Hans im Glück – eine Aussteigergeschichte über heitere Besitzlosigkeit

Hans im Glück ist kein typischer Märchenheld, denn er sammelt weder Schätze noch Ruhm an und gewinnt auch nicht das Herz einer schönen Frau. Nein, er ist ein Trottel, der seinen Verdienst der letzten sieben Jahre in kürzester Zeit durch dumme Tauschgeschäfte verliert und mit leeren Händen zu seiner Mutter zurück kehrt – mittellos, aber glücklich. Ist er gerade deshalb ein Vorbild in unserem Zeitalter des Konsumzwangs und der Erfolgsversessenheit?

Seine Geschichte ist schnell erzählt:

Hans war sieben Jahre in der Lehre eines Handwerkers. Zum Abschluss erhält er seinen Lohn in Form eines Goldklumpens von der Größe seines Kopfes. Auf dem Weg nach Hause wird ihm das Tragen beschwerlich und so tauscht er sein goldenes Vermögen gegen ein Pferd ein. Er folgt also einem momentanen Impuls (Bequemlichkeit) und stellt bei diesem Tauschgeschäft keine übergeordnete Wertkalkulation an.

Auf seinem weiteren Weg tauscht er das Pferd gegen eine Kuh, die Kuh gegen ein Schwein, das Schwein gegen eine Gans und die Gans gegen einen Schleifstein. Wir als Leser*innen merken sofort, dass er mit jedem Tauschgeschäft einen herben Verlust macht. Aber Hans ist jedes Mal sehr zufrieden damit.

Wenn Hans selbst seine Geschichte erzählt, klingt sie ganz anders – nämlich so, als seien ihm alle seine Besitztümer geschenkt worden (weil er sie nicht kaufen musste). Das zeigt eindrücklich: Erfolg oder Misserfolg, Glück oder Unglück – sie sind keine festen Messwerte, sondern Variablen, die alleine von der Perspektive abhängen, aus der man sie betrachtet.

Scherenschleifer: »Aber wo habt ihr die schöne Gans gekauft?«

Hans: »Die hab ich nicht gekauft, sondern für mein Schwein eingetauscht.« »Und das Schwein?« »Das hab ich für eine Kuh gekriegt.« »Und die Kuh?« »Die hab ich für ein Pferd bekommen.« »Und das Pferd?« »Dafür hab ich einen Klumpen Gold, so groß als mein Kopf, gegeben.« »Und das Gold?« »Ei, das war mein Lohn für sieben Jahre Dienst. (…) Hans lud den Stein auf und ging mit vergnügtem Herzen weiter; seine Augen leuchteten vor Freude, »ich muß in einer Glückshaut geboren sein«, rief er aus, »alles was ich wünsche, trifft mir ein, wie einem Sonntagskind

Zu Schluss fällt Hans der Schleifstein (der für ihn im Übrigen auch keinen Nutzwert hat, da er dieses Handwerk gar nicht gelernt hat) in einen Brunnen.

»Hans, als er sie mit seinen Augen in die Tiefe hatte versinken sehen, sprang vor Freuden auf, kniete dann nieder und dankte Gott mit Thränen in den Augen, daß er ihm auch diese Gnade noch erwiesen und ihm auf eine so gute Art und ohne daß er sich einen Vorwurf zu machen brauchte, von den schweren Steinen befreit hätte; das einzige wäre ihm nur noch hinderlich gewesen. »So glücklich wie ich«, rief er aus, »gibt es keinen Menschen unter der Sonne.« Mit leichtem Herzen und frei von aller Last sprang er nun fort, bis er daheim bei seiner Mutter war.«

Da kann ich nur Staunen und Schmunzeln. „Frei von aller Last“ hallt in mir nach. Ja, das ist ein Wunsch, der wohl in so manchem zeitgenössischen Menschen rumort. Leistungsdruck, Burn-Out, Statussymbole, Konsumterror – das sind die Zeichen unserer Zeit.

Hans ist die Gegenfigur dazu – seine Geschichte die Mutter aller Aussteigerphantasien.

Ja, der naive Hans taugt als Lichtgestalt für alle Menschen, die sich von den Fesseln des Materialismus und der persönlichen Versklavung im Dienste der Karriereleiter befreien möchten.

