Willkommen zur Blogparade mit dem Thema: April, April, der weiß nicht was er will! Alle Schreiblustigen aus unserem Masterstudiengang Biografisches und Kreatives Scheiben an der ASH Berlin (#BKS11) sind herzlich eingeladen, ebenso wie alle anderen schreibfreudigen Bloggerinnen und Blogger.
Ihr dürft das Thema frei interpretieren – als Gedicht, Kurzgeschichte, Collage u.a. Aber es gibt eine kreative Herausforderung (contrainte): Es sollen nur Wörter verwendet werden, die ein „a“ enthalten („ä“ gilt auch).
Die „contrainte“ ist eine kreative Methode aus der „Werkstatt für Potentielle Literatur“ OuLiPo (L‘ Ouvroir de Littérature Potentielle). Durch die selbstauferlegten formalen oder inhaltlichen Textbildungsregelungen sollen die verborgenen Potentiale der Sprache entdeckt werden.
Die Blogparade startet ab sofort und endet am 30. April 2018. Schreibt einfach den Link zu eurem April-Blogbeitrag unten in den Kommentar. Los geht’s und viel Spaß!
Ausgeschlüpft am Montag:
April Attitüden
Osterhasen hasten schokoladenbeladen
Samen schauen staunend auf Himmelslaunen
Pflanzenknospen sagen Wintergrau adé
Himmelslampe strahlt glanzvoll warm
Hagelschauer machen manchen sauer
Sauberleute starten Lappenattacken auf Fensterglas
Katastrophenwetter! April! Abhauen! Urlaub! Südeuropaträume! Italien! Zitronenbäume! Fähre fahren auf blauem Wasser! An lauen Abenden am Hafen spazieren. Sommerahnungen. Ausspannen. Aufatmen. Aber ach! Baldiger Aufbruch. Rückfahrt nach Hause. Urlaubsende. Wann kann man nochmal Frühjahr atmen?
von Katharina Körting:
Wasser fällt sanft auf das Land
Sanfter als Lächeln: als aprilfarbenes Lauschen
(Allerdings schauen an karibischen Stränden andere Augen
Auf andere Heimat
Papieren achtlos andere Frauen an anderen Aprilfäden vorläufigen Buchstabenmatsch aus
Land, das sanft fällt auf Wasser)
Aprilreflexionen auf autobiografisch Abgelebtes von Kirsten Alers:
Aprilreflexionen auf autobiografisch Abgelebtes
Am Anfang, ach, am Anfang außerhalb aller Ahnungen: abgehoben, abgenabelt, ausgezogen. Ahnenstaub ausgeatmet. Alte Antworten attackiert, andernorts andere Antworten ausgehalten, abermals ängstlich Angesagtes abgelehnt. Abtrünnig atheistisch abseits angekommen. Anker ausgeworfen, angedockt an allerhand. Achtung angesichts absurder Ansichten angenommen, Artgenossen angeschrieen, Artgenossinnen angebetet, Abgöttisches auserkoren aus Abscheulichkeiten, Ähnliches abgelehnt, aussortiert, ausgespuckt. Als Amazone auch Arkadien aufgesucht. Äste absichtlich angesägt. Anfechtungen ausgesetzt. Aufgerissen. Auseinandergefallen. Abwärts abgerutscht. Aderlass am Aschermittwoch. Argumentieren ausgesetzt. Alles ächzt, alles altert, aber alles atmet auch …
Der Kuss ist allgegenwärtig und wird in allen Kunstformen zelebriert – als Mythos und Sinnbild der Liebe. Höchste Zeit, mich in meinem Liebeslabor diesem Phänomen zuzuwenden.
Der Kuss ist Indikator und Katalysator für die aufkeimende Liebe – besonders der erste Kuss spielt eine entscheidende Rolle. Für meine Analyse nehme ich mir das wohl berühmteste Liebespaar aus der Literatur vor:Romeo und Julia von William Shakespeare.
Ihre Liebesgeschichte begleitet mich schon lange: Als Jugendliche habe ich zusammen mit meinen Schwestern die wunderbareFilmversion von Franco Zeffirelli (1968) zig Mal angesehen. Als Studentin stand ich im Londoner Globe Theatre im „court yard“ wie zu Shakespeares Zeiten und war mitten drinnen im leidenschaftlichen und tragischen Abenteuer der jungen Liebenden. Im Laufe der Jahre bin ich auch in den Genuss einiger musikalischer Umsetzungen gekommen – als „comédie musicale“ von Gérard Presgurvic in Frankreich (um die 2000er als Studentin) und auf der Opernbühne.
Jetzt aber zum ersten Kuss von Romeo und Julia: Bei ihrer ersten Begegnung auf dem Ball im Hause Capulet kreuzt Romeo als Partycrasher auf und verliebt sich sofort in die Tochter seines Feindes. Nach dem ersten Tanz umkreisen ihre Lippen ziemlich schnell den Kuss – erst nur in Worten, dann in Taten (hier das Video). Den tollen Text dieses Dialogs möchte ich euch nicht vorenthalten (als pdf – nur 1 Seite: Romeo und Julia_Text Kuss ).
Es kommt mir fast wie ein Sakrileg vor, diese Komposition von Shakespeare in meinem Labor zu liquidieren – dabei fällt mir auf, dass das Wort „Heilige“ ziemlich oft vorkommt. Das bringt mich auf die Idee, die Essenz der Szene nach Worthäufigkeit zu filtern. Heraus kommt ein laborwürdiges Trichter-Gedicht.
HeiligeHeiligeHeiligeHeiligeHeiligeHeilige
HandHandHandHandHandHand
MundMundMund
SündSündSünd
LippenLippen
HoldeHolde
KussKuss
Gunst
Kunst
Auch im weiteren Verlauf des Liebesdramas zieht sich der Kuss als lippenroter Faden durch die Handlung – in der Balkonszene und in der Hochzeitsnacht schmecken die Küsse noch süß, in der Gruft hängt bitteres Gift an den Lippen der Liebenden.
Ihre Liebe kennt keine Kompromisse, die Feindschaft ihrer Familien trennt sie, für das unglückliche Paar gibt es nur einen Ausweg: den gemeinsamen Tod. Passend hierzu möchte ich ihre Geschichte nun als Monovokalise interpretieren – natürlich auf „u“ zu Kuss (d.h. ich verwende ausschließlich Wörter mit diesem einen Vokal). Gleichzeitig gibt es einen Echo-Effekt.
Ich hoffe, Shakespeare kann mir verzeihen, dass ich Nachtigall und Lerche in der Hochzeitsnacht durch einen Uhu ersetzen muss.
Bevor es losgeht – wer noch schnell ein Plotupdate haben möchte, der kann sich diese Playmobil-Version (Dauer: 2 min) anschauen .
Lud zur Rund
Rund und Ulk
Ulk und Gruß
Gruß und Gunst
Gunst tut kund
Kund und Mund
Mund und Bund
Bund trug Schwur
Schwur und Stund
Stund schlug Wund
Wund lud Wut
Wut und Mut
Mut trug Blut
Blut schlug Bund
Bund und Kuss
Kuss und uh
uh uh Uhu
Uhu zum Umzug
Umzug und Verdruss
Verdruss und Muss
Muss zu Lug
Lug und Trug
trug zum Trunk
Trunk und Ruh
Ruh Trug schluss
Schluss und Gruft
Gruft und Kuss
Kuss und Schluss
Schluss trug Kuss
Übrigens ist die Monovolkalise (im Englischen: Univocalism) eine beliebte „contrainte“ im Katalog der Oulipoten. Hier ein Beispiel von Ian Monk auf „a“.
„And, Armand d’Artagnan, a man that plans all, a crack à la Batman, darts past that pampa, wafts an arm and grabs Andras. As, last March at an Arkansas bar …“
Wenn ich an Romeo und Julia als jugendliches Liebespaar denke, klingt mir noch ein anderes Echo aus meinen Jugendtagen in den Ohren: Als 15-jährige habe ich 3 Monate in Cornwall bei einer Gastfamilie gelebt und bin dort zur Schule gegangen. In dieser Zeit habe ich einige Briefe nach Hause geschrieben und auch von meinem Opa Heinz Post bekommen – in großväterlicher Fürsorge und aus der Erfahrung seiner über 50-jährigen glücklichen Ehe hat er einige Weisheiten zur Liebe und zum Kuss mit mir geteilt – eine Formulierung hat damals so großen Eindruck auf mich gemacht, dass ich sie bis heute noch wortgetreu im Kopf habe – nämlich dass Küsse „durststillend, nahrhaft und würzig“ seien.
Als ich letztes Wochenende auf Familienbesuch war, habe ich auf dem Dachboden in meinem Archiv sogar den Originalbrief (aus 1993) wiedergefunden:
Das führt mich dazu, den Kuss nun weiter aus Sicht der Wissenschaft zu analysieren – schließlich ist der Kuss in allen Kulturen dieser Welt vertreten – auch in der Bakterienkultur. Bei der Recherche im Internet bin ich auf diesen Artikel gestoßen: Küssen ist gesund (Bankhofer Gesundheitstipps). Ich extrahiere das Textmaterial unter den Titeln „Der Kuss als Naturheilmittel„, „Küssen fördert Liebeshormone“ und „10 Tipps für den gesunden Kuss“ und gebe es in meinen „ink tank“ zum Tintentest in meinem linguistischen Labor.
