Schön, dass ihr auch heute wieder das Türchen vom Grünraums Blogadventkalender 2019 öffnet, um die Fortsetzung unserer Gemeinschaftsgeschichte zu entdecken. Was gestern geschah (in kursiv):
Sie blickte mutig nach vorn, als von oben der warme Klang einer Männerstimme zu hören war. Das hatte sie völlig vergessen! Irgendwer hatte ihr doch vorhin die Hand gereicht, als sie auf der letzten Stufe stand. Sie war gar nicht allein.
„Es ist nicht mehr weit.“
War das nicht die gleiche Stimme wie vorhin, einige Stufen unter ihr? Aber das war doch unmöglich. Sie hörte sich auch anders an, deutlich freundlicher. Weder soeben noch jetzt sah sie jemanden, aber ihre Intuition sagte ihr, dass sie richtig lag. „Sie sind das wirklich! Aber warum sind Sie plötzlich weiter als ich?“
„Es gibt Dinge, die verstehen weder Sie noch ich. Vertrauen Sie sich einfach. … übrigens wartet hier ein kleines Mädchen.“
Türchen 17:
Henni horchte auf die seltsam vertraute Stimme und kramte in ihrem Kopf nach der Erinnerung an das Gesicht, das zu dieser Stimme gehörte. Aber es war ihr, als ob ihr Geist von Zuckerwatte eingehüllt war und sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Sie blinzelte, aber ihre Tränen und das Strahlen der Sterne ließen ihre Umgebung zu einem Nebel aus Helligkeit verschwimmen. Für einen Moment überkam sie ein Gefühl völliger Orientierungslosigkeit, sie hatte jeden Halt verloren und schwebte im Nichts – wo war die Hand, die sie gehalten hatte, wo die Stimme, die sie geleitet hatte?
Da umschmeichelte ein wunderbarer Duft ihre Nase – es duftete nach Vanille, Zimt und Orangen – ein Kinderlachen gluckste ihre Kehle hinauf und Henni öffnete wieder ihre Augen und nun sah sie alles klar vor sich: Sie war in der Küche ihrer Oma!
Da stand Oma und summte „Alle Jahre wieder…“ während sie mit einem Nudelholz einen Batzen Teig im Mehlteppich auf dem großen Holztisch ausrollte. Der Ofen brummte die Bassstimme zum Gesang von Oma und warmer Plätzchendampf legte sich auf Hennis Haut.
Aber was war das? Eine kleine Hand rollte ihr eine Orange entgegen und hinter der Tischplatte sah sie zuerst einen Scheitel, dann eine Stirn und schließlich zwei wache Äuglein und eine Stupsnase auftauchen.
„Henni, du kommst gerade richtig“, sagte das Mädchen mit Glockenstimme.
Wie es weiter geht, erfahrt ihr morgen bei Renate.
Was bisher geschah (die vollständige Geschichte):
Türchen 1-10 findet ihr hier.
Türchen 11:
Als sie die Augen wieder öffnete, wirbelten die puscheligen Schirmchen wie Schneegestöber um sie herum. In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken.
Aus dem Augenwinkel sah sie etwas Braunes flink an sich vorbeihuschen. Durch die Flocken blickte sie in zwei schwarze Äuglein. Von der Sprosse über ihr schaute ein Eichhörnchen sie mit geneigtem Kopf keck an. Zwischen den Pfötchen hielt es eine Orange.
„Na, was machst du denn hier? Wusste gar nicht, dass ihr auch Orangenfresser seid.“ Henni streckte die freie Hand aus, um das Tierchen zu streicheln, wobei sie ins Wanken geriet und sich eine Sprosse tiefer wiederfand. Die Leiter schwankte.
„Huch“, ihr Herz wummerte vor Schreck. Der buschige Schwanz des Eichkätzchens verschwand im Astwerk.
Wollte das Tier mir wohl etwas sagen? Einen Wunsch, ich habe einen Wunsch frei … aus ihrem rechten Auge quetschte sich eine Träne.
„Ho, ho, hoo, was ist da oben los? Geht’s denn bald mal weiter?“, unterbrach die grollende Stimme von unten ihre Gedanken.
