Muss ich mich als Autorin neu erfinden, um auf dem Buchmarkt erfolgreich zu sein?
Ja, lautet die Antwort aus meinen Erfahrungen der jüngsten Zeit. Mit meinen zwei historischen Romanen habe ich es trotz Agenturvertrag bisher nicht geschafft, einen Verlag zu finden.
Liegt es vielleicht an meinen Stoffen, die nicht in die aktuellen Trends und Schubladen der Verlage passen? Dieser Frage gehe ich im nächsten Beitrag noch nach.
Aber es gibt noch einen weiteren Faktor, der mir bei der Vorstellung meiner Manuskripte an literarische Agenturen vor Augen geführt worden ist: Die Figur des Autors/der Autorin muss perfekt zum Roman passen!
Diese erschreckende Erkenntnis habe ich kürzlich gemacht, als ich meiner (Ex-) Agentin (einer großen Mainstream-Agentur) drei meiner neuen Romanprojekt gepitched habe.
Eine Romanidee soll in der DDR der 60er Jahre spielen. Die Antwort der Agentin lautete:
„Aus unterschiedlichen Gesprächen mit Lektoren zu DDR-Themen kam immer wieder ein ganz wichtiger Punkt zu Sprache: Man erwartet dafür vom Autor eine hohe „Mitsprache“-Kompetenz und Glaubwürdigkeit. Oder anders ausgedrückt: Man mag sich von einem West-Autor nicht die DDR erklären lassen. Ich weiß tatsächlich aus dem familiären Umfeld, dass dies nach wie vor ein sehr heikles Thema zwischen ehemaligen Ostdeutschen und Westdeutschen ist. Erst neulich fragte ein Verlag bei mir an, ob eine Autorin sich vorstellen könne, eine OST-WEST – Geschichte zu schreiben, und es wurde betont, es müsste eine Autorin mit Ost-Vergangenheit sein (aus vorgenannten Gründen). Daher würde ich zu diesem Projekt nicht raten können.“
Auch eine weitere Roman-Idee (drei Schwestern auf einem pfälzischen Landgestüt um 1814 im Stil von Jane Austen / Regency Romance) wurde von ihr mit dieser Begründung abgeschmettert:
„Zu den Pferden: das ist sehr austauschbar, es fehlt das Besondere wie z.B. aus eigener Familiengeschichte inspiriert, weil Sie selbst leidenschaftliche Pferdenärrin sind. Es wirkt zu konstruiert, weil es nicht aus der eigenen Lebenswelt entspringt. Natürlich kann man sich an ein Pferdthema wagen, auch wenn man selbst keine Reiterin ist, aber dann sollte es dennoch etwas Neues / Besonderes sein.“
Wie ihr euch denken könnt, haben mich diese herben Absagen erst mal ziemlich herunter gezogen und meine Schreiblust und meinen Optimismus für einige Tage völlig abgetötet. Plötzlich habe ich bei jeder Idee für einen Roman sofort rote Stopp-Schilder vor mir gesehen und diese Stimme in meinem Kopf gehört: „Darüber darfst du nicht schreiben! Damit kennst du dich nicht aus!“
Solche Schreibverbote sind natürlich für jede Kreativität fatal und ich habe mich nach Kräften bemüht, diese Gedanken wieder aus meinem Kopf zu verbannen.
Trotzdem möchte ich dieser Hypothese von Identität zwischen Autor*in und Stoff näher auf den Grund gehen – zumal sie in der Agentur- und Verlagswelt offenbar gültig ist und gegen anstrebende Schriftsteller*innen verwendet wird.
Muss ich „kennen“ was ich schreibe? Muss ich „sein“ was ich schreibe?
Auf mein eigenes Beispiel bezogen: Muss ich selbst leidenschaftliche Reiterin sein, wenn ich über ein Pferdegestüt schreiben will? Muss ich aus der DDR stammen, wenn ich einen Roman über die DDR schreiben will?
Wenn ich diese Hypothese mal an einem Extrembeispiel versuche: Muss ich als Thriller-Autor*in selbst jemanden ermorden und mich im Zerstückeln von Leichen geübt haben? Das ist natürlich absurd.