Da zum Küssen immer Zwei gehören, werde ich nun jedes dritte Wort aus diesem Text mit blauer Tinte fluten und verschwinden lassen. Zwei mal.
Aus diesen Schwebeelementen kultiviere ich einen neuen Kuss-Text. Als Wachstumsbeschleuniger gebe ich die drei Wörter (durststillend, nahrhaft würzig) von meinem Opa hinzu. Es ist jammerschade, dass sich die „französischen Zahnärzte“ aus dem Ursprungstext aufgelöst haben. Deshalb lasse ich sie in Synonymen in der Überschrift wieder erscheinen.
Dentisten aus dem Land der Croissants-Connaisseure empfehlen
Der Kuss hat eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Nach Studienergebnissen steigt der Herzschlag auf 110 zu 108. Der Kreislauf hat Schwung, die Durchblutung ist die beste Lunge: 20 danach 60 Atemzüge. Beim intensiven und würzigen Kuss aktiviert sich Gesicht, Mund und Kiefer. 15 depressive Zustände und Ängste weiß die freudige Heerschar von Lippen und Zungen frei zu bekämpfen. Selbstverständlich entkrampft ein Kuss schnell lästigen Schluckauf. Ein Kuss ist eine absolute durststillende Welt. Er ändert das Milieu im Mund. Ein angeregter kleiner Kuss von intensiv gewollten Lippen bremst Karies. Die zärtliche Berührung der Hände verstärkt den Kuss – bei mindestens 2 Minuten kommt es zur stimulierenden Wirkung. Heilsam und selbstverständlich leiten Zungen nahrhaft weiter und zumindest zeitweise stärken Augen die Atmosphäre. Der Kuss ist ein harmonisches Verharren. Übliche Bussi-Partys haben die geringste Wirkung.
Die Versuche in meinem Liebeslabor sind nun abgeschlossen. Haben Hochkultur und Wissenschaft mir Antworten zu meinen Fragen in Sachen Liebe und Partnerwahl liefern können? Nicht verzagen, den Bauern könnte ich noch fragen.
In einem Film-Favoriten aus meiner Kindheit „Kohlhiesls Töchter“ (mit Liselotte Pulver, aus dem Jahr 1962) gibt es eine Bauernweisheit, die ich noch mit euch teilen möchte:
In Zeiten vor Online-Dating und „Bauer sucht Frau“ gibt Vater Kohlhiesl für seine garstige Tochter Susi eine Kontaktanzeige in der Zeitung auf – denn nur wenn Susi heiratet, darf deren liebliche Zwillingsschwester Liesl auch heiraten – gemäß Totenbettwunsch der Mutter. Die Anzeige lockt jede Menge Heiratswillige und -schwindler ins Haus, es gibt die unvermeidlichen Verwicklungen und zu guter Letzt läuten für beide Schwestern die Hochzeitsglocken.
In einem gemeinsamen Liedchen besingen die Schwestern das Liebesdilemma von Kratzbürste Susi (hier das Video):
„Jedes Töpfchen find‘ sein Deckelchen, jeder Kater find‘ die Katz, jedes Knöpfchen find‘ sein Fleckelchen, jedes Mädchen seinen Schatz.“
Nun ist meine Rundschau zu diesem Thema wirklich komplett. Mein Labor-Fazit kommt als Gedicht daher:
Habe recherchiert
die Onlinewahl und die Datingqual
Habe kultiviert
die Romantik und die Semantik
Habe kondensiert
die Phonetik und die Poetik
Habe gehört
den Klang und den Gesang
Habe geschrieben
den Widerhall und den Morgenschall
Habe gefragt
den Kater und die Katz
Egal welch‘ Rat oder Kriterium
Die Liebe bleibt ein Mysterium
Komplementäres Testresultat (kussecht):
Die Zweisamkeit mit einem (perfekten) Partner ist nicht die einzige und beste Form für ein zufriedenes Leben – auch wenn diese Suggestion sich in Alltag und Kultur kumuliert.
31. März 2018
Tipp: Wer den Kuss auch in kulinarischer Hinsicht genießen möchte, der kann sich ein „Küsschen, Küsschen“ bei der Küchenmarie abholen.
Heute beleuchte ich in meinem Liebeslabor die leidenschaftliche Liebe – die keine Barrieren von Kulturen und Sprachen kennt, die betört und blendet, die begehrt statt begutachtet. Wo finde ich die besten Beispiele hierfür: Natürlich in der Oper.
Madama Butterfly von Giacomo Puccini (uraufgeführt 1904) ist die Oper, bei der ich als Studentin meine Begeisterung für diese Kunstform entdeckt habe – im Saarländischen Staatstheater 2001.
Mich zieht die rauschhafte Musik in ihren Bann, die einzigartigen Stimmen der Sängerinnen und Sänger, diese Weltentrückheit gepaart mit Wahrhaftigkeit. Auch auf intellektueller Ebene gibt es allerhand zu entdecken, insbesondere zu den oft haarsträubenden Inszenierungen von so manchen Regisseuren, die alles neu- und umdeuten wollen. Über meine Eindrücke kann ich mich stundenlang mit anderen Begeisterten austauschen und oft halte ich meine Impressionen auch schriftlich fest.
Letzte Woche habe ich an der Deutschen Oper Berlin mal wieder das Vergnügen mit Madama Butterfly gehabt – und nehme nun das Libretto (so heißt der Text in der Oper) in meinem Labor genauer unter die Lupe.
Ich betrachte die große Liebesszene (Hochzeitsnacht) zwischen Butterfly und Pinkerton. Welche Geheimnisse kann ich in der Sprache enthüllen? Doch zuvor gönnt euch doch einen musikalischen Eindruck – leider kann ein Video niemals an das Live-Erlebnis im Opernhaus heran reichen. Placido Domingo betört als leidenschaftlicher Liebhaber (achtet mal auf das „vieni, vieni“ – „komm, komm“ – gegen Ende) und Mirella Freni ist mit zauberhafter Sopran-Süße ein idealer Schmetterling.
So beginnt es: Der Seemann Benjamin Franklin Pinkerton, Leutnant der Marine der USA, hat sich vom Heiratsvermittler die Geisha Cio-Cio-San (genannt Butterfly) für eine Ehe auf Zeit vermitteln lassen („Nun verheirat‘ ich mich auf japanisch, für neunhundert und neunundneunzig Jahre; freilich darf ich kündigen jeden Monat“). Das 15-jährige Mädchen verliebt sich in den schönen Fremden. Sie tauscht ihren japanischen Namen gegen „Butterfly“ ein und nimmt sogar seine Religion an.
Pinkerton benimmt sich während der Hochzeitszeremonie wie ein Elefant im Porzellanladen und trampelt über die japanische Kultur und Sitten hinweg (er: „Hip! Hip!“ – die japanischen Verwandten: „O Kame! O Kame!“). Man ahnt schon, dass er einen Scherbenhaufen hinterlassen wird.
Im linguistischen Laborversuch untersuche ich nun, was die beiden im Duett der Hochzeitsnacht an unterschiedlichen Wünsche und Vorstellungen äußern. Das Libretto in unbehandelter Form als Synopse italienisch/deutsch könnte ihr hier finden: Libretto Butterfly-Synopse
Nach Einsatz von Essenz-Filter und Interpretations-Zentrifuge und habe ich ein erstes Ergebnis mit instabiler Beziehungskonsistenz:
Nach Verdunstung der Bindemittel und Abzug des rosa-roten Nebels ergibt sich ein verfestigtes Beziehungsbild für Pinkerton und für Butterfly – hier werden ihre jeweiligen wahren Wünsche (und in ihrem Fall auch Befürchtungen) sichtbar.
Zuletzt mache ich den Übereinstimmungstest. Hierzu drucke ich beide Testergebnisse übereinander. Für Pinkerton kommt dabei das rot-blau seiner amerikanischen Flagge zum Vorschein. Er drückt ihr mit männlicher und westlicher Dominanz seinen Stempel auf.
Dieses Beziehungsporträt ziert nun meine hauseigene Schmetterlingssammlung.
Hätte Butterfly über Finya nach einem Partner gesucht, wäre Pinkerton sicherlich vom Filter ausgesiebt worden – und mit ihm die Leidenschaft.
Übrigens hat Puccinis Oper den Schriftsteller David Henry Hwang zum Theaterstück „M. Butterfly“ inspiriert(Danke an meine Schwester Dorit, die das Stück als Studentin in den USA gesehen und mir davon erzählt hat). Das Stück beruht auf einer wahren Begebenheit und erzählt die Geschichte eines französischen Diplomaten (René Gallimard), der 1964 in Peking die Diva (Song Liling) der dortigen Oper und Madama Butterfly-Darsteller kennen lernt und eine Liebesaffäre beginnt, in deren Verlauf Butterfly den Mann des Westens im Auftrag des chinesischen Geheimdienstes ausspioniert. Überraschung: Butterfly ist in Wirklichkeit ein Mann.