Geschichten über die menschliche Sinnsuche sind heute allgegenwärtig.

Kürzlich habe ich den Film Into the wild“ (2007) gesehen – ein Zivilisationsflucht-Drama, das auf einer wahren Geschichte basiert: Der 22-jährigen Student Christopher McCandless (er nennt sich „Alexander Supertramp“) verlässt nach dem Collegeabschluss 1990 seine Familie, sagt sich von allem Besitz los (spendet sein Vermögen), lässt sein Auto zurück, behält nur die Kleidung auf seinem Körper und einen Rucksack, er wandert und trampt zwei Jahre lang quer durch die USA, dabei begegnet er einigen Menschen, die ihm Formen des Zusammenlebens anbieten, aber für ihn ist die Einsamkeit die erstrebte Lebensform.

Schließlich findet er in der Wildnis von Alaska einen verlassenen Campingbus, in dem er überwintert. Abgeschnitten von der Zivilisation denkt er über den Sinn des Lebens und das Glück nach (braucht man andere Menschen, um glücklich zu sein?). Aber die materiellen Bedürfnisse des Menschen werden ihm zum Verhängnis: Er leidet Hunger und stirbt im Laufe des Winters an Auszehrung und an einer Lebensmittelvergiftung (1992). Aus seinen Tagebuchaufzeichnungen geht hervor, dass er kurz vor seinem Tod zu der Erkenntnis gelangt sei, dass man nur glücklich wird, wenn man das Glück mit Anderen teilen kann.

Demnächst kommt der Film „100 Dinge“ (von und mit Florian-David Fitz und Matthias Schweighöfer) ins Kino, in dem zwei Männer aufgrund einer Wette alle ihre Besitztümer aufgeben und jeden Tag eines davon zurück bekommen können. In diesem Experiment lernen sie den wahren Wert von Glück kennen. Hier geht es um Besitzlosigkeit, Konsumverweigerung und die Frage, was der Mensch für sein Glück braucht. Die zwei Typen hätten Hans im Glück bestimmt in ihre WG aufgenommen.

Unser Hans jedoch stürzt sich nicht völlig ins materielle Nichts – er kehrt heim an den warmen Ofen seiner Mutter. Diese stelle ich mir als gutmütiges Weiblein vor, die halb blind bei Kerzenschein bis tief in die Nacht Handarbeiten macht, um ihren trotteligen Sohnemann zu ernähren.

„Hans im Glück“ lässt uns nachdenken darüber, was du und ich brauchen, um glücklich zu sein. Welche materiellen und immateriellen Dinge sind es? Im Fall von Hans scheint es seine optimistische Weltsicht zu sein, sein Leben im Augenblick und sein Vertrauen in ein liebevolles soziales Umfeld. Er ist frei von Erwartungsdruck. Hans‘ Glück entspringt seiner inneren Einstellung.

Wie ihr euch denken könnt, juckt es mir in den Fingern, zu diesem Thema meine eigene Märchen-Interpretation zu schreiben.

Holla – da ist mein Märchen schon fertig: Sieben Seiten gefüllt mit Buchstaben. Puh, dauert das Korrigieren aber lang. Ein komischer Vogel besucht mich und bietet mir an, meinen Text gegen einen Tweet zu tauschen. Super: 140 Zeichen leichtes Leseglück. Dann knurrt mein Magen. Kollege Knorr kommt des Wegs und bietet mir an, den Tweet gegen eine Buchstabensuppe zu tauschen. Ein Handel ganz nach meinem Geschmack: In meiner Suppe schwimmen Dutzende von Buchstaben, ich werde satt davon. Wie schön, dass ich mein Märchen jetzt gestärkt noch mal schreiben darf!

Die Buchstaben bleiben dann hoffentlich in meinem Besitz, so dass ihr sie nächste Woche hier lesen könnt.

Die Erfolgsgeschichte der Täuschung – gut gelogen ist halb gewonnen

„Lügen haben kurze Beine!“ Nicht im Märchen! Dort stecken sie in Stiefeln und bringen den Märchenhelden ganz nach oben. So in »Der gestiefelten Kater«. Dieser gut gekleidete Kater ist ein wahres Marketinggenie und sollte jedem Salesman des 21. Jahrhunderts Modell stehen. Im Handumdrehen bzw. Zungeumdrehen schafft der pelzige Stiefelträger es, seinen Herrn vom armen Schlucker zum Großgrundbesitzer, Schlossherrn und Prinzgemahl zu erheben.