Was die Sach- und Fachkenntnis angeht, so bin ich davon überzeugt, dass mir als Autorin hier die Mittel der Recherche zur Verfügung stehen. So habe ich mir z.B. für meinen Antarktis-Roman ein präzises Wissen darüber angeeignet, wie der Walfang in den 1930er Jahren abgelaufen ist und wie die Wale von den Fängern zerlegt wurden. Auch hinsichtlich anderer Berufsbilder, Länder und Sitten, die ich nicht aus eigener Erfahrung kenne, kann ich mir das Wissen durch Recherche und Interviews aneigenen (so habe ich z.B. drei junge Dirigentinnen für meinen Wien-Roman interviewt).
Schwieriger wird es jedoch mit meiner eigenen kulturellen Identität. Ich bin in Westdeutschland aufgewachsen. Das kann ich nicht ändern oder abstreifen.
Immer wieder wird dieses Thema in der Literaturwelt heiß diskutiert unter dem Begriff der kulturellen Aneignung. Problematisch scheint es zu sein, wenn eine Autorin aus einem „dominanten“ Kulturkreis die Geschichte einer „unterdrückten“ Kultur bzw. einer Minderheit schreibt. Hier wird (oft von eben dieser Minderheit) der Ruf laut, ihre Kultur werde von der anderen vereinnahmt und verfälscht dargestellt. Es besteht der Verdacht des Überstülpens fremder Werte über eine Minderheit im Stile eines literarischer Kolonialismus.
Vor nicht allzu langer Zeit ist um den Roman „American Dirt“ von Jeanine Cummins eine solche Debatte („cultural appropriation“) entbrannt: Darf eine Amerikanerin die Geschichte einer Mexikanerin schreiben?
Im Beitrag vom Deutschlandfunk „Kulturelle Aneignung und die Frage, wer zu hören ist“ vom 21.04.2020 heißt es:
„Bei der Debatte um kulturelle Aneignung gehe es um Dominanz, sagt die Literaturkritikerin. „Es geht nicht darum, dass jede Autorin und jeder Autor nur über das schreiben darf, was er erlebt hat oder darum, dass Literatur nur etwas Allgemeingültiges erzählen darf. Es geht in der Debatte darum, welche Stimmen in dem Feld dominant sind. Und das sind immer noch weiße Autorinnen und Autoren. Sie sind diejenigen, die die Publikationsmöglichkeit bekommen.“
Ich kann dieser Argumentation insofern folgen, als dass es sicher wünschenswert wäre, wenn Autor*innen nicht-weißer Herkunft eine gleiche Repräsentanz auf dem Buchmarkt bekommen würden, wie weiße Autor*innen.
Aber ich halte es für fatal, einer Schriftstellerin vorzuschreiben, sie dürfe in ihren Romanen nur in ihrer eigenen kulturellen Herkunftswelt bleiben. Ich denke, dass gerade die Auseinandersetzung mit dem „Fremden“ für jedes Individuum (schreibend oder lesend) eine Erweiterung des eigenen Horizontes ist, Vorurteile abbaut und Toleranz und Verständnis für andersartige Kulturen und Menschen ermöglicht.
Umgekehrt würde ein Rückzug und eine Beschränkung auf den eigenen bekannten Kulturraum eine gedankliche Verarmung bedeuten – es führt zu Engstirnigkeit und Intoleranz.
Was ich allerdings auch feststellen kann, wenn ich mir die populäre Frauenliteratur ansehe: Es gibt ein breites Segment von „exotischen“ Frauenromanen, die alle nach demselben Strickmuster funktionieren: Eine weiße Frau aus Europa (meist Engländerin) kommt in ein „exotisches“ Land (Indien, Orient, Afrika, Australien, Neuseeland) und führt dort irgendeine Plantage (meistens wird Tee angebaut, manchmal auch Schafe gezüchtet). Die weiße Frau lernt die dortigen Bräuche kennen (nicht selten pflegen die „Eingeborenen“ menschenunwürdige Rituale, die aus Sicht der moralisch überlegenen Christen abgeschafft gehören) und findet Erfüllung mit einem heißblütigen „exotischen“ (= erotischen) Mann – der natürlich auch ein Klischee aus einer Frauenphantasie ist.