In dieser Adaption des Butterfly-Stoffes spielen also die Geschlechterrollen und die Dominanz von (kolonialer) westlicher über östliche Kultur eine tragende Rolle – unabhängig vom biologischen Geschlecht der Protagonisten. Der französische Diplomat erliegt der Illusion – seiner Idealvorstellung der unterwürfigen asiatischen Frau, er schaut nicht hinter die Maske aus Schminke, Kleidung und Gebärden.
Das lässt mich an die Oulipienne Anne F. Garréta denken, die in ihrem Roman „Sphinx“ (erschienen 1986)der contrainte folgt, das jeweilige Geschlecht des erzählenden „Ich“ wie das seines Lebenspartners A*** unbestimmt zu lassen. Mit dieser „geschlechtsneutralen“ Erzählweise will sie Gender-Stereotypen in den Köpfen der Leser*innen ins Bewusstsein rücken.
Meine Eindrücke zum Film „M. Butterfly“ möchte ich in ein geschlechtsloses Gedicht fassen:
Butterfly blendet
mit weißem Gesicht
betörend das Gegenüber
im Flügelgewand
ohne Gewicht
ohne Land
fliegt selbst
ins weiße Licht
Das regt mich dazu an, das Libretto von Madama Butterfly auch in Bezug auf die sprachlichen Geschlechterformen einem Test zu unterziehen.
Hierzu kondensiere ich aus dem Wörterfundus ein Substrat aus Substantiven, die ich dann nach ihren Artikeln (weiblich, neutral, männlich) sortiere. Hieraus bilde ich – mit Interpretationsfaktor X hoch 10 – ein Gedicht, das die „Chemie“ des ungleichen Liebespaares charakterisiert (mit bewusst stereotypischer Farbgebung):
SIE
Ich bin die Göttin
Ich bin die leise Nacht
Ich bin die Brücke
Ich bin die Ferne
Ich bin die Worte
Ich bin die Schmerzen
Ich bin die Stille
Ich bin die Demut
Ich bin die Erde
Ich bin die hellen Äuglein
Ich bin die holde Nacht
Ich bin die Liebe
(Das „wir“)
Das Himmelsgefilde ist unser Gewand
Das Licht ist unser Leben
Das Lachen ist unser Herz
Das Auge ist unser Wörtlein
Das leise Kosen ist unser Lieben
Das Gewell‘ auf dem Meere ist unser Land
Das Ja ist unser Oh
(ER)
Ich bin dein Zauber
Ich bin dein Schmuck
Ich bin dein Wahn
Ich bin dein Jubel
Ich bin dein rechter Name
Ich bin dein Zweifel
Ich bin dein Schlummer
Ich bin dein Kummer
Bleiben wir in Asien und bei Puccini: In der (Märchen-) Oper Turandot finden wir (zunächst) ein umgekehrtes Machtverhältnis vor. Die chinesische Prinzessin Turandot soll verheiratet werden. Immerhin darf sie ihren Bräutigam selbst auswählen. Die Anwärter müssen ein Date der besonderen Art durchstehen: Turandot stellt dem potentiellen Partner 3 Rätselfragen. Wenn er nicht die richtigen Antworten gibt, wird ihm der Kopf abgeschlagen.
Calaf (Tenor), ein unerkannter Prinz, verliebt sich auf den ersten Blick in die grausame Eisprinzessin und riskiert sein Leben im Rätselringen. Er ist siegreich und Turandot muss sich ihm unterwerfen. Auch die Sklavin Liu (die heimlich in Calaf verliebt ist), opfert sich für den Mann. Puccini selbst starb (1924), bevor er das Ende der Oper komponieren konnte. Das kitschige Finale, in dem Turandot psychologisch unmotiviert plötzlich auch Gefühle für ihren Bezwinger entwickelt, stammt aus der Feder eines anderen Komponisten Franco Alfano.
Obwohl Turandot definitiv nicht zu meinen Lieblingsopern gehört, habe ich gestern Abend im Nationaltheater Mannheim (meiner alten Opern-Heimat) eine Aufführung erlebt – der ekstatische Gesang und die bombastische Musik haben mich letztlich doch im Gefühlsstrudel mitgerissen. Der Kreis zu Madama Butterfly schließt sich, denn die Sopranistin Galina Shesterneva (bzw. Gleber – sie hat nach Heirat den Namen ihres Mannes angenommen) habe ich schon vor 10 Jahren als Butterfly an diesem Haus gehört und schätze diese Sängerin sehr.
Die Rätsel der Turandot sind nicht nur unterhaltsam, sondern regen mich auch dazu an, sie sprachlich umzugestalten – was würde sich hierfür mehr anbieten, als das HAIKU – eine traditionelle japanische Gedichtform. In der europäischen Umsetzung ist das Gedicht ein Dreizeiler bestehend aus drei Wortgruppen von 5 – 7 – 5 Lauteinheiten (Moren). Wesensmerkmals des Haiku sind Konkretheit, der Bezug zur Gegenwart und Natur (Jahreszeit), Gefühle werden selten benannt, sondern sollen sich aus dem Zusammenhang erschließen.
Rätsel Nr. 2
„Lodernd gleich einer Flamme,
und doch selbst keine Flamme,
manchmal rasend im Fieber,
und ungestüm verlangend!
In Ruhe sich verzehrend wie die Sehnsucht!
Wenn du zugrunde gehest, wird es kalt!
Wenn du den Sieg erträumst, glüht es auf!
Eine Stimme hat es, der du bebend lauschest,
und gleich der Son’ am Abend ist sein Glanz!“
Als Haiku:
Roter Lebenssaft
strömst ohne Quelle im Rund
herrschst so heiß und kalt
Rätsel Nr. 3:
„Eis, das sich entzündet
und durch dein Feuer noch mehr erstarret!
Klar ist’s und doch dunkel!
Wenn’s frei dich will,
so mehrt es deine Knechtschaft!
Wenn es zum Knecht dich nimmt,
so wirst du König!“
Als Haiku:
Fleisch wird Element
zerstört oder erhebt dich
Liebeswahl tut Not
Wer weiß die Lösungen?
Bindung und Befreiung – Butterfly fliegt?
Wie ihr merkt, ist es um die Überlebenschancen für Frauen in der (ital. und frz.) Oper des 19. Jahrhundert bis in die 1920er Jahre nicht gerade rosig bestellt. Die Oper war niemals nur pure Unterhaltung, sondern immer auch ein Gesellschaftsporträt, durchaus sozialkritisch und zuweilen politisch.
Die stärkste Frauenfigur aus dieser Zeit ist George Bizets „Carmen“ – die sich und ihre Liebe als „rebellischen Vogel“ beschreibt. Aber auch sie lässt sich zum Schluss von ihrem Ex-Liebhaber erdolchen – in der Weigerung, sich ihm zu unterwerfen – das galt zur Entstehungszeit (1875) als außergewöhnlicher Akt weiblicher Selbstbestimmung und Freiheit.
Auch bei Puccini gibt es einen weiblichen Zugvogel, die Schwalbe („La Rondine“): Eine freiheitsliebende Frau lässt sich von ihrem jüngeren Liebhaber nicht an Heim und Herd binden.
Ein Jahrhundert später hat dieser Opernstoff nichts an seiner Aktualität verloren – oder wie sieht es heute wirklich mit der Gleichberechtigung der Frau in Partnerschaft und Berufsleben aus? Ich merke schon, die Opern-Ornithologie bietet mir noch einigen Stoff für weitere Beiträge.
Wer jetzt (hoffentlich) Lust auf Oper bekommen hat – ich biete mich als Begleiterin an. Große Gefühle & Gedanken und ( Berliner ) Bühnenblut garantiert!
Willkommen in meinem Labor! Ich untersuche die Liebe und werde Lupe und Lackmus-Test durch Linguistik ersetzen (im Verhältnis 1:1).
Kommt mit auf meine Forschungsreise ins „Kreative Schreiben in der Ästhetischen Bildung“ (für dieses Studien-Modul ist Ende März mein Forschungsbericht fällig).
Ich gehe der Frage: „Warum suchen wir nach dem perfekten Partner?“ nach und werde mich hierzu in die Bereiche von Musik, Film, Literatur, Kunst, Wissenschaft und Alltagserfahrungen begeben.
Meine Eindrücke werde ich schreibend verarbeiten – wobei ich hierbei das volle Potential der Sprache ausschöpfen möchte, indem ich die Oulipotischen „contraintes“ auf meine Texte anwende.
Die Autoren der „Werkstatt für Potentielle Literatur“ OuLiPo (L‘ Ouvroir de Littérature Potentielle) haben sich formale oder inhaltliche Textbildungsregelungen (contraintes) auferlegt, um verborgene Potentiale der Sprache zu entdecken. Auch Literatur der Vergangenheit (Texte anderer Autoren) werden als ein Fundus und zum kombinationsfähiges Material für das eigene Schaffen angesehen.
Los geht’s mit meiner Liebesforschung. Im Alltag begegnet mir das Versprechen: „Alle 11 Minuten verliebt sich ein Single über PARSHIP“ – es prangt mir Vielerorts von Plakatwänden entgegen. Im Internet rufe ich für meine Forschung die Seite von Parship auf, aber sofern ich deren Kassen nicht klingeln lasse, komme ich über die Startseite nicht hinaus.