Zur Erinnerung: Es war einmal ein Müller, der hatte drei Söhne. Als dieser stirbt, teilen sich die drei Söhne die Erbschaft: der älteste bekommt die Mühle, der zweite den Esel, der dritte den Kater. Der Kater ist gut im Mäuse fangen, aber damit kann der jüngste Sohn wenig anfangen. Er überlegt, sich vom Fell des Katers ein Paar Pelzhandschuhe machen zu lassen. Der Kater ist klug und hält ein Plädoyer um sein Leben:

»Hör, du brauchst mich nicht zu töten, um ein Paar schlechte Handschuhe aus meinem Pelz zu kriegen; laß mir nur ein Paar Stiefel machen, daß ich ausgehen und mich unter den Leuten sehen lassen kann, dann soll dir bald geholfen sein.«

Der Müllerssohn gibt dem Vorschlag aus einem Impuls heraus nach und bald schon marschiert der Kater aufrecht und gestiefelt in die Welt, um für seinen Herrn Werbung zu machen.

Er kümmert sich bestens um die Public Relations, indem er dem amtierenden König Rebhühner als Geschenk seines Herrn bringt, den er als „Graf“ betitelt. Zum Dank sendet der König dem falschen Grafen säckeweise Gold. Aber Zahlungsfähigkeit alleine ist für den Müllersgrafen nur der erste Schritt seines Aufstiegs. Der clevere Kater weiß: Wer ein großer Mann werden will, braucht Statussymbole und eine gesellschaftliche Stellung. „New Money“ hat sich schon immer mittels Ehe in den Hochadel eingekauft.

Wie in einer Reality Soap (selbstverständlich mit Drehbuch) lässt der Miezemeister der Illusion den Müllerssohn nackt in einem See baden und versteckt dessen armseligen Kleider. Als der König in seiner Kutsche vorbei gefahren kommt, erzählt der Kater ihm eine Räuberpistole und der König glaubt alles. Er kleidet den ausgeraubten Grafen (den er als Spender der Rebhühner schätzt) in prächtige Gewänder und lässt ihn in sein Luxusgefährt einsteigen, wo just auch die Prinzessin sitzt.

Jetzt zieht der gestiefelte Kater alle Register einer guten Imagekampagne auf.

So wie Donald Trump sich dreist in die Liste der 400 Superreichen des US-Magazins „Forbes“ geschummelt hat (indem er das Vermögen seines Vaters als sein eigenes deklariert hat), trägt der Kater die Täuschung wie ein Banner vor sich und seinem Herrn her: Er beeinflusst die öffentliche Meinung mittels einer Flüsterkampagne – in Zeiten von Social Media würden seine „alternativen Fakten“ und „fake news“ von unzähligen Followern geteilt werden: Der PR-Kater setzt die Lüge in die Welt, die Wiesen, der Wald, das Schloss (die in Wahrheit alle einem Zauberer gehören) stünden im Eigentum seines Grafen. Die leichtgläubigen Leute geben diese Nachricht ungefiltert an den König weiter, der keine Zweifel an der Echtheit dieser Aussagen hegt.

Mit List bringt der Kater den Zauberer um (als jener sich in eine Maus verwandelt, kann der Kater nochmals auf seine Kernkompetenz zurück greifen) und enteignet ihn somit seiner Habe.

Der Müllerssohn tritt nun als Graf in das unrechtmäßig ergaunerte Gut ein und ist prompt der perfekte Heiratskandidat für die Königstochter. Bald schon ist er selbst König und der gestiefelte Kater wird sein erster Minister.

Was für eine Erfolgsgeschichte! Und alles dank Lüge (der PR-Kater würde es „List“ nennen) und Täuschung („aktive Imagepflege“).

In einigen Märchen finden sich noch weitere Lehrstücke, wie unehrliches Verhalten belohnt wird. So zum Beispiel in »Das tapfere Schneiderlein«. Der Schneider erschlägt sieben Fliegen mit einem handelsüblichen Tuchlappen. Diese Alltagstat bauscht er zur Heldentat auf, indem er sich einen Gürtel (man denke an asiatischen Kampfsport) anlegt, den er mit der Aufschrift „Sieben auf einen Streich“ bestickt.

Diese Übertreibung im Dienste der Selbstvermarktung wird fortan sein Wahlspruch. Im Verlauf der Geschichte erliegt so mancher Gegner dieser vorgetäuschten Heldentat und prüft sie nicht auf ihre Substanz. Stiftung Tapferkeitstest gab es offenbar noch nicht.

Auch die praktische Täuschung beherrscht das „tapfere“ Schneiderlein bestens: Er zerquetscht Käse in seiner Hand, den er für einen Stein ausgibt und er besiegt zwei Riesen, indem er sie gegeneinander aufbringt und sich gegenseitig zerfleischen lässt (so mancher Politiker mag diese Taktik bewundern).

Inspiriert von diesen Lehren gibt es nun mein neustes Märchen:

Der geföhnte Pudel oder Sieben Lügen auf einen Streich

Darin werdet ihr sehen, wie lange die  Lügenbeine tragen und was den Protz zum großen Mann werden lässt…

Ein gewisser Kater schaltet sich ein und übernimmt die Ankündigung:

OUT NOW:  Die sensationelle Neuerscheinung steigt gleich in die TOP 7 der All-time-Märchen-Favoriten ein.

(Räusper) Leider zurzeit nicht lieferbar, da noch nicht geschrieben. Vorbestellung jederzeit möglich.

Coming soon…

Out NOW (really – as of Oct. 7, 2018): 

http://www.ulrikearabella.de/2018/10/07/der-gefoehnte-pudel-oder-mit-siebenmeilenstiefeln-zur-wahren-groesse/

Märchen auf den Kopf gestellt – nicht von guten Eltern

Die Märchenwelt steht Kopf. Marie ist keine schöne Prinzessin, sondern ein ungeliebtes dickes Kind, das mit Vorliebe die Gestalten in ihrem Märchenbuch mit ihren Filzstiften tyrannisiert. Als sie plötzlich selbst in der Märchenwelt landet, wird sie mit ihrer eigenen Not konfrontiert – hierbei sind der hungrige Wolf und der ungeküsste Frosch das kleinste Problem.

„Marie mag keine Märchen“ habe ich gestern fertig geschrieben und bei einem Wettbewerb eingereicht. Die Vorgabe lautete, bekannte Märchen neu zu erzählen („die ganze Wahrheit“).

Bei der Ideensuche für meine Geschichte habe ich die altvertrauten Grimm’schen Märchen wieder gelesen und nach übergreifenden Themen und Verbindungen gesucht. Was treibt die Figuren an und warum kommen sie in Schwierigkeiten?

Es sind Hochmut, Eifersucht, Eitelkeit, Ungehorsam und Übermut, die die Märchenwesen in die Bredouille bringen und die bösen Stiefmütter und Hexen zu ihren Intrigen und Zaubereinen anstacheln.

In „König Drosselbart“ ist die Prinzessin hochmütig, indem sie die Prinzen verspottet und abweist, die um sie werben.

Hänsel und Gretel sowie Rotkäppchen kommen aus Ungehorsam im wahrsten Sinne des Wortes vom Weg ab und müssen dafür bezahlen.

Die Eitelkeit und die Eifersucht treiben die Stiefmutter von Schneewittchen und die Schwestern von Aschenputtel dazu an, diese guten Mädchen ins Unglück zu stürzen.

Sind die Heldinnen und Helden erst einmal in Schwierigkeiten – entweder wegen ihres schlechten Charakters oder durch ihre Neider – müssen sie sich schweren Prüfungen stellen, sich behaupten, Buße tun und geläutert werden, um zum guten Schluss belohnt zu werden.

Ein gutes Beispiel für die Belohnung einer guten Tat findet sich im „Gestiefelten Kater“, wo der jüngste Sohn seinen geerbten Kater nicht zu Handschuhen verarbeitet, sondern das Tier am Leben lässt, das wiederum mit Witz und Betrug dafür sorgt, dass sein Herr zum reichen Landbesitzer und Prinzgemahl wird.