Fast immer spielen diese Romane auch in der Kolonialzeit, geben also die historischen Begebenheiten insofern korrekt wieder – aber dabei voller Klischees und aus westlicher Sicht. Hierbei wird das koloniale Verständnis in romantisierter und unkritischer Weise fortgeschrieben und für moderne Frauen in den Köpfen neu verankert.
Ich verspüre keinerlei Bedürfnis, selbst einen Roman nach diesem fragwürdigen und überholten Muster zu schreiben.
Aber passt dieses Tabu der kulturellen Aneignung auch auf die deutsch-deutsche Geschichte?
Laut der Agentin: ja. Gehen viele Menschen 30 Jahre nach der Wiedervereinigung immer noch von einem Über-Unter-Ordnungsverhältnis zwischen West- und Ostdeutschland aus? Offenbar wird auf dem Buchmarkt davon ausgegangen.
Ich finde das erschreckend und weigere mich, das zu akzeptieren. Wenn ich also irgendwann meinen Ost-Berlin-Roman schreibe, dann werde ich dafür genauso gewissenhaft recherchieren, wie für jeden anderen historischen Roman – ob Schauplatz und Figuren sich in Westdeutschland, Ostdeutschland oder sonst wo auf der Welt befinden, macht für mich keinen Unterschied!
Ich bin sogar der Meinung, dass gerade die Distanz zu der Gesellschaft und Kultur den Blick schärfen kann, als Beobachterin sehe und verstehe ich mehr, als wenn ich selbst mitten drinnen bin.
Sehr gute Beispiele hierfür sind der Roman „Was vom Tage übrig blieb“ („The Remains of the Day“) von Kazuo Ishiguro und der Film „Sense and Sensibility“ vom Chinesen Ang Lee – beides Werke, die ich sehr beeindruckend und gelungen finde.
Im Fall von Kazuo Ishiguro hat seine japanische Herkunft sicherlich dazu beigetragen, dass er die britische Gesellschaft mit besonders scharfen Augen und feinem Gespür für deren Eigenheiten wahrgenommen hat. In beiden Fällen gehören Autor und Regisseur nicht (originär) dem englischen Kulturkreis an und haben gerade deswegen ein hoch sensibles Porträt dieser Gesellschaft gezeichnet.
Trotz all meiner Überlegungen: Der Fakt bleibt, dass der Buchmarkt (angefangen bei den Literaturagent*innen) diese ideale Autor*innenfigur verlangt.
Was ist also der Ausweg aus diesem Dilemma, wenn ich über den Tellerrand blicken möchte und mich beim Schreiben nicht auf meine eigene kleine Erfahrungswelt beschränken will?
Ich schreiben nicht das Buch, das zu mir passt, sondern die Autorenbiografie, die zu meinem Roman passt!
So machen es die Verlage scheinbar ohnehin: Anders kann ich mir nicht vorstellen, dass die Vita der Autor*innen immer so haargenau auf den Romaninhalt passt. Da hat jemand genau das passende Hobby oder Beruf, lebt oder bereist ständig den Schauplatz – zu viele Zufälle, um wirklich wahr zu sein.
Manche Verlage gehen sogar soweit, die Figur des Autors komplett zu erfinden. Das fängt schon beim Pseudonym an: Ein klangvoller Name muss her, der Assoziationen weckt, die zum jeweiligen Buchgenre passen.
Aber manche gehen noch weiter. So wie die Lektorin und Verlegerin Daniela Thiele, die für ihren Erfolgsroman „Das Lächeln der Frauen“ den Autor Nicolas Barreau in einem genialen Marketing-Schachzug erfand. Eine Biografie (junger Franzose) passt zum Setting von Paris, dazu noch ein attraktives Bild aus einer Datenbank: Fertig gebacken ist ein Autor, der Frauenherzen höher schlagen lässt.
Ich weiß noch, dass mir dieser Roman gut gefallen hat und ich gedacht habe: Erstaunlich, dass so ein junger Mann solch ein Frauenversteher ist. Mir kam die Sache damals schon nicht ganz koscher vor, ich hatte den Verdacht, dass ein Deutscher sich als Franzose ausgibt, weil im Roman die totale Touristen-Sicht auf Paris serviert wurde. Dass aber in Wahrheit eine Frau dahinter steckt, hätte ich mir damals nicht träumen lassen.
Das Täuschungsmanöver blieb nicht unentdeckt, was aber dem Erfolg von „Nicolas Barreau“ keinen Abbruch getan hat – seine Romane verkaufen sich nach wie vor bestens.
Was lerne ich also aus alledem: Ich werde auch in Zukunft darüber schreiben, was mich anzieht und fasziniert und wofür ich brenne. Egal, ob meine Herkunft und Biografie zum Stoff und den Figuren passt. Ich muss mich als Autorin einfach gleich mit neu erfinden.
Liebe Ulrike
Deine unermüdliche Schreiblust möge Dir erhalten bleiben, egal ob Pitches auf taube Ohren stoßen! Wie machen es eigentlich Autor*innen des Nature Writing? Dürften nur Bäume über den Wald schreiben oder reicht es, Papier zu benutzen?
Herzlich, Urs
Vielen Dank lieber Urs! Super Beispiel: Wenn ich über Bäume schreiben will, dass muss ich mindestens 1 Jahr selbst als Baum gelebt haben. 😉 Ich melde mich mal zum Praktikum im Wald bei Frau Dr. Buche an.
Hallo liebe Ulrike, hallo in die Runde,
ein spannendes Thema – du bringst es auf den Punkt.
Es ist eine Doppelmoral seitens der Agenturen und Verlage, dass sie einerseits von aufstrebenden (Debüt-)Autorinnen und Autoren verlangen, nur über Dinge aus der eigenen Lebenswelt zu schreiben, andererseits aber bei etablierten Autorinnen und Autoren jeden schlecht recherchieren und rassistisch-kolonialistischen Mist (siehe z. B. die Sarah Lark Romane über Neuseeland: neulich habe ich einen davon gelesen und nur mit den Ohren geschlackert über das abwertende und in Kolonialzeitklischees verfangene Bild der Maori, das darin gezeichnet wird…) ohne kritisches Lektorat pushen und auf Bestsellerliste bringen.
Und viele Verlage scheuen sich nicht, für die eigenen Goldesel im Stall zum Zweck besserer Vermarktung die passende Autor*invita zu fabulieren. Öfter zu lesen: Die Autorin, die auf dem Dachboden die Briefe ihrer Oma gefunden hat und dann ihre Familiengeschichte recherchiert hat und so auf den Romanstoff gekommen ist. Alles klar.
Erst neulich habe ich wieder bei einem Unterhaltungsroman für Frauen (Romantik im heutigen Madrid und Granada – voller Klischees über das ach so romantische Gitano- / Zigeunerleben mit Flamencotanz, heißblütiger Liebeslust und übersinnlicher Magie) festgestellt, dass Name und Foto der jungen schönen spanischen Autorin fake sind (attraktives Portrait aus einer Bilderdatenbank im Einband abgedruckt) und dass sich hinter dem Pseudonym eine ältere Dame, etablierte Schriftstellerin, verbirgt. Dass die fake Autorin nicht wirklich Chefredakteurin des spanischen Ola-Magazins ist, so wie die Protagonistin im Roman, merkte ich dann auch leider sofort an der fehlenden Sachkenntnis rund ums Journalistinnenleben und Redaktionsgeschäft. Da kenne ich mich besser aus.
Im Fall Daniela Thiele als Nicolas Barreau: Ja, ziemlich dreiste Erfindung mit dem jungen Pariser Schönling, und auch so zu tun, als gäbe es ein französischsprachiges Original, das übersetzt wurde. Am Stilistischen war für mich jedoch gleich zu merken, dass die Originalsprache Deutsch. Und der Blick auf Paris: oberflächliche Kenntnisse einer deutschen Touristin, aber clever gemacht, gut wiedererkennbar für deutsche Leserin. Der Traum Deutscher von Paris. Aber wenn man selbst Verlagschefin ist, geht das halt. Wobei Daniela Thiele schon gut schreiben kann. Schade, dass sie sich als Mann ausgeben muss, damit die weiblichen Leserinnen den gleichen Inhalt toller finden, bloß weil die romantischen Gedanken angeblich von einem Autor stammen, in den sie sich selbst beim Lesen verlieben. Die Figur des dreamy Ich-Erzähler-Protagonisten und des Autors verschmelzen dabei. Einerseits denke ich: Warum nicht? Ich selbst habe ja auch Spaß beim Lesen und Träumen mit Nicolas Barreau.
Andererseits denke ich: Das Ändern des Geschlechts für bessere Vermarktung scheint mir ein Rückschritt um hunderte von Jahren zu sein, zurück in Zeiten, als weibliche Autorinnen nur unter dem Pseudonym eines Mannes veröffentlichen konnten. Z. B. veröffentlichten die Schwestern Charlotte, Emily und Anne Brontë zuerst ihre Arbeiten unter den männlichen Pseudonymen Currer, Ellis und Acton Bell. Und Louisa May Alcott konnte ihre gothic novels auch nur als Mann auf den Markt bringen, eine Frau durfte über so etwas nicht schreiben.
Auch heute noch: z. B. veröffentlichte J.K. Rowling ihr Krimi-Debüt The Cuckoo’s Calling unter dem Pseudonym Robert Galbraith. Wahrscheinlich zieht es bei männlichen Lesern besser, wenn ein Mann über harte Sachen schreibt.
Denken die heutigen Leserinnen und Leser wirklich so in diesen alten Zuschreibungen von bestimmten Themen zu bestimmten Geschlechtern – oder sind das nur überkommende Klischees und Schubladen, die in der Verlags- und Vermarktingsmaschinerie verankert sind?
Thema eigene Lebenswelt:
Ich finde das Argument zulässig, dass das Schöpfen aus der eigenen Lebenswelt einem Roman das bringt das letzte Quäntchen Authentizität bringt. Ich stelle durchaus als Leserin positiv fest, wenn ich merke, dass eine Autorin oder ein Autor wirklich Ahnung hat von den beschriebenen Berufswelten, Handlungsorten und Menschen. Gerade bei der kulturellen Lebenswelt oder (sexuellen) Identität wird es schwierig, wenn es von einem Außenstehenden ein schlechtes Imitat oder eine übergestülpte Sichtweise ist. Zum Thema kulturelle Aneignung hast du ja schon viele wichtige Aspekte genannt. Gerade bei Romanen über das Leben indigener Völker, ethnischer Minderheiten oder zur LGBTQ+ Lebenswelt finde ich die own voice Autorinnen und Autoren sehr wichtig – diese würden einen größeren Raum auf dem Buchmarkt verdienen.
Ich stimme dir jedoch zu, dass es für Schreibende keine Stoppschilder, wie du es oben schilderst, geben sollte. Eine wirklich gute Autorin kann auch durch tiefgehende Recherche und Interviews mit Menschen aus dieser anderen Lebenswelt ein authentisches Bild zeichnen. Wir reden hier ja auch von Fiktion und Unterhaltungsliteratur nicht von Geschichtsschreibung mit Faktenanspruch. Wobei ja auch die offizielle Geschichtsschreibung total subjektiv und ideologisch eingefärbt ist und immer von den Siegern geschrieben wird.
Wünschenswert ist, dass Leserinnen und Leser die Kompetenz haben, sich darüber bewusst zu sein, dass sie gerade etwas Erfundenes lesen, das durch die Augen einer Autorin gefiltert und aufbereitet wurde – insbesondere bei historischen Romanen oder solchen, die den Anspruch erheben, einen gut recherchierten Einblick in diese bestimmte Welt zu geben.
Bei aller Reflexion über das Gelesene: Natürlich ist es auch schön, in eine gute Story einzutauchen und zu genießen.
Für die Zukunft des Buchmarkts wünsche ich dir als Autorin und mir als Leserin allerdings, dass es mehr Spielraum für Neues gibt und dass die veralteten, starren Einteilungen nach Genres, Gender- und Kulturklischees und Identitäten von Romanfiguren und Autorinnen und Autoren ebenso wie die formelhaften Erfolgsrezepte für Storys aufbrechen und dass mehr kreative Freiräume und vielfältigere Geschichten entstehen werden.
Viele Grüße
Dorit
Vielen Dank liebe Dorit! Sehr spannend, was du schreibst. Ja, es ist wirklich empörend, wie weibliche Schriftstellerinnen sich früher bis heute noch in bestimmte Genres nur mit männlichem Pseudonym vorwagen dürfen, weil über „harte“ Sachen angeblich nur Männer glaubwürdig schreiben können. Die Buchbranche ist erschreckend konservativ und der Feminismus ist dort offenbar noch nicht durchgedrungen. Wenn ich mir die Webseiten der literarischen Agenturen ansehe, ist meistens ein Mann der Boss und die braven Arbeitsbienen von Lektorinnen sind Frauen. Warum diese Lektorinnen nicht mehr für Geschlechter-Gleichberechtigung kämpfen, verstehe ich nicht. Es ist noch ein langer Weg…
Liebe Ulrike,
ein spannendes Thema, das Du da aufgreifst.
Ich habe bisher eigentlich deshalb zu einem Buch gegriffen, weil mich die Geschichte, die erzählt wird, interessiert hat. Erst nach dem Lesen habe ich manchmal ein wenig über den Autor/die Autorin recherchiert. Ganz ehrlich, von wem ein Buch stammt ist mir erst einmal nicht wichtig. Wenn ich allerdings so richtig darüber nachdenke, dann werde ich wohl bei meiner Auswahl schon manipuliert. Es gibt Tische mit ‚Frauenbüchern‘ in der Buchhandlung, die immer schöne bunte Cover haben und natürlich auch einen Frauennamen als Autorennamen ausweisen. Auch historische Bücher sind bunt gecovert und angeblich von Frauen geschrieben. Wobei sich z.B. Iny Lorentz als Pseudonym erweist und ein Ehepaar gemeinsam schriftstellert. Von denen habe ich nur ein Buch angefangen, das mir nicht gefallen hat – wobei ich um das Pseudonym noch nicht wusste. Also bei diesen Tischen lande ich, wenn ich was zur Entspannung suche, wenn ich mich ein wenig aus meinem Alltag wegbeamen will. Ansonsten komme ich zu Büchern über Empfehlungen aus dem Radio, der Zeitung oder von Freunden, wobei mir der biografische Background des Autors egal ist.
Aber offensichtlich scheint diese Verlags-Branche jedenfalls in der Vermarktung noch an reichlich vielen Klischees zu hängen. Das ist empörend! Das manche sich dann die passende Biografie zu ihrem Roman erfinden ist irgendwie nachvollziehbar. Natürlich verfestigt man damit zunächst einmal das bestehende Wertesystem. Aber irgendwie dann auch gut, wenn es sich durch Aufdeckung des Schwindels ein wenig selbst ad absurdum führt.
Was ernsthaft zu erörtern bleibt ist sicher die Frage, inwieweit kann ich mich in Lebenswelten, Lebenserfahrungen hineinversetzen, die ich so nicht gemacht habe. Kann ich glaubhaft z.B. ein Autorennen beschreiben, wenn ich ein solches nie bestritten habe, aber einen Führerschein besitze und jährlich einige 10.000 km fahre?? Das weiß ich nicht, weil ich nie auf die Idee käme, ein Autorennen zum Inhalt eines Romans zu machen. Aber wenn ich für ein Thema brenne, – so wie Du für Deinen Antarktis-Roman oder für Deine Dirigentin – , dann kann ich mich in das Thema ganz tief hinein versenken und meinen Figuren nachspüren. Heute haben wir unendliche Recherchemöglichkeiten, um sie mit dem nötigen Hintergrundwissen, glaubhaft in unseren Romanen agieren lassen. Das macht nämlich unsere Kreativität als Schriftsteller:innen aus! Das war früher auch schon mit eher beschränkten Recherchemöglichkeiten machbar. Karl May war kein Indianer (ok, ist heute keine politisch korrekte Bezeichnung mehr, aber egal), er war nicht einmal in Amerika, aber er fasziniert heute noch mit seinen Geschichten über Generationen hinweg. Der ist doch ein genialer Gegenbeweis für diese ganze Forderung, schreibe nur das, was Du selbst erlebt hast.