Schnell werde ich jedoch bei Finya fündig, die sich „kostenloses Flirten“ auf ihre Fahnen geschrieben haben. Dort bringt ein toller Text (siehe Absatz mit Zwischenüberschrift: „Finden Sie heute noch Singles, die zu Ihnen passen“) die Versprechungen und Methoden der Partnersuche nach perfekter Passform auf den Punkt. Diesen Wörter-Fundus werde ich nun in meinem Liebeslabor untersuchen.
Meine Laborergebnisse kann ich sogar mit meinen praktischen Erfahrungswerten abgleichen – vor etwa 3 Jahren hatte ich mich bei Finya mal angemeldet und für einige Wochen den Feldversuch durchgeführt.
Als oulipotische Schreibregel wende ich „La contrainte du prisonnier“ – Die Einschränkung des Gefangenen auf diesen Text an.
Als Idee steckt dahinter: Ein Gefangener hat in seiner Zelle wenig Schreibplatz. Ziel: Möglichst viele Buchstaben auf wenig Raum unterbringen. Deshalb sind nur Wörter ohne Auf- und Abstrich erlaubt. D.h. wenn ihr euch die Buchstaben in einer Lineatur vorstellt, dann stehen nur die Buchstaben zur Verfügung, die in der mittleren Spur verlaufen.
Erlaubt sind: a, c, e, i, m, n, o, r, s, u, v, w, x – auch ä,ü,ö (bin mal großzügig, da ich auch den i-Punkt zulasse, Puristen schließen in dieser contrainte auch die Umlaute aus, ebenso wie Buchstaben mit Akzenten). Ausgeschlossen sind: b, d, f, g, h, j, k, l, p, q, t, y
Ich finde, diese contrainte spiegelt die Filtermethoden der Partnersuche gut wider. Hier das Ergebnis (alles klein geschrieben):
Aus den Wörtern, die meinen Suchanforderungen entsprechen, forme ich ein Gedicht (von der Form angelehnt an den „Schneeball“ von Harry Mathews ), das ich „Liebe in Lineatur“ nenne.
Na, hat sich der Traum erfüllt? Ich bin selbst erstaunt, wie gut dieses Gedicht mit seinen Wiederholungen und seiner Eintönigkeit die Begrenztheit der Partnerwahl im engen Raster abbildet. Zufälligerweise wird das Gedicht eingerahmt von „sie zu“, was in meinen Ohren auch ein bisschen wie „Sieh zu“ klingt – dieser Appellcharakter an Singles, schnell einen Partner finden zu müssen, damit man nicht als Zivilisationsversager dasteht, ist in der Werbung für Partnerbörsen sehr präsent.
Wenn ich mir den Lückentext oben so ansehe, lachen mich die vielen Stilblüten am Wegesrand an, die alles andere als blassrosa sind. Die kann ich nicht ungepflückt stehen zu lassen! Besonders gut gezüchtet finde ich: „Singles aus Ihrer Region“ – dann bitte bio und freilaufend.
Tatsächlich habe ich – in meiner kurzen Finya-Zeit – diese Profilbildbewertung nach Attraktivität als reinste Fleischbeschau empfunden. Am ersten Tag stürzen sich alle Börsennutzer auf das „Frischfleisch“ und mein Attraktivitätsfaktor liegt bei 8, irgendwas. Jedoch nach kurzer Zeit entscheiden sich die „User“ im Konkurrenz-Voting für die hochattraktiven Neuzugänge (und die „verbrannte Erde“, wenn man auf einige Zuschriften nicht geantwortet hat, tut ihr Übriges). Ich kann dabei zusehen, wie meine Attraktivität von Tag zu Tag sinkt – ungefähr proportional mit der Hoffnung, hier einen potentiellen Partner kennenzulernen.
Sprachlich nehme ich mir jetzt den „Wörterblumenstrauß“ der Aussortierten vor. Beim Gedicht nennen die Oulipoten diese contrainte „poème fondus“ – Geschmolzene Gedichte, d.h. man pickt aus einen Ausgangstext einige Wörter heraus und schreibt daraus einen neuen Text (Gedicht).
Mein Schmalz, äh Schmelz-Ergebnis (was mich „anzupft“, weil bizarr oder typisch): „Finden Singles passen – Profilliste der User filtern – ausschließlich Singles aus Ihrer Region – Filterkriterium – bevorzugen – von Angesicht zu Angesicht – besonders attraktiv – Voting-Feature – Punktzahl zwischen 0 und 10 – hinsichtlich ihrer Attraktivität einzugrenzen – kostenlos – gegenseitig ein wenig beschnuppern – auskundschaften – ganz natürlich – einfach zu bewerkstelligen – Traumprinz – Traumfrau – aufregender Flirt – Beginn einer innigen Freundschaft – Nähe“
Hieraus bilde ich ein Gedicht, wobei ich den Methoden der online Partnersuche treu bleibe: Sortieren (alphabetisch), kurz und effizient (keine Füllwörter), entweder/oder, top /flop, 0/1 (Computersprache). Das Ergebnis ist dieses Gedicht, das ich Lamellen-Liebe taufe.
Zur Überprüfung des linguistischen Ergebnisses wende ich nun den praktischen Liebes-Lackmus-Test an. Mein Resultat (in eigenen Worten aus eigener Erfahrung):
filtern statt flirten
bewerben statt werben
hemmungslos statt höflich
Geschäft statt Gefühl
Liebesindikator: 0
Mein Fazit zu Finya möchte ich noch in Form eines Anagramms ausdrücken:
„kostenlos flirten“ wird zu „Stil roste – flenn k.o.“
Inspiriert hierzu hat mich das Anagramm von Raphael Enthoven: „carpe diem“ wird zu „ça déprime“.
Durch diesen humorvollen musikalischen Liebes-Schwung fühle ich mich animiert zu einer neuen Textfassung. Wie wäre es mit einem Pastiche zu: „Alphabet“ von Inger Christensen (mit Fibonacci-Folge)?
Die Schreibregel lautet also: A – 1 Zeile, B – 2 Zeilen, C – 3 Zeilen, D – 5 Zeilen, E – 8 Zeilen, F – 13 Zeilen usw.
Lass es uns tun – lass uns uns verlieben
Ameisen tun es, Amerikaner tun es, alle tun es
Bienen tun es mit botanischen Blüten
Bestien tun es mit blasierten Bildschönen
Chauvinisten tun es mit Cha Cha und Can-Can
Clanchefs tun es mit Colts und treffen Cherubin
Cäsar tat es mit Cleopatra und Cupido sah zu
Dandys tun es mit Divas und Dekorum
Drückeberger tun es doch oh Donnerwetter
Draufgänger tun es mit Dynamik und dual
Diebe tun es mit der Dunkelheit
Dionysos tat es mit Delirium
Earls tun es in Edinburgh mit Etikette
Elben tun es in Eriador mit Esoterik
Eintagsfliegen tun es eilig und mit Endlichkeit
Entertainer tun es mit dem Erfolg
Egomanen tun es mit dem Ebenbild
Einsiedlern ist es egal
Entdecker tun es mit der Eroberung
Eva tat es mit Adam und Eden war am Ende
Filous tun es wohl frivol in Frankreich
Fehlen noch 12 Zeilen mit F. Freunde, helft mir Verse finden – ich führe das Gedicht mit Freuden fort!
Fische tun es im Fliegen Fantasie tut es flitternd und flimmernd mit fantasmorgiastischem Finale Filmstars tun es fashion-like in Film und Fernsehen Flamingos tun es im Flachen im fuchsiaroten Federkleid Fachmänner- und Frauen tun es im Fachjargon Fakire tun es mit Feingefühl Fibonacci tat es folgsam
Fazit meiner ersten Labor-Einheit: Im Gegensatz zum Dating-Filter finde ich den Sprach-Filter durch die contraintes äußerst bereichernd. Durch das Bohren auf der Buchstabenbaustelle lassen sich wirklich einige versteckte Potentiale der Sprache ans Licht bringen. Das macht Spaß!
Was dazwischen liegt, ist eine ganze Welt: Die Geschichte meines Romans „Klangfarben“ mit ihren Figuren, die ein Eigenleben entwickelt haben. Und meine eigene Geschichte als Schriftstellerin (darf ich mich jetzt so nennen?).
Was ich so schwungvoll und spielerisch im Rahmen des NaNoWriMo begonnen habe, habe ich in den folgenden 3 Monaten weiter geführt. Was für ein Wellenritt! Im Laufe des Dezembers hat sich erst die Schwere eingeschlichen, zum Jahreswechsel dann mächtige Angst.
Im Januar habe ich die Zügel locker gelassen. Was im Februar dazu geführt hat, dass mir das ganze Roman-Projekt irgendwie entglitten ist – ich habe nur 3 Tag in der Woche geschrieben und nach jeder Pause war der Wiedereinstieg ein Kaltstart (zusätzlich hat mich noch der Virus für 1 Woche lahm gelegt). Ich hatte das Gefühl, meine Schreibfähigkeit verloren zu haben und nur noch mühsam zu imitieren, wie ich zuvor geschrieben hatte. Meine Figuren sind mir fast gleichgültig geworden und meine Geschichte schien mir banal zu sein.
„Macht es einen Unterschied, ob ich das nun zuende schreibe, oder nicht?“, habe ich mich gefragt.