Aber ist das schon das ganze Rezept? Ich drehe und wende die Geschichten und richte meinen Blick auf die Eltern-Figuren. Sind es nicht die nachlässigen Eltern, die Hänsel und Gretel in den dunklen Wald schicken?

Ist es nicht der grausame Vater in „König Drosselbart“, der die Selbstbestimmung seiner Tochter unterdrückt (hat sie nicht das Recht, einen Brautwerber abzulehnen?) und sie zur Strafe dem nächstbesten Bettler mitgibt?

Warum strengt sich der Vater von Dornröschen nicht mehr an, die 13. Fee zum Fest einzuladen (ein zusätzlicher goldenen Teller ließe sich im Königreich doch wohl auftreiben)? Warum setzt sich der Vater von Aschenputtel nicht mehr für seine Tochter ein? Väter schrecken auch nicht davor zurück, ihre Söhne im Kampf um das Erbe gegeneinander antreten zu lassen („Die drei Brüder“, „Die drei Federn“). In „Tischlein deck dich, Goldesel, Knüppelausdemsack“ glaubt der Vater eher dem Lügengemeckere der Ziege, als den wahren Worten seiner drei Söhne und jagt sie einen nach dem anderen mit Schlägen aus dem Haus.

Ganz evident ist das Versagen der Mutter in Rapunzel (die in der psychologischen Deutung mit der Zauberin, die Rapunzel im Turm gefangen hält, identisch ist). Von grausamen Stiefmüttern brauche ich gar nicht erst anzufangen – in „Schneewittchen“ kann man über die fantasievolle Bandbreite an Mordanschlägen auf die Stieftochter staunen (vom Jäger erschießen lassen und Lunge und Leber zum Beweis ausweiden, Erwürgen mit Halskette, mit Apfel vergiften).

Alle Eltern, die in Märchen vorkommen, versagen in ihrer elementaren Aufgabe, ihre Kinder zu beschützen und gut für sie zu sorgen. Oft ist es erst diese Vernachlässigung, die die Kinder in ihre Notsituationen stürzt.

Das bringt mich dazu, die Prämisse des Märchens als Erziehungsstück für Kinder auf den Kopf zu stellen. Wie wäre es, wenn im Märchen mal die Eltern geprüft, geläutert und erzogen würden?

Mit diesen Gedanken im Hinterkopf lade ich euch nun ein, mein Märchen-Remix von Marie zu lesen. Ihr werdet bestimmt einige bekannte Figuren und Themen wieder erkennen.

Marie mag keine Märchen

C – China – Das Land des überwachten Lächelns

Wie weit weg sind wir noch von der totalen Überwachung? Längst bin ich daran gewöhnt, dass Google, facebook und Co. meine Wünsche besser, als ich selbst voraus sieht, weiß, wen ich kenne und wen ich kennen lernen möchte. Kürzlich habe ich eine neue Bekanntschaft gemacht – natürlich im world wide web – mit einem Artikel über die Gesichtserkennung im Klassenraum in China. In einer Schule in Hangzhou hängen drei Kameras über der Tafel und zeichnen die Mimik der Schüler auf, dabei identifiziert die Software 7 verschiedene Emotionen. Ist ein Kind unaufmerksam, meldet der Computer das der Lehrerin. Diese dystopische Aktualität hat mich zum folgenden Gedicht inspiriert.

Das Land des überwachten Lächelns
(Hangzhou)

Chinesische Kinder sind glücklich

glücklicher, als anderswo

 

Chinesische Kinder sind traurig

trauriger, als anderswo

 

Chinesische Kinder sind verärgert

verärgerter, als anderswo

 

Chinesische Kinder sind abgeneigt

abgeneigter, als anderswo

 

Chinesische Kinder sind überrascht

überraschter, als anderswo

 

Chinesische Kinder sind neutral

neutraler, als anderswo

 

Chinesische Kinder haben Gefühle

sieben Arten, so wie anderswo

 

Ihre Gesichter verraten sie

vermessen und ausgewertet, so wie nirgendwo

 

Drei Kameras wachen über Schüler

überwachsamer, als anderswo

 