Ich mach Schluß, bevor ich mich hier noch weiter in Rage schreibe.
Bleib weiter bei Dir, wenn Du schreibst!
Liebe Grüße
Anne
Vielen Dank liebe Anne! Mir geht es wie dir, dass ich mich (früher) beim Buchkauf nicht dafür interessiert habe, wer die Autorin/der Autor ist, sondern mich vom Klappentext und Cover habe leiten lassen und das Buch ausgewählt habe, was mich thematisch angesprochen hat. Wenn mir ein Buch dann gefallen hat, so habe ich nach weiteren Romanen von derselben Autor*in gesucht. Aber die Marketing-Manipulation zieht sicherlich subtil ihre Fäden – schon bei der Auswahl durch die Buchhändler aus den Verlagsprogrammen. Schließlich landet nur ein Bruchteil exponiert auf dem Büchertisch einer großen Buchhandlung. Hier wird immer noch stark auf bekannte Namen gesetzt.
Mit Karl May hast du ein tolles Beispiel genannt. Er hat ganze Generationen mit seinem Bild vom Wilden Westen und den edlen (Winnetou) oder wilden Indianern geprägt, obwohl er nur wenig Ahnung vom echten Leben der American Natives hatte.
Liebe Ulrike,
ach Mensch, ich wähnte dich schon als Erfolgsautorin, während ich wegen Gemüse, Unkraut, Job und Sachbuch mit meinem Roman nicht weiterkomme. Es tut mir ehrlich leid, gerade die Pinguine halte ich für absolut liebens- und lesenswert. Bitte gib nicht auf und lass dir v.a. nicht deine Schreiblust nehmen! Weitestgehend stimme ich dir zu: Ja, eine Autorin darf sich jeden Stoff vorknöpfen, wo kämen wir denn sonst hin? Und ich glaube, wenn du Genre-Literatur schreibst, ist die Biografie seltener ein Vermarktungsaspekt (oder sie wird halt passend gemacht). Näherst du dich aber der Zeitgeschichte und v.a. der „literarischen“ Belletristik an, dann spielt die Autorin zunehmend eine Rolle – diese Erfahrung habe ich im letzten Jahr in zwei Seminaren gemacht. Das mag uns gefallen oder nicht.
Und wenn du jetzt eine Westfrau durch irgendwelche Umstände (die RAF Leute waren ja schon öfter Beispiele) in die DDR versetzt, sie erleben lässt? Nur so eine Idee.
Ich bin beinahe froh, autobiografisch zu schreiben. Doch wetten, wenn es ans Verkaufen geht, ist das dann auch wieder nix?
Gespannt warte ich auf die neu geschaffene Autorin, LG Amy
Vielen Dank für deine ermutigenden Worte liebe Amy! Das ist eine gute Idee, sich als ausgewiesene West-Erzählerstimme literarisch in die DDR zu wagen. Es ist schon eine bittere Pille, dass auf dem Buchmarkt nicht nur die Qualität des Textes (und des Themas) zählt, sondern so viele andere – oberflächliche und vermarktungsrelevante – Faktoren eine Rolle spielen, ob ein Manuskript verlegt oder abgelehnt wird.
Ich wünsche dir für dein autobiografisches Romanprojekt wieder neuen Energieschub. Schreibst du auch an einem Sachbuch? Am besten scheint mir, man blendet beim Schreiben die Hürden der Veröffentlichung erstmal aus, um sich nicht selbst zu sehr zu hemmen.