Andere Schreibprojekte, wie die spielerischen und kurzweiligen Texte für mein Studiums-Modul „Kreatives Schreiben in der Ästhetischen Bildung“ lockten mich viel mehr!
Ich habe die Musen um Hilfe angerufen. Diese eigenwilligen Wesen hören aber weder auf mich, noch auf ihren Göttervater Zeus. Höchste Zeit, das Zepter wieder selbst in die Hand zu nehmen.
Mein digitales Tagebuch (facebook) erzählt davon:
Fr, 23. Februar 2018
„Jetzt aber los: Heute will ich mich zu einem Schreib-Sprint in 3 Intervallen motivieren. Nachdem ich gestern kein Wort an meinem Roman geschrieben habe, stattdessen Essigreiniger und Putzschwamm eine unwiderstehliche Anziehungskraft entwickelt haben (das Bad bedankt sich), heißt es heute Strenge walten lassen.
Die angerufenen Musen sind sehr eigensinnig und beglücken mich zwar mit unzähligen Einfällen für mein Forschungsprojekt in der Ästhetischen Bildung – sie haben mich die halbe Nacht (bis 5 Uhr früh) wach gehalten mit ihrem Gesäusel. Aber meinem Roman zeigen sie die kalte Schulter.
Auf die Plätze, fertig, looooos mit der ersten Etappe. Um 14 Uhr belohne ich mich dann mit einem leckeren Mittagessen.“
Nicht nur mich selbst, sondern auch andere Hürden musste ich überwinden:
Mi, 28. Februar 2018
„Das wird heute nichts mehr mit meinem Roman-Finish! Das Universum hat sich gegen mich verschworen: Zum einen fehlen dem Februar eindeutig 3 Tage. Zum anderen ist heute die Computer-Technik zur Meuterei übergegangen. Das „“ hat sich endgültig verdrückt. Heute morgen habe ich 1 Stunde an einer Szene geschrieben und die Hälfte der Zeit damit vergeudet, die fehlenden „a“’ss nachzutragen – echte Handarbeit per Copy+Paste und mit Wortvervollständigung (warum kennt das Schreibprogramm weder „Krnkenhus“ noch „Strßenrnd“???).
Zu High Noon habe ich mich dann entschlossen, meinen dicken Dinosaurier Laptop (Jahrgang 2007) aus dem hintersten Winkel meines Schrank zu holen und zu reaktivieren. Update von Windows XP, Installation von Antivirusprogramm und OpenOffice erforderlich – es gab heftige Gegenwehr vom Dino, der Kampf zog sich über 6 Stunden hin. Immerhin habe ich gewonnen.
Dabei habe ich von AAAAhhhh!!!! (Wutgeheul) bis OOOMMMM (Sitzmeditation) alles durchgemacht, was die Emotionspalette so bietet.
Jetzt bin ich bereit, auf dem Dinosaurier noch mein restliches heutiges Schreibpensum von 1 ½ Stunden zu erfüllen.
Ach ja, dem Februar erstatte ich seine verlorenen Tage zurück und werde nun als Schreib-Finish den 3. März anstreben (am Samstag hat der Copy-Shop für den Ausdruck noch offen).
Zwischendurch hat mich heute „Floyd“ sehr amüsant aufgemuntert – ich habe das Computerspiel von 1997 in meiner Recherche für meine Figur Philipp entdeckt: Der Anti-Held Floyd in einer Orwell’schen Überwachungs-Galaxie sagt so tolle Sachen wie: „Unwissenheit ist keine Entschuldigung für Verrat“ und „Das ist ein echtes Dilemma“. In diesem Sinne wünsche ich: „Gute Nacht, Bürger und schönen Orbit“!
PS: Little Slow Joe fährt immer noch hoch…“
Diese Motivationskarten haben mich die ganze letzte Woche begleitet – indem ich mir feste Zeitfenster zum Schreiben gesetzt habe, konnte ich den Fokus und die Last vom Inhalt weg nehmen (diesen Frustfaktor, wenn ich eine Szene inhaltlich nicht abschließen konnte). Ich bin durch das Vielschreiben in einen regelrechten Schreibrausch gekommen.
In 3 Schreibeinheiten (von jeweils 1 Stunde, manchmal länger) pro Tag habe ich an 8 Tagen 18.255 Wörter geschrieben (durchschnittlich 2.280 Wörter pro Tag). Aber vor allem inhaltlich hat mich meine Geschichte wieder gepackt und ich hatte Freude am Erzählen und an meinen Figuren.
Nebenwirkung dieser großen Euphorie war, dass ich zuletzt nachts kaum mehr als 3 Stunden schlafen konnte – die Rädchen in meinem Kopf haben sich im Hypermodus gedreht.
Am gestrigen Samstag habe ich meine letzten Kräfte für den Epilog mobilisiert und bin beim Schreiben richtig gefühlig geworden (Kitschalarm!). Um 18:43 Uhr habe ich das Wort „Ende“ geschrieben und mir ein Rührungstränchen aus dem Augenwinkel gewischt.
Hier also druckwarm (Sonntagsausflug zum Copyshop) mein Werk – mit allen Imperfektionen.
Ich sage: „Danke Dinosaur Dude, dass du auf deine alten Tage die letzten 4 Etappen so wacker mit mir gespurtete bist“. Er brummt dazu und richtet sich häuslich auf meinem Schreibtisch ein. Al A. Away jmmert schmllippig vom Schrnk, dss er doch viel schlnker und schneller sei.
Vielen Dank an euch, meine lieben treuen Blogleser*innen, dass ihr mich in den letzten 4 Monaten bei meinem Schreibabenteuer begleitet habt. Mit euren wertschätzenden Kommentaren und persönlichen Rückmeldungen habt ihr mich sehr motiviert und unterstützt!
Jetzt feiere ich ein paar Tage lang das süße Nichtstun – Jane Austen prostet mir über den Tassenrand zu – freue mich daran, dass ich meine Geschichte zum Finale geführt habe und schwebe mit meinen Figuren im 7. Happy-End-Himmel.
Hier nun eine Leseprobe:
Philipp hatte ich zu Beginn nur als Nebencharakter vorgesehen (Gegenspieler für meine Protagonistin Elise). Hierzu sagt Clemens J. Setz in „Bot. Gespräch ohne Autor“:
„…Nebenfiguren sind das Traurigste, was man sich vorstellen kann. … Sie kommen im Zustand der Entbehrlichkeit zur Welt…“
Dazu kann ich nur sagen: Philipp hat seinem Schicksal eine Schnippe geschlagen hat. Ganz heimlich hat er sich nämlich zur unentbehrlichen 3. Hauptfigur gemausert. Über Philipp zu schreiben, hat mir fast am meisten Spaß gemacht, weil er so voller liebenswerter Schwächen ist.
Jetzt aber zur Szene: Wir befinden uns in einer Shopping Mall im Jahr 1997, Philipp ist 18 Jahre alt und macht dort ein Praktikum (die Vorgängerszene findet ihr hier):
Kapitel 52: Philipp – Im Namen der Rose (ohne Rose)
Philipp drängte sich in der Drehtür zur Shopping Mall an zwei Frauen mit dicken Handtaschen vorbei. Scheiße, er war heute schon wieder zu spät. Schuld war immer noch sein Wecker. Beim Rasieren mit den Wegwerfklingen hatte er sich in den Hals geschnitten und jetzt klebte dort ein Pflaster mit Donald Duck und seinem Entengrinsen. Aber besser, als blutige Schlieren auf seinen weißen Hemdkragen zu bekommen. Er war immer noch der coolste Man in Black in seinem Revier. Sein schwarzer Schlips mit Klettverschluss baumelte im Takt hin und her, als er zwei Stufen gleichzeitig nehmend in den Keller runter rannte. An den Knien war seine Anzughose schon ein bisschen ausgebeult zum Bügeln war er am Wochenende nicht gekommen. Die Disco-Nacht vom Samstag gärte noch wie selbst gebrautes Bier in seinem Magen. Er hatte Ramona gesehen. Beim Tanzen eng umschlungen mit dem Sonnenbankschönling aus dem Decathlon auf Ebenen 2. Das kriegt auf der Abgefucktheits-Skala ’ne 9,0! Aus „Man in Black“ gab es wirklich für jede Lebenslage ein passendes Zitat. Aber für ein Lächeln reichte es heute nicht.
Philipp wurschtelte die Chipkarte aus seiner Hosentasche und hielt sie vor den Scanner an der Personaltür. Nichts passierte. Er presste die Plastikkarte mit Nachdruck gegen die Glasscheibe mit dem roten Blinklicht dahinter. Endlich piepte es und die Tür machte mechanisch Klick, sein rechten Fuß schnellte mit einem Tritt vor und stieß die Feuerschutztür auf. Autsch. Sein Fuß tat weh. Hinkend eilte er in die Umkleidekammer und holt seine Anzugjacke aus dem Spind. Er schwitzte schon wieder und das Hemd klebte auf seinem Rücken.
„Krieger“, hallte die krächzende Stimme vom Hai-Mann durch den Flur, gefolgt von einem apokalyptischen Niesen. Der Chef hatte seit einer Woche die Grippe und seine Laune neue Tiefpunkte erreicht.
Philipp ging mit quietschenden Lackschuhsohlen in die Kommandozentrale. In seinem Aquarium schwamm der Haifisch im Rollsessel und stierte durch die quadratischen Bullaugen der Monitore in die schwarz-weiße Einkaufswelt dort oben. Seine Glatze glänzte, seine riesige Nase war ganz rot vom vielen Schneuzen und in der Hand wedelte anstelle einer Flosse ein feucht-gelbes Taschentuch, das Philipp lieber nicht genauer betrachtete.
„Versager vortreten“, sagte Habermann, zeigte seine kleinen Spitzzähne und hielt ihm das Funkgerät hin. Philipp machte widerwillig einen Schritt auf den Chef zu und griff nach dem schwarzen Plastikteil, auf dem fettige Fingerabdrücke vom Hai-Mann schimmerten. Dieser hatte seine Ärmel hochgekrempelt und die üblichen zwei Nikotinpflaster klebten auf der Innenseite seiner haarlosen Fischarme. Auf dem Tisch reihten sich Fläschchen mit rosa Hustensaft, Nasenspray und Red Bull wie tapfere Soldaten für eine aussichtslose Schlacht auf.
„Acht Uhr Siebzehn – wenn das mal kein Rekord ist. Hattest heute wohl eine Rakete im Hintern, was?“. Die wässrigen Augen vom Chef liefen hämisch über. Philipp öffnete und schloss seinen Mund.
„Deine Bullshit-Ausreden will ich gar nicht hören. Raus ins Untergeschoss, aber ASAP“, kommandierte der Hai-Mann und nieste ihm eine feuchte Brise ins Gesicht. Philipp nickte knapp und marschierte los.
Er hatte sich mit dem Untergeschoss inzwischen angefreundet. Aus dem Pfennigland begrüßten 1001-Nacht-Gewürze scharf seine Nase und vor der Tür lagen in einem Metallgitterkasten haufenweise Sets von Plastiktennisschlägern inklusive zwei gelben Schaumstoffbällen. Ha, das könnte er dem Liebling von Ramona mal vorbeibringen – der Typ war Ex-Tennisspieler, aber riesigen Erfolg kann er nicht gehabt haben, sonst wäre er jetzt kein Sportartikelverkäufer. Was hatte der Kerl, was er nicht hatte? Aus den Flurboxen jammerten der blinde Italiener und die Musical-Tante „Time to say goodbye“. Er hätte nicht gedacht, dass Henry Maske mal in die Waschlappen-Fraktion wechseln würde. Will Smith und Tommy Lee Jones hatten zwar auch mit Schleim zu kämpfen, aber den pusteten sie einfach mit ihren Megaknarren weg.
Im Reisebüro winkte ein Kapitän von einem weißen Traumschiff und vor dem Kiosk verkündete das Lottoschild die Gewinnsumme für den kommenden Mittwoch: 1,3 Million DM. Ganz schön läppsch, würde sein Vater sagen. Gestern Abend hatte er einen seiner seltenen Anrufe bekommen. Sein Vater fand alles läppsch, was Philipp machte. Er bog nun in die Kurve am Ende der Mall ein und kam an den Stehtischen der Bäckerei vor dem Supermarkt vorbei. Der Duft von Kaffee stieg ihm in die Nase und die Krapfen im Zuckermantel hinter der Glastheke ließen seinen Magen laut rumoren. Schade, dass Franzen und Poloczek hier nicht standen, dann hätte er sich dazu gesellen können. Sein Blick wanderte zum Kameraauge in der Ecke unter der Decke. Der Hai wartete sicher nur darauf, ihn endlich für den tödlichen Biss zwischen seinen Sitzzähnchen zu bekommen. Seufzend schlurfte Philipp weiter.
Er warf im Vorübergehen einen Blick in das spiegelnde Schaufenster vom Reformhaus. Zwischen Hausschuhen aus grauer Schafwolle stach sein dunkler Anzug hervor, sein blasses rundes Gesicht schwebte konturlos darüber wie ein Luftballon. Heute war definitiv ein Tag für seine Sonnenbrille. Er zog die Wunderwaffe aus der Jacketttasche und setzte sie sich auf die Nase. Yes, Man in Black is back!
„Erscheinen Sie, sonst weinen Sie!“, knurrte er seinem Spiegelbild entgegen und lächelte zufrieden. Mit dem breiten Gang eines Siegertypen setzte er seinen Rundweg fort.
Endlich kam er auf Ebene 1. Die letzten Stufen auf der Rolltreppe stieg er kraftvoll nach oben. Der Duft vom Parfüm lag in der Luft. Hinter der Glasscheibe standen die gläsernen Flaschen auf kleinen Podesten unter Halogenstrahlern wie kleine Stars. Manche Flakons waren wie die Frauenkörper geformt, die mit ihrem Namen für das Parfüm warben. Jede Frau, die sich mit dem Duft besprühte, sollte sich genauso sexy fühlen, wie eine berühmte Schauspielerin oder ein Supermodel. „Selbstwertgefühl auf Spraystoß“, sagte die weise Oma von Torsten.
Philipp spürte, wie sein Hals warm wurde. Davon juckte der Rasierschnitt in seiner Haut. Er riss sich das Donald-Duck-Plaster ab und knüllte es in seine Hosentasche. Er hatte bestimmt wieder rote Apfelwangen (O-Ton Mama). Gut, dass er seine Sonnenbrille auf hatte, das war männlich. Als er durch die Metallschranken des Eingangs ging, piepte es laut drei Mal und Philipp zuckte zusammen. Scheiß Auftritt. Alle Köpfe im Laden drehten sich nach ihm um. Auch Ramona guckte zu ihm und ihre langen schwarzen Haare schlugen Wellen, dass er fast seekrank wurde. Ihre roten Lippen zogen sich in ein breites Lächeln und die Zähne blitzten wie Perlen. Sie kam hinter der Glastheke hervor und ging mit ihren runden Hüften auf ihn zu. Philipp schob seine Sonnenbrille hoch in die Haare, damit er sie in voller Farbe sehen konnte. Durch das enge blass-lila Top sah er ihre Möpse hüpfen. Philipp grinste entschuldigend und breitete seine Hände aus.
„Du kannst mich durchsuchen, ich habe nichts geklaut“, sagte er.
Na, wenn das mal kein guter Spruch war. Und der stammte noch nicht mal aus „MIB“. Ramona flatterte mit ihren langen schwarzen Wimpern (angeklebt, wie Silva behauptete) und legte ihre Hände auf die Hüften wie eine strenge, aber total heiße Lehrerin.
„Ist das da ein Parfümflakon in deiner Tasche, oder bist du nur froh mich zu sehen“, fragte Ramona mit Schokoladenstimme.
Philipp dachte an das zusammen geklebte Pflaster in seiner Hosentasche und wurde noch röter. Aber sie meinte sowieso was anderes. Jetzt brach ihm Schweiß auf der Stirn aus.
„Fräulein, ich suche ein Parfüm mit Rosenduft. Wenn Sie Ihr Privatgespräch kurz unterbrechen könnten, um mich zu bedienen“, sagte eine Frau mit brüchiger Stimme dazwischen. Da hatte er endlich eine geile Connection mit Ramona am laufen und dann kam so eine blöde Tante dazwischen.
Ramona wendete sich der Kundin zu. Die Frau hatte ein schmales Gesicht wie eine Ziege mit einer sitzen Nase, einigen Falten um den Mund mit rosa Lippenstift, der in den Mundwinkeln bröckelte. Ihre Haare waren blond gefärbt und wie ein Turban nach oben gewunden, wobei die fasrigen Haarsträhnen mit tonnenweise Haarspray zusammen geklebt waren. Da könnten Vögeln drinnen nisten. Die Rosen-Oma trug ein beiges Kostüm mit Rock bis zu den Knien (ihre Beine sahen noch nicht so alt aus) und einem Jäckchen mit flachen Trachtenknöpfen so groß wie Fünf-Mark-Münzen. Über ihrem linken Arm hing eine eckige braune Lederhandtasche mit goldenem Schnappverschluss, der von zwei dicken goldenen Knubbeln, die sich umarmten, zusammen gehalten wurde. Die Handtasche sah wie ein überdimensionales Portemonnaie aus. Ihre kleinen blauen Äuglein blinkten unter blauer Wimperntusche hervor. Sie musterte Philipp von Kopf bis Fuß und zog ihre Mundwinkel nach unten. Ramona lächelte die Meckerziege profimäßig an.
„Selbstverständlich. Wir haben da eine ganz liebliche Duftnote von Schanell“, sagte Ramona und führte die Frau zum Regal gegenüber.
Philipp rückte seine Sonnenbrille zurecht und patrouillierte langsam zwischen den Regalen im Mittelgang der Parfümerie entlang. Er war schließlich für die Sicherheit verantwortlich und kraft seiner Aufgabe hier. Er streckte sein Kinn vor und seine Schritte wurden breiter.
Die Meckerziege ließ sich von Ramona verschiedene Parfüms auf ihre dürren Handgelenke sprühen. Dann hielt sie ihre spitze Nase daran und schüttelte jedes Mal ihren Kopf.
„Wie Lady Di, die Rose von England“, schnappte er von der Frau auf. Immer noch Lady Di dies, Lady Di das. Frauen waren komisch. Seine Mutter seufzte immer noch schwer, wenn im Fernsehn irgendwas über die Prinzessin der Herzen gelabert wurde.
Er senkte die Sonnenbrille wie ein Visier über seine Augen, die Ramona aus dem Schatten heraus unsichtbar verfolgten. Sie bewegte ihren Mund in freundlichen Erklärungen, fuhr mit ihrer kleinen rosa Zungenspitze über ihre roten Lippen und ihm sogar einen heimlichen Blick zu. Wie Verschwörer mit einem Geheimnis.
Gerade machte Philipp in seiner fünften Streife im Mittelgang zackig kehrt, als er den Tennis-Champ von Hinter-Unter-Wiesendorf zur Tür herein marschieren sah. Der Typ tat gerade so, als würde ihm der Laden gehören. Verpiss dich zurück in dein Decathlon! Der Sonnenbankschönling mit den braunen Locken trug ein weißes Tennisshirt mit kurzen Ärmeln (wir haben Oktober, ey!), damit man seine Angeber-Muskelarme bestaunen konnte. Um seine Handgelenke trug er weiße Schweißbänder wie andere Leute Goldkettchen. Im Schaufenster vom Sportladen auf Ebene 2 hatte Philipp die Tennisoutfits an den Männerpuppen im Vorbeigehen oft angeguckt – alles aus der Pete Sampras-Kollektion. Laut Werbeschild der aktuelle Wimbledon-Sieger. Sein Vater hatte früher immer zu Boris Becker gehalten. Tennis ging Philipp echt am Arsch vorbei.
Ramona schüttelte ihre Haare und zwinkerte Schweißbandtypen aufreizend zu. Der schlenderte zum Regal mit den Herrendüften und tat so, als würde er sich für das Zeug interessieren. Er griff nach der Adidas-Flasche im herben Dunkelbau mit schwarzem Deckel. Als ob das männlich wäre. Ramona ließ ihre Kundin stehen und stöckelte zum Tennis-Löckchen.
Philipp straffte seine Schultern und dachte an Tommy Lee Jones. Er hoffte, seine Miene war jetzt genau so grimmig. No bullshit. Er war Profi. Er rückte sein Funkgerät zurecht, das wie ein Colt an seinem Gürtel baumelte. Er legte seine rechte Hand darauf, bereit, jederzeit zu ziehen.
Jetzt fiel sein Blick auf die Lady Di-Verehrerin, die in einer Parfüm-Wolke stand – jedenfalls sah er sie leicht verschwommen – und abwechselnd an ihren beiden Handgelenken und an einigen besprühten Papierstreifen schnüffelte. Das goldene Maul ihrer braunen Handtasche stand offen. Einige helle Papiertücher ragten heraus und verdeckten den Blick ins Innere. Nun drehte sie ihm den Rücken zu. Er konnte die Handtasche nicht mehr sehen. In schneller Folge nahm sie mit ihren knochigen Fingern Parfüm-Flakons aus dem Glasregal, führte sie an ihre Nase und stellte sie wieder zurück, ohne gesprüht zu haben. So bewegte sie sich zügig am Regal entlang, weg von Ramona. Die achtete gar nicht darauf und flirtete schamlos mit dem Tennis-Typen.
Jetzt hatte die Stunde geschlagen, in der Philipp beweisen konnte, aus welchem Holz er geschnitzt war. Ein richtiger Detektiv brauchte nicht die Tat zu sehen, sondern alleine die Spuren und seine Fähigkeit, daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen, führten ihn zum Täter. Das hatte er oft genug in Filmen gesehen. Er hielt die Luft an und pirschte sich von hinten an die Verdächtige heran. Dann sprang er mit zwei Panther-Schritten hinter sie, packte sie an ihren dürren Schultern und drehte sie zackig zu sich herum. Die eckige Handtasche, die am kurzen Trageriemen über ihrem linken Unterarm hing, stieß scharf in seinen weichen Bauch. Philipp riss der Frau die Handtasche vom Arm, zog die Taschentücher heraus, die wie Minifallschirme zu Boden segelten und durchwühlte die Tasche. Ein Reclam-Büchlein kam ihm zwischen die Finger, Deutschunterricht-Flashback. Er ließ das Buch fallen, als hätte es seine Hände verbrannt. Ha, da hatte er es! Triumphierend zog Philipp ein braunes Parfümfläschchen mit lila Blumenaufkleber heraus.
„Was erlauben Sie sich?“, rief die Diebin schrill.
Ramona kam angerannt.
„Was machst du denn da?“, fragte Ramona fast genauso schrill. Sie hatte ihre schmal gezupften Augenbrauen zusammen gezogen und ihr rosiger Mund stand empört offen. Sie entwand ihm die Handtasche und gab sie der Frau zurück.
„Entschuldigen Sie bitte“, nuschelte Ramona unterwürfig.
„Sie hat gestohlen“, sagte Philipp laut und plötzlich hallte seine Stimme unangenehm in seinem Kopf wieder und er hatte das Gefühl, die restliche Welt wäre auf „Stumm“ geschaltet. Aus dem Augenwinkel sah er zwei dicke Damen beim Sonderpostenkorb stehen und miteinander tuscheln, dabei fixierten sie ihn mit missbilligend kniependen Augen.
„Hier, das Parfüm hat die Frau in ihre Handtasche gesteckt. Ich habe es genau gesehen“, fügte Philipp atemlos hinzu und schob die Sonnenbrille mit wackligen Fingern wieder hoch in seine Haare, weil ihn ihr dunkler Schleier plötzlich unsicher machte. Okay, gesehen hatte er es nicht. Aber der Beweis war da. Er streckte das braune Glasfläschchen mit dem runden Plastikschraubdeckel wie einen Pokal unter Ramonas Nase.
„Das ist mein Brunellus Lavendelöl“, keifte die alte Ziege.
„So eine Unverschämtheit! Das ist mir ja noch nie passiert!“, meckerte die Frau weiter und jetzt tastete sie ihre Schultern ab.
„Ich habe Schmerzen. Ich verklage Sie!“, dabei blickte die Rosenrächerin in die Runde und schloss alle Schuldigen im Parfümladen in ihre Drohung mit ein.
Philipps Blick kreuzte sich mit dem vom Tennis-Angeber, der wie ein Beschützer neben Ramona stand und den Kopf milde schüttelte, so als würde ihm Philipps Dummheit leid tun. Ramona schaute mit ihren falschen Wimpern stur an ihm vorbei.
Der Tumult ging noch weiter. Die Rosenduft-Ziege tat so, als würde sie ohnmächtig werden, ein Stuhl wurde herbei geholt, ihr wurde ein Wasserglas gebracht – Ramona und ihre Kollegin benahmen sich wie eifrige Stewardessen – sie betupften ihre Schläfen mit dem Lavendelöl aus der braunen Unglücksflasche. Das stank wie im alten Bauernschrank seiner Mutter, wo ihr Hochzeitskleid in einem Mantel mit Mottenkugeln hing und gelb wurde.
Sein Funkgerät knisterte und rauschte, aber Philipp ging nicht dran. Plötzlich stieß die Hai-Visage vom Chef neben ihm durch den Dunst. Mit seiner glänzenden Glatze und triefenden Nase sah er echt so aus, als wäre er hierher geschwommen. Als erstes riss er Philipp das Funkgerät vom Gürtel. Seine Spitzzähne klappten dabei auf und zu.
Dann war auch der Manager-Anzugträger mit seiner goldenen Krawattennadel da. Philipp hatte ihn nur einmal bei seinem Vorstellungsgespräch gesehen. Sein Foto prangte ganz oben in der Bilder-Pyramide der Abteilungsleiter vom Einkaufszentrum.
Immer noch hing eine schwere Wolke von Parfüm in der Luft, das die Nicht-Diebin vorhin aus Dutzenden Flaschen versprüht hatte. Philipp wurde schlecht davon und er merkte, wie sein Oberhemd ihm feucht am Rücken klebte. Er guckte hauptsächlich auf den Boden. Ramona trat mit ihren rosa-roten Pumps auf das gelbe Reclam-Buch, was immer noch auf den grellen Fliesen lag. Philipp entzifferte den Titel: „Voltaire: Zadig oder Das Schicksal“.
Der Tennis-Champ bückte sich nach dem Buch und überreichte es der aufgelösten Besitzerin mit einem Siegerlächeln.
„Sie haben wenigstens Manieren“, lobte die ihn die Versehrte und tätschelte mit ihren knorrigen Fingern die weißen Schweißbänder vom Schönling. Nachher würde er ihr bestimmt noch einen Tennisschläger verkaufen.
Herr Krawattennadel kniete vor der jammernden Kundin, die immer noch in den Stuhl gesunken saß und über ihre Schultern strich.
„Ich bitte Sie im Namen unseres Managements um Entschuldigung. Die Sicherheitsabteilung ist krankheitsbedingt schwach besetzt und der Mitarbeiter ist nur ein Praktikant auf Probe. Wir bedauern diesen Zwischenfall zutiefst, Frau Oberstudienrätin“, sabberte der Typ. Wahrscheinlich war er früher mal ihr Musterschüler gewesen. Im diesem beschissenen Frankenkaff kannten sich alle.
„Ich kann Ihnen nur empfehlen, künftig keine Primaten mehr als Praktikanten einzustellen“, sagte die Oberlehrerin mit spitzem Ziegen-Mund, in deren herunter gezogenen Winkeln sich ihr rosa Lippenstift krümelte. Sie tat nur so schwach, damit der Shopping-Mall-Manager mit einem fetten Einkaufsgutschein heraus rückte, was er dann auch tat.
Habermann nieste mehrfach wie ein Orka dazwischen und versprühte Viren-Gischt. Er brabbelte Entschuldigungen und sein mehliger Bauch guckte dabei unappetitlich zwischen zwei überspannten Knöpfen über dem Gürtel hervor.
Endlich durfte Philipp die Szenerie verlassen. Er trottete neben dem Hai hinunter in den Keller. Unten riss Habermann im schwammigen Licht der schwarz-weiß Monitore die oberste Schublade vom grauen Rollcontainer auf, holte ein bedrucktes Blatt Papier heraus und kritzelte nur noch Datum und Unterschrift mit einem Kuli aus dem 100er-Pack vom Pfennigland darunter. Dann hielt sein Ex-Chef ihm das Schreiben mit dem Titel „Kündigung“ mit lang ausgestrecktem, haarlosen Nikotin-Pflaster-Arm hin.
Philipp holte seine Cola-Flasche aus dem Spind und hängte sein MIB-Jackett zum letzten Mal auf den Drahtbügel und riss sich den angekletteten schwarzen Schlips vom Hals.
„Das ist der letzte Anzug, den Sie jemals tragen werden“, murmelte Philipp auf der Rolltreppe nach oben.
PS: Mein Schreibabenteuer geht im April weiter, wenn ich zur Überarbeitung einläute und meinen Text (nach einem ersten „clean-up“) auch gewillten Testleserinnen anvertrauen werde.
Prolog am Mittwoch: Das W von letzter Woche wirft seinen Schatten als M vor mich hin. Eigentlich wollte ich heute an meinem Roman weiter schreiben. Ich hänge durch. Die Musen haben mich verlassen. Meine letzten Zeilen habe ich am Valentinstag geschrieben – 826 Wörter und mitten in der Szene abgebrochen.
Was ist nur passiert? Mein Roman scheint mir zu entgleiten, die Figuren und ihre Geschichte kommen mir bedeutungslos vor. Macht es einen Unterschied, ob ich die Geschichte zu ende führe oder nicht? Lähmende Gedanken.
Doch! Ich will das Finale schreiben – es fehlt auch nicht mehr viel. Ich brauche ein neues Ziel: Bevor der März anbricht, also bis zum nächsten Mittwoch, den 28. Februar 2018, will ich mein Werk vervollständigen (den 1. Entwurf).
Heute morgen rette ich mich erst mal in diesen Blogbeitrag – sobald ich über Musen dichten will, überhäufen sie mich mit ihren Küssen.
(Die Leserichtung des Gedichts läuft wie gewohnt von links nach rechts, Zeile für Zeile von oben nach unten. Die Lücken zwischen den Buchstaben symbolisieren auch die Abwesenheit der Musen.)
ANRUFUNG VERLORENER WÖRTER AN MUSEN
ANRUFUNG VERLORENER WÖRTER AN MUSEN
ANRUFUNG VERLORENER WÖRTER AN MUSEN
Exodos am Mittwoch:
Für die Freunde der Sprachspiele in der Ästhetischen Bildung hier die „contraintes“ (habe ich mir selbst zusammen gereimt) für dieses Gedicht:
– in jeder Zeile müssen Wörter mit „M“ vorkommen, die gemeinsam die Form des M annehmen,
– in der ersten Zeile: 2 M-Wörter (für die Spitzen),
– in den folgenden Zeilen: jeweils 4 M-Wörter (auch mehrere M’s im selben Wort erlaubt, besonders wichtig in den Spitzen, da sie eng zusammen stehen müssen) und
– in der letzten Zeile: 3 M-Wörter (für die Standbeine).
Ob die Musen wohl unsere Anrufungen erhören und mich in den nächsten Tagen durch mein Roman-Finale tragen?
Heute ist Valentinstag. V hat mich endlich verlassen. Nun ist Platz an meinem Hals für einen Nachfolger. Willkommen Double-V. Wieso, weshalb, warum?
Vielleicht – wohl wahrscheinlich – weil ich gerade viele Wörter zur „Ästhetischen Bildung“ für mein nächstes Studienseminar lese und mich Wortspiele wahnsinnig in Versuchungen verstricken. Eine ästhetische Erfahrung ist eine sinnliche und leibliche Wahrnehmung. Warum also nicht beim Dichten – besonders wenn es um das Leben und die Liebe geht – auch Klänge, Formen und Farben einbeziehen?
W-Worte wandern wunderlich durch meine Gedanken und haben mich zu dieser Valentins-Widmung inspiriert. Beim Lesen dürft ihr gerne wahlweise die Wege variieren.
Wer hat nun auch Lust auf ein formschönes Gedicht? Vielleicht gibt es ja einen Buchstaben, der dein Herz erobert hat. Ich freue mich auf eure wagemutigen Werke!
Mein Notebook ist seit heute morgen ohne „ “. Verloren over night. Jetzt denkt ihr vielleicht: nicht so schlimm, mit „e,i,o,u“ ist immer noch genug Wörterfülle möglich. Dies ist keine Not. Vielleicht schon Tugend.
Ich ber ntworte euch: lle Buchstben des lphbets bruche ich, knn nicht lssen von Voklen!
Wohin bist du nur usgebüchst? uf der Tsttur finde ich nur noch deine Fssde, dhinter ghnt der bgrund. Prgmtiker könnten mir sgen: usweichen knn ich uf copy+pste. ber ich will keine Kopie us der Konserve. Mich verlngt es nch dem Originl!
Oder soll ich die Herusforderung nnehmen?
In der Bücherwelt gibt es Wortkünstler, die zum linguistisches und stilistisches Experiment ein komplettes Buch ohne ein einziges „e“ schrieben. So zum Beispiel Georges Perec in:
Wieso sollte Perec nicht mein Vorbild werden? Ich ziehe zur Seine und werde Oulipo-tin!
In meiner Schriftstellerei könnte ich den Schluss meiner Geschichte ebenso ohne „ “ schreiben. Elise und Philipp kommen ohne diesen Letter hin. Nur der Junge müsste seine Gitrre hergeben.
In förmlicher Korrespondenz könnte ich die Gender-Diskussion befeuern:
„Sehr geehrte Herrinnen und Herren“
Ist dies Fortschritt oder Rückschritt in Dingen der Gleichberechtigung?
„Mit freundlichen Grüßen“ komme ich nicht in die Bredouille.
Wenn es um die Liebe geht, könnte ich noch ein „oh“ für ein „ h“ vorgeben.
Sgt mir doch und gebt mir Rt: Soll ich ein utoren-Leben ohne „ “ wgen oder kpitulieren und die Tsttur meines Notebooks reprieren lssen?
Heimlich erhoffe ich die wunderliche Wiederkehr meines kleinen Weltenbummlers.
Dies wird keine Erfolgsmeldung. Aller Anfang ist schwer? Nein! Alles Ende ist schwer! Seit mehr als einer Woche hat sich der Innere Kritiker in mir breit gemacht, unter dessen Gewand sich die nackte Angst verbirgt.
Mein Romanabenteuer, das ich am 1. November 2017 mit spielerischem Eifer begonnen habe, hat seine Leichtigkeit völlig verloren. Stattdessen hat sich ein Mantel von drückendem Ernst darüber ausbreitet. Wo ist bloß meine Unbeschwertheit im Schreiben geblieben?
Wenn ich meinen Blog-Eintrag von letzter Woche lese, überkommt mich eine Beklemmung – mit Leistungsdruck und Abgabefrist habe ich versucht, meine inneren Warnsysteme zu übertönen.
Ich wollte mein Traumprojekt so gerne bis zum Jahresende abschließen. Mein Pflichtgefühl und das schlechte Gewissen haben schon in Dezember mächtig an mir genagt, weil ich alle meine Energie für das Romanschreiben eingesetzt und meine Arbeiten für das Studium ziemlich vernachlässigt habe. Ab Januar – so mein Deal mit mir selbst – werde ich dann richtig Gas geben und alles nachholen.
Jetzt ist es Januar, mein Roman ist noch nicht fertig und Panik steigt in mir auf. Nachts liege ich wach und in meinem Kopf kreist die Liste von überwältigenden Aufgaben, die ich irgendwie in eine Reihenfolge bringen muss, um sie frist- und anforderungsgerecht abzuarbeiten. So wie vor nicht allzu langer Zeit in meinem letzten Job, wo meine ersten Gedanken morgens beim Aufwachen und die letzten Abends vor dem (Nicht-) Einschlafen (und fast alle Gedanken zwischendurch) der schier erdrückenden Last von Arbeitsaufträgen galten. Aus diesem Teufelskreis hatte ich mich doch eigentlich befreit.
Die Leichtfüßigkeit hat mich auch im Studium verlassen. In die spielerische Entdeckungsfreude vom Anfang hat sich nun im 3. Semester etwas Schweres eingeschlichen: Der Zweifel. Der Zweifel, ