriker hatten ein höchst konträres Programm zu unserer Prosa-Klasse. Seminarartige Informationsfülle (einige historische Gedichte wurden analysiert), strenge Vorgaben vom Meister, der zuweilen auch hart mit einigen Gedichten seiner Schülerinnen ins Gericht ging, wenig Werkstattcharakter (vor Ort haben sie zwar auf Schreibimpulse kurze Gedichte geschrieben, die aber eher als Entwürfe verstanden wurden und auch in der Lesung nicht zu Gehör gebracht wurde, stattdessen Gedichte, die schon zuvor entstanden waren). Da hätte ich nicht tauschen wollen. Unsere herzlich-impulsiv-chaotische Katja war der ganzen Klasse ans Herz gewachsen und umgekehrt.

So nun dürft ihr zu guter Letzt auch meine Kühe kennenlernen (die ich übrigens jeden Tag beim Spazierengehen besucht habe und die immer hoffnungsvoll zum Zaun gelaufen kamen, obwohl ich sie mit leeren Händen enttäuschen musste, was sie am nächsten Tag verziehen oder vergessen hatten…).

Mein Lesetext:

Ich kriege was, was du auch kriegst“

Sechs Kühe stehen dicht nebeneinander, eine Herde wie in Scheiben geschnitten, lange Seite an langer Seite, ihre Bäuche und Flanken berühren sich. Fünf Köpfe schauen in eine Richtung, eine Kuh ist falsch herum eingeklemmt und guckt in die Gegenrichtung. Im linken Ohr hat jede ein gelbes Nummernschild mit einem Knopf angetackert wie bei einem Plüschtier.

Die Weide ist groß und doch stehen sie hier dicht an dicht. Auf wenigen Quadratmetern reiben sie sich aneinander, wedeln im selben Rhythmus mit ihren langen Ohren, um die Fliegen zu vertreiben, die sie unablässig umschwirren und sich auf ihren feuchten Nüstern, in den Augen und auf dem braunen Fell niederlassen. Dazu zucken die Kühe mit der Haut und wedeln mit den Schwänzen, aber es ist ein sinnloser Kampf. Jedes Zucken lässt die Fliegen aufsteigen, die sich wenige Sekunden später an anderer Stelle auf dem Kuhkörper erneut niederlassen. Die Kühe können nicht gewinnen. Sie könnten sich das Zucken und Wedeln sparen. Aber es ist ein Reflex, nicht zu unterdrücken.

Seite an Seite suchen sie Futter. Nicht auf der grünen Wiese, sondern im Kiesschotter unter den zwei elektronischen Drähten des Zauns. Hier hat die Bäuerin etwas für sie hingeworfen. Salzbonbons vielleicht. Hier suchen sie nun mit ihren langen Zungen den Kiesboden ab. Bauch an Bauch schiebt sich die eine neben der anderen her. Sie arbeiten nicht zusammen, aber auch nicht gegeneinander. Jede versucht, einen Salzkrümel für sich zu finden, jede folgt der Bewegung ihrer Nachbarin. Eine Kuh quetscht sich beharrlich zwischen zwei andere, streckt ihren Kopf in die Höhe, reibt ihren faltigen Hals auf dem Nacken der anderen. Ihr gefällt der Körperkontakt. Vielleicht ist es eine Art von Zärtlichkeit. Jedenfalls ist sie hier im Zentrum des Geschehens. Hier entgeht ihr nichts.

Eine andere Kuh ist die Anführerin. Wenn eine Stelle abgesucht und abgeleckt ist, drängt sie entschlossen mit ihrem kräftigen Körper gegen die Körper ihrer Gefährtinnen. Wie eine Welle geht der Anstoß durch die Fleischmasse der anderen fünf Kühe. 24 Beine stampfen und straucheln im leicht abschüssigen Kiessand. Der Tross schaukelt sich wie in einer einzigen Bewegung einige Meter zur Seite und dort senken sich die Köpfe und Zungen wieder zur Nahrungssuche.

Die Kühe schnaufen, die Fliegen summen. Sonst ist es still.

Ein Plätschern kommt dazu. Eine der Kühe hat den Schwanz gehoben und lässt einen dicken Strahl gelber Pisse zu Boden stürzen. Die Artgenossin daneben kaut ungerührt und ihr Maul vollzieht dabei kreisende Bewegungen.

Dicht an dicht bewachen sie jeden Bissen der anderen mit gutmütigem Futterneid. So bekommt jede gleich viel vom Gleichen. Man könnte es Kuhkommunismus nennen.

So ist eine intensive Woche voller Prosa und Kunst wie im Fluge vorbei gegangen. Ich bin bestimmt nicht zum letzten Mal dort gewesen.


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