Warum hier:
Wenn ich an Schriftsteller und Theatertradition in Berlin denke, kommt mir schnell Bertolt Brecht (1898-1956) in den Sinn. In der Schule musste ich sein Theaterstück „Der gute Mensch von Sezuan“ lesen – und konnte es nicht ausstehen. Zwei Jahrzehnte später ist es an der Zeit, dass ich Brecht eine 2. Chance gebe. Deshalb mache ich mich heute auf eine Inspirationsreise an einen Ort seines Schaffens.
Zur Einstimmung:
Das Theater am Schiffbauerdamm beherbergt seit 1954 das von Bertolt Brecht gegründete Berliner Ensemble (BE).
Der Ort:
Brecht sitzt auf einer Bank und neben ihm ist noch ein Platz frei. Aber ich mochte mich nicht neben ihn setzen – er ist mir unheimlich. Sein bronzenes Gesicht schaut mit fast geschlossenen Augen auf mich herab. Seine mächtigen Beine und Hände deuten auf Tatkraft hin, und doch wirkt seine Körperhaltung resigniert auf mich. Im Kreis um ihn herum wie in einer Totenwache stehen schwarze Steinblöcke mit eingravierten Zitaten von ihm. Ich lese sie. Es geht um die Veränderbarkeit der Welt, über Fortschreiten, ein Glaubensbekenntnis an die sanfte Gewalt der Vernunft. Das erscheint mir alles fern und abstrakt.
Aber halt, hier stehen Worte, die mich direkt ansprechen:
„Die heutige Welt ist den heutigen Menschen nur beschreibbar, wenn sie als eine veränderbare Welt
beschrieben wird. Der Unterschied liegt zwischen «Widerspiegeln» und «den Spiegel vorhalten».“
Trifft das auf mich zu, wenn ich schreibe? Darüber muss ich erst mal nachdenken.
Neben Brechts Statue ragt das Theater mit farbloser Fassade hoch, auf der Spitze des Eckturms dreht sich das metallische Emblem „Berliner Ensemble“. Warum muss ich dabei an den Mercedes-Stern denken? Brecht wäre darüber bestimmt empört. Ich werfe einen Blick in das Foyer des Theaters. Holztüren, Stuckdecken und prächtige Kronleuchter – alles spricht von Tradition und gepflegter Theaterkultur. Ich vermisse Schlichtheit und Radikalität. Das Gespenst des Kommunismus ist wohl ein bisschen bürgerlich geworden.
Ich folge dem Schild „Kantine“ in einen Innenhof. An der Schranke sagt mir die Pförtnerin den Weg: „Im roten Haus die Treppe runter“. Ziemlich versteckt hinter Bauteilen finde ich die Treppe in den Keller.
Lautes Menschenlachen schallt mir entgegen. Der Raum wird von rot gepolsterten Bänken entlang der Wände dominiert, Holzstühle und Tische verbreiten eine bodenständige Atmosphäre, helle Wände mit bunten Szenenbildern der Inszenierungen des Berliner Ensembles säumen die Wände.
Am heutigen Nachmittag sitzen einige Gruppen von älteren Herrschaften an den Tischen, in angeregte Gespräche vertieft, jeder mit einem Glas Bier vor sich. Bildungssenioren-Stammtisch?
Ich hole mir eine Johannisbeerschorle an der Theke und mache es mir auf der Polsterbank gemütlich. Über mir prangt ein Szenenfoto, auf dem Anzugträger ein rotes Banner mit den Worten „Solidarität“ hochhalten.
Jetzt denke ich noch mal über Brechts Zitat von vorhin nach. Habe ich mit meiner Beschreibung dieses Ortes dem Leser den Spiegel vorgehalten? Ach, Tiefgründigkeit passt so schwer zu Johannisbeerschorle.
Jetzt haben sie auch noch Musik angeschaltet, was die Geräuschflutung noch steigert. Gitarrenklänge zu spanischem Gefühls-Pop. Ich will nach Südamerika – vielleicht nach Argentinien und mich dort in ein Che-Guevara-Café setzen und dem Säbelrasseln des Klassenkampfes lauschen.
Auf Heller und Cent:
Günstigstes Getränk: Tasse Kaffee: 50 Cent (BE), 1 € (Gast)
Teuerstes Getränk: Glas Sekt: 3,50 € (BE), 4,50 € (Gast)
Das gewisse Extra:
Bevor ich gehe, frage ich den jungen Mann an der Theke nach der Musik. Da singt eine Berliner Musikerin, die nebenbei auch hier kellnert, aber nicht heute. Er würde mir die CD ja schenken, aber sie ist (noch) ein Unikat. Er schreibt mir den Namen der Sängerin auf einen Zettel. Zum Schluss kommt also doch noch ein bisschen Künstler-Flair auf. So ist Berlin.
Meine Sterne-Wertung für den Schreibort:
Produktivität („wordcount“) ★★☆☆☆
Inspiration ★★★☆☆
Bequemlichkeit ★★★★☆
Freundlichkeit ★★★★★
Sehr anschaulich und unterhaltsam geschrieben. In dem Theater habe ich ein klassisches Stück gesehen, ohne brechtsche Verfremdung, nur die werktreuen Texte. Vielleicht war das die Verfremdung als Kontrast zum heute normalen Regietheater. In dem RotenSalon war ich mal zu einer Lesung. Das und die Stimmung des Publikums war Kummer über den verheerenden Fall der Mauer.
Das mit dem Spiegel- Vorhalten als Literatur macht ja nur Sinn, wenn der Gespiegelte nicht weiß, wie er aussieht. Ein Zerrspiegel als pädagogische Maßnahme ist nicht nett.
Ich habe den Eindruck bekommen, dass die Kantine ein guter Ort zum Schreiben mancher Sachen ist.
Ich habe auch den Eindruck, dass eine klassische Inszenierung heutzutage schon etwas protesthaftes hat gegen das etablierte Regietheater.
Liebe Ulrike,
toll, du hast dein Blog eingerichtet und schon angefangen. Die Idee mit den Schreiborten finde ich super, (ich brauche noch ein bisschen…).
Am Berliner Ensemble radle ich oft vorbei, war aber Ewigkeiten nicht mehr dort im Theater und auch noch nie in der Kantine. Dein Beitrag hat mir Lust gemacht, mal vorbeizuschauen. Falls du noch weiter auf den Spuren von Brecht dich bewegen möchtest, kann ich dir, Luftlinie vom Berliner Ensemble nur ein paar hundert Meter entfernt, einen Besuch auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof ( https://de.wikipedia.org/wiki/Friedhof_der_Dorotheenst%C3%A4dtischen_und_Friedrichswerderschen_Gemeinden ) empfehlen. Dort befindet sich das Grab von Bertolt Brecht. Und direkt neben dem Friedhof befindet sich das Brecht-Haus, in der Chausseestr. 125, in dem das Literaturforum im Brecht-Haus oft sehr interessante Lesungen und Buchvorstellungen anbietet.
So long, ich freue mich auf deine weiteren Beiträge.
Liebe Grüße
Sabine
Vielen Dank für Deine guten Empfehlungen. Ich werde weiter aus Brechts Spuren wandern.
Liebe Ulrike
Ich freue mich, mit Dir wöchentlich auf Erkundungstour durch Berlin zu gehen!
Liebe Grüße, Urs
Danke lieber Urs.
Liebe Ulrike,
ich folge dir schon nach den ersten Worten und Bildern, bin lit dir da und grnieße diesen ersten Ort in Wort ubd Bild; ich werde mich freuen, die Orte dann selbst aufzusuchen…
Was für eine tolle Idee, die andere wie mich inspirieren wird, die Orte selbst und schreibend kennenzulernen.
Ich freue mich schon auf den nächsten Montag, herzliche Grüße nach Berlin, Sabine.
Danke liebe Sabine. 🙂
Liebe Ulrike,
die Wolken haben mich sofort hineingezogen in deine Worte. Was eine Idee ! Ich werde dir folgen von Ort zu Ort und gespannt sein auf die Bilder und deinen Text.
Sehr ansprechend fand ich die Sternchenbewertung der Schreiborte .
alles Liebe
Hedda
Danke liebe Hedda. Bin auch sehr gespannt auf Deinen Blog.
Liebe Ulrike,
mir ging es wie Hedda. Beim Öffnen Deines Blogs war ich sozusagen im Himmel. Das Wolkenbild gefällt mir so gut. Da ich ja nun außer Studentin in Berlin auch Touristin in Berlin bin, bin ich sehr gespannt auf Deine weiteren Orte und werde sie sicher bei den nächsten Präsenzwochenden in mein Touri-programm aufnehmen.
liebe Grüße aus Deiner alten Heimat (?) Frankfurt, wobei ich eigentlich gar nicht weiß, ob es für Dich auch Heimat war
Anne
Vielen Dank Anne. So richtig heimatlich habe ich mich in Frankfurt nie gefühlt. Vielleicht hätte ich dort auch einen Blog schreiben sollen… Aber wenn ich im Mai zu Besuch dort bin, kommt mir alles bestimmt ganz nostalgisch schön vor. Viele Grüße an den Main
Liebe Ulrike,
mir gefällt, wie du uns in Wort und Bild mitnimmst an den Ort und dabei deine Eindrücke und Gefühle schilderst. Das macht Spaß zu lesen.
Die Assoziation mit dem Mercedes-Stern hatte ich tatsächlich auch schon öfter, als ich am Schiffbauerdamm war 😉
Aber wie schade, dass du den Guten Menschen von Sezuan nicht mochtest – es ist bis heute mein Lieblingsstück von Brecht. Ich habe auch einmal eine Inszenierung im BE gesehen. Allerdings wird sich der Autor in seinem Grab auf dem Dorotheenstädtischen mit Befremden umhergewälzt haben …
Schöne Grüße
Robert
Vielen Dank Robert. Ich werde mir demnächst mal eine Brecht-Aufführung im BE ansehen. Vielleicht gefällt mir sogar „Der gute Mensch von Sezuan“ heutzutage besser. Der Geschmack verändert sich ja im Laufe der Jahre. 🙂