Die Erkennungssoftware ist klug

klüger, als anderswo

 

Chinesische Schulen sind fortschrittlich

fortschrittlicher, als anderswo

Noch umfassender ist die Überwachung durch das Sozialkreditsystem in China. Hier steht das Sozialverhalten der Menschen unter Bewertung. Für gutes Betragen gibt es Pluspunkte, für Verfehlungen Punktabzüge. Jeder Mensch ist in eine von 4 Klassen eingeteilt (A bis D), je nach Punktestand. Wer nicht in A ist, wird nicht befördert, wer in C abrutscht, wird zusätzlich kontrolliert und wer auf D abgesunken ist, bekommt keine Wohnung, keine Kredite, keinen Job und darf nicht mehr ins Ausland fliegen. Klingt nach George Orwell reloaded?

Ich frage mich, ob wir in Deutschland vor diesem System wirklich sicher sind – wo die meisten Menschen heute schon freiwillig für ein paar Euro ihre Konsumgewohnheiten preisgeben (Payback) und sogar ihre Biodaten per App an ihre Krankenkassen übermitteln würden, damit sie Prämiennachlässe und Boni für gesundheitsförderliches Verhalten (Ernährung, Sport, präventive Zahnreinigung u.a.) bekommen. Vieles, was eigentlich empörend ist, wird mit einem Schulterzucken hingenommen. Macht halt jeder… Solange ich Vorteile davon habe…

Mein folgendes Gedicht trägt den Titel „Rongcheng“ – diese Küstenstadt im Osten Chinas gilt als Vorzeigeprojekt des Sozialpunktekreditsystems.

Rongcheng

Sammelst du Sozialpunkte?

an der roten Ampel halten

mit dem Fahrrad fahren

Schulden bezahlen

um die Eltern kümmern

Vater Staat schreibt es dir gut

Steigst auf zur Stufe A

bekommst Kredite

gehörst zur Elite

 

Verlierst du Sozialpunkte?

alleine Auto fahren

öffentliches Ärgernis

Beschwerden einhandeln

demonstrieren

der Staat schreibt es dir an

steigst ab zur Stufe D

bleibst am Boden

Beförderung gestrichen

 

Moral ist unsere Marktwirtschaft

Sozial ist unsere Währung

sei vollkommen

sei willkommen

Abweicher auf’s Abstellgleis

Punkte sind unparteiisch

Belohnung und Bestrafung

so funktioniert

die digitale Diktatur

T – Treppenthrillogie

Treppengetrappel

Welche Treppe magst du heut‘ besteigen

welchen Grund will deine Sohle spüren

soll es die knarzend‘ Planke sein

mit abgestoß’nen Stufen

oder sinkt dein Fuß ins Rot

von weichem Teppichsamt

der eisig glatten Marmor deckt

trägst dein Kinn hochgereckt

stolzierst mit Prunk und Gloria

deinen Blick empor gerichtet

himmelshohe Zukunft suchend

 

Das Geländer lädt dich ein

schmiegt sich leicht

in deine fassend‘ Hand

sind die Stufen flach und tief

für schnellen kleinen Schritt

sind die Stufen hoch und kurz

für bedächtig großen Tritt

wenn du nach Atem ringend

inne hältst und stille stehst

keinesfalls um zu verweilen

nur für neuen Schwung im Steilen

 

Drängend aufwärts strebend

fiebernd fortschreitend

zieht es dich zum Ziel

bis zur letzten Stufe

wo es kein Weiter gibt

jeder Weg hinauf

führt dich irgendwann hinab

oben lockt die Übersicht

unten lauert Tiefsicht auf

Schicht für Schicht

tauchst du in Verborgenheit

 

Füße tasten zaghaft

Knie gebeugt und Kopf gesenkt

dein Blick reicht nur

zur nächsten Niederstufe

jetzt bloß nicht

straucheln taumeln stürzen

wo Kellerkälte klirrt

wo Geister gar gastieren

nein hier ist keine Bleibe

bist du erst ganz unten

geht es nur nach oben

 

tritt ein tritt aus

Treppengetrappel

Kein Ort

Die Treppe ist kein Ort

sie ist von andrer Sort‘

wo niemand steht

wo ein jeder geht

 

Mit schnellen Schritten

mit festen Tritten

manche gefasst

manche mit Hast

 

Die Treppe ist kein Ort

sie ist von andrer Sort‘

sie ist ein Seelenschweben

und das nennt man Leben

treppen eindruck

diese stufen

haben manchen

fuß getragen

gebogen sind sie

unter last

von schatten

gebröckelt ist

der tritte spur

auf ihrem weg

nach oben

wo ein weißes licht

endlich ankunft

wem verspricht

farbe blättert

trocknet aus

bleicht erinnerung

ein geländer ohne

hände die sich

daran hielten

wer wagt nun

den schritten

der gespenster

nachzueilen

der verheißung eines

aufstiegs auf

ungewissen stufen

sinkend steinern

ihren standpunkt haltend

unverrückbar

eindrucksvoll

Treppen ABC

Es gibt Treppen

die sind abgewetzt

die sind breit

die sind cineastisch

die sind dauerhaft

die sind elegant

die sind funktional

die sind gerade

die sind hässlich

die sind ideal

die sind jämmerlich

die sind königlich

die sind lang

die sind monumental

die sind niedlich

die sind ominös

die sind pomporös

die sind quadratisch

die sind rustikal

die sind steil

die sind trittfest

die sind universal

die sind vertikal

die sind wacklig

die sind xenophil

die sind ying &yang

die sind zeitlos

die sind ändlos

die sind beispielhaft

die sind charmant

die sind dienlich

Extrastufe:

Wollt ihr Treppen auf der Leinwand sehen

könnt ihr tüchtig auf den Link hier gehen:

Panzerkreuzer Potemkin (1925)

Wer will mehr nach Liebe schmachten

der sieht Rhett nach Scarlett hasten

Vom Winde verweht (1939)

Bonus (18. Juli):

abgründige Treppe

G – Geschichtsgewichtsgedicht

Ich bin mal wieder in Berlin auf Erkundung gegangen und habe den Schwerbelastungskörper entdeckt. Der 1941 von den Nazis errichtete Beton-Druckkörper sollte die Tragfähigkeit des Bodens für einen monumentalen Triumphbogen testen, der Teil eines bombastischen „Germania“-Städtebaukonzepts von Generalbauinspektor Albert Speer war.

Dieses Bauwerk mit Vergangenheit hat einen gewichtigen Eindruck auf mich gemacht und sich dann in diesem Gedicht ausgedrückt.

Schwerbelastungskörper

Gigant Germania

türmst dich auf vor mir

beschwerst meinen Gang

du fesselst meinen Fuß

auf poröser Prachtpromenade

die niemals gebaut

die keiner je geschaut

 

Brunnentiefer Betonkoloss

Burg ohne Bewohner

blockierst meinen Blick

bist gegossener Größenwahn

faschistische Futurfabel

erhebst dich zum grausigen Gruß

aus Zeiten vor meiner Geburt

 

Speerspitze der Architektur

sollte hier entstehen

sagenhafte Säulen für Sieger

dies erstarrte Experiment

verdammt meine Vorväter

euer ewiges Vermächtnis

liegt in diesem Verlies

 

Tragfähigkeit im Test

gestern auf altem Boden

heute auf jungen Schultern

stemmen nun dies Schwergewicht

aus Urtrieb zur Unsterblichkeit

zwanghaft und mit Zwang

erbaut für tausend Jahre

 

Ich gehe tausend Schritte

rechtsherum und linksherum

kreisend ohne Ziel

Brombeerhecken kratzen

nutzlose Narben in fahle Fassade

monumentale Steine schweigen

versunken in Verlassenheit

 

Ich trete ein durch dicke Wände

in diese hohle Höhle

mit stürzendem Schacht

in ungewisse Dunkelheit

runde Fensteraugen

blicken blind ins Grüne

doch Geister gibt es keine

 

Gewissensbisse aus Granit

befallen bußwillige Besucher

Stein der jeder Sprengung trotzt

gemeißeltes Geschichtsgesicht

Gedächtnis in Beton geschlossen

geöffnet in diesem Gedicht

verliere niemals dein Gewicht

 

Schacht in die Tiefe
Fensterhöhle

P – Pläne platzen

Pläne platzen

plötzlich

plattgemacht

Protestgeheul

Pantherpranke

presst possierlich

poröses Papier

 

Pläne re parieren

Papiertiger preist Präzision

Autopilot peilt Punktlandung an

plumpe Perfektionsposse

Plundertheater

peinliches Pathos

Papperlapapp

 

Plan A Plan B Plan P

pompöse Parade

Plüschbrigade

push push

lautet die Parole

mit Paukenpegel

100 Prozent produzieren

 

Protest hat Platzverweis

Pausen stehen am Pranger

Puppensoldaten plumpsen

auf Planpromenade

Prokrastinierer pöbeln

pfeifen auf Prüfungen

Pleite Panik Paralyse pur

 

puff puff

Parameter pulverisiert

Prinzessin Pudelwohl pennt

Phantasie im Paradies

tauscht Pauke gegen Poesie

Plan P patentiert

Platz für Planpudelei

Mein P-Poesie-Plätzchen ist Teil von Mias Blogparade Darf ich Platz nehmen? – schaut dort doch mal vorbei und entdeckt viele tolle Texte zum Thema.

Blogparade: Darf ich Platz nehmen? – Die verlassene Stille – laut sucht raum

Mia hat zur Blogparade eingeladen: „Alle Schreiblustigen aus unserem Masterstudiengang Biografisches und Kreatives Schreiben an der ASH Berlin (#BKS11) sind herzlich eingeladen, ebenso wie alle anderen schreibfreudigen Bloggerinnen und Blogger, die dem genannten Thema Platz in ihren Zeilen einräumen möchten und dem Thema erlauben in ihren Gedanken Platz zu nehmen.  Ihr dürft das Thema frei interpretieren – als Gedicht, Kurzgeschichte, Collage u.a. Es gibt keine Einschränkung wie beim letzten Mal. Was darf in unserem Leben, unseren Gedanken und somit in unseren Texten Platz nehmen …?“

Hier nun mein Beitrag zur Blogparade  Darf ich Platz nehmen?:

Die verlassene Stille

Hier bin ich

Ruhenetz

unbesetzt

ungehetzt

 

für dich da

geduldig

stetig

abwegig

 

für dich nah

nichtssagend

tragend

träumend

 

für dich Gefahr

lautlos

nutzlos

uferlos

 

für dich wahr

unwägbar

unsagbar

offenbar

 

–   –   –

da für dich

war für dich

wahr für dich

 

laut sucht raum

bum bum

gedanke rum

peng peng

zweifel spreng

kling klang

ohne belang

kawumm kawumm

warum darum

pling pling

mittendrin

hipp hopp

wortgallopp

pfeif pfeif

ohren steif

klack klack

auf zack

hup hup

launeschub

kling klang

abgesang

ggggggggg

H – Himmelsblind

Es gibt ihn noch

den Vogel

der in den Himmel steigt

seine Flügel spannt

nicht schmelzend nicht stürzend

 

der Vogel

im schwarzen Gefieder

mit schwarzen Augen

die nach innen schauen

schwebend blind im Himmelsblau

 

blaublind

das ist seine Leichtigkeit

Flug ohne Richtung

windzerzaust ist sein Gefieder

zerzaust und trotzdem heil

 

sie tragen ihn

die Federn und der Wind

Sturm mag kommen

die Fratze des Windes

lässt ihn alles vergessen

 

vergessen sind

die Antworten

auf falsche Fragen

die Rufe

von unnahbaren Ufern

 

Tag und Nacht

sind ausgelöscht

im blauen Himmelsblind

ausgetauscht

gegen die Unendlichkeit

 

er weiß nicht mehr

was seine Augen früher sahen

jetzt liegt er im Wind

in den Armen der Willkür

windblind

 

es ist gut so

er braucht nichts mehr

zu entscheiden

außer zu atmen

ein und aus

 

ein und aus

ein Trommeln

aus Gedanken

ein Herz

aus Trommeln

 

Gedankentrommel

taumelt im Herzen

sein Herz hört zu

ganz offen

ganz Ohr

 

blaues Herz

schlägt mit

im selben Rhythmus

ohne Grund

Herzenshimmelsblind

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