„Tut mir leid, ich steck‘ hier irgendwie fest.“ Hennis Hände krampften sich um die Stege der Leiter, ihr schwirrten die Sinne, woher kam diese plötzliche Rührseligkeit?
Aber ja doch, ja, es fiel ihr wieder ein. Die Rührseligkeit wird vom Weihnachtsfest verursacht. Sie kam daher, dass nicht mehr all ihre Lieben mitfeiern konnten. Sie vermisste sie so sehr, dass ihr die Tränen nun ungehemmt über das Gesicht liefen. Das Eichhörnchen war im Baum verschwunden.
Sie erinnerte sich an ihre liebe Großmutter. Was konnte sie für leckere Plätzchen backen und was konnte sie Weihnachtslieder singen! Mit einer hohen und weichen Stimme hatte sie immer dafür gesorgt, die richtige Stimmung aufkommen zu lassen, wie ein Engel. Henni erinnerte sich daran, wie sie bei ihr auf dem Schoß gesessen hatte, sich wiegen ließ und den Weihnachtsgeschichten zuhörte, die sie ihr und nur ihr allein erzählte, während ihre großen Brüder durch das Wohnzimmer tollten.
Das wünschte sie sich sehnlichst von den Pusteblumenschirmchen. Nur noch einmal auf Omas Schoß sitzen, den Duft der Plätzchen riechen und ihre Stimme hören! Henni schaute in den wirbelnden, goldenen Strom hinein, der sie warm umstrahlte. Sie hielt sich an der Sprosse fest und schloss die Augen und genoss im leuchtenden Strom der Flocken die warmen Gefühle von Glück und Geborgenheit, vom ungetrübten Glanz ihrer Kindheit und Keksen, und sie lächelte zufrieden, als jemand an ihrem Fuß zog. Es war der Drängler von unten.
„Hey, wir wollen alle nach Hause!“, knurrte er, „Nun gehen Sie schon endlich weiter!“ Henni dachte gar nicht daran. Dann bekam sie einen ordentlichen Schreck.
Nach Hause?! Stimmt. Doch wohin führt denn nun diese Leiter?
„Das werde ich wohl nur herausfinden, wenn ich ihr folge. Also, nur Mut!“, ermunterte Henni sich selbst, griff beherzt nach der nächsten Sprosse und kletterte weiter nach oben.
Mit jeder Sprosse fühlte sie sich kraftvoller, verwegener und frischer. Eine heitere Gelassenheit breitete sich in ihr aus und plötzlich hörte sie eine sonderbare, leicht dissonante, aber dennoch wunderschöne Folge von Tönen und Henni begriff, dass dies ihr eigenens Lachen war, doch auch nicht ganz. Vielmehr war es das Lachen des Kindes in ihr, das da frohlockend und wohlklingend aus ihr herausbrach. In Henni breitete sich neben einem Gefühl der Heiterkeit nun auch ein Gefühl der Rührung aus, als sie erkannte, wie sehr sie diesen Teil von sich in diesem Jahr vermisst hatte. Doch nun war er endlich wieder da und beschwingt stieg sie weiter. Sie fürchtete sich kein bisschen mehr, obwohl über ihr außer der nächsten Sprosse nichts als ein helles goldenes Licht zu sehen war.
Und dann hörte die Leiter einfach auf. Suchend sah Henni sich um. Unter ihr waren die Sterne, über ihr das Licht, sonst gab es da nichts. Nur ab und zu unter sich ein kindliches Jauchzen. Was sollte sie denn jetzt machen?
„Hey, Sie da unten!“, rief sie in Richtung des grummligen Mannes irgendwo unter sich. „Es gibt hier keine Sprossen mehr. Wissen Sie, wie’s ab hier weiter geht?“
Doch er gab keine Antwort. Hatte sie ihn am Ende doch abgehängt?
Henni sah wieder nach oben in das Licht.
Schien sich da nicht etwas zu bewegen, ganz vage nur, oder bildete sie sich das ein?
Aus einem Gefühl heraus, reckte sie eine Hand noch oben und streckte sich, soweit sie nur konnte, doch nichts geschah. Also nahm sie allen Mut zusammen und kletterte noch zwei weitere Leitersprossen nach oben, so dass ihr nur noch die oberste Sprosse an den Schienbeinen etwas Halt gab und noch einmal reckte sie ihre Hand in Richtung Licht und siehe da, ihre Hand schien in das Licht einzutauchen. Henni wurde noch mutiger und trat mit dem rechten Fuß auf die letzte Sprosse. Langsam und vorsichtig drückte sie sich nach oben und zog dann auch den linken Fuß nach. Nun balancierte sie auf der obersten Sprosse, ganz ohne Halt. Und auch ohne Netz oder doppelten Boden?
Henni zuckte mit den Schultern. „Was soll’s!“, rief sie aus einer plötzlichen Zuversicht heraus aus und sprang mit all ihrer Kraft nach oben. Es verging ein winziger Moment, in dem nichts geschah, doch er war lang genug für erste Zweifel, für einen ersten Anflug von Angst, aber dann ergriff jemand Hennis Hand und zog sie weiter hinauf.
Jetzt, wo sie gehalten war, bekam Henni noch Herzrasen ob ihres Mutes, der sie so ins Leere springen hatte lassen. Sie konnte sich gar nicht erklären, woher sie den Mut genommen hatte. Sie war nie die Mutigste gewesen, war immer etwas furchtsam. Oder ging es etwa gar nicht um Mut, sondern um Vertrauen?
Das verlorene Vertrauen
Woher kam auf einmal dieses Vertrauen, an dem es ihr im Leben seit langer Zeit mangelte. Damals hatte sie ihr Vertrauen verloren und es nie mehr gefunden. Mit heute schien sich das geändert zu haben. Sie vertraute wieder in das Leben und ein Gefühl von Hoffnung machte sich in ihr breit. Sie hatte dieses schwarze, zähe Damals mit diesem wagemutigen Schritt abgestreift. Endlich! Nach all den Jahren der Traurigkeit und Mutlosigkeit. Das Damals war ihr bis heute wie Kaugummi an der Schuhsohle geklebt. Aber jetzt, jetzt hatte sie es geschafft, es loszuwerden.
Struppis Tod – das Damals
Das Damals war der Tod ihres geliebten Hundes Struppi. Sie musste zusehen, wie dieser von einem Auto überfahren wurde. Das Gartentor war offen und Struppi jagte der Nachbarkatze hinterher über die Straße. Da hatte ihn das Auto erwischt. Sie war 11 gewesen und die Erwachsenen waren nur dagestanden und hatten nichts getan. Niemand rettete Struppi oder half ihm. Niemand tröstete sie. Ein alter Mann mit Vollbart und einem dicken Bauch meinte sogar, dass es ja nur ein Hund gewesen sei. Seitdem hatte sie kein Vertrauen mehr in die Menschen gehabt. Es hatte Spuren in Hennis Seele hinterlassen. Auch nach all diesen Jahren bekam sie noch Zustände, wenn sie alte Männer mit Vollbart und dickem Bauch sah.
Aber mit diesem Sprung ins Vertrauen würde sich das nun ändern. Da war sich Henni ganz, ganz sicher.
Auf einmal hatte Henni das Gefühl mit ihrem Sprung die ganze Welt verändern zu können. Sie konnte es sich selbst nicht erklären, aber mit diesem Sprung hatte sie plötzlich ein unglaubliches Vertrauen, dass sie richtig entschieden hatte und ihr nichts passieren konnte.
Kurz kam ihr der Gedanke, dass sie immer wieder vor Situationen stand in denen sie dachte, JETZT würde sich alles verändern, JETZT hatte sie endgültig die Person gefunden der sie doch vertrauen konnte. Irgendwann stellte sich dann heraus, dass sie der Person doch nicht trauen konnte, oder sie stellte fest, dass sie doch wieder in alte Muster gefallen war. Ohne es zu merken und eigentlich auch ohne das sie es wollte. Es war einfach wieder passiert.
Sie hatte das Gefühl, dieser Flug endete nie. Das Gefühl der inneren Stärke, die plötzlich ihr inneres verletztes Kind an die Hand nahm wurde immer stärker. Sie nahm sich fest vor, dieses Gefühl für immer zu behalten…
Liebe Ulrike,
da habe ich mich doch sehr gefreut, als plötzlich eine Orange wieder auftauchte.
Liebe Grüße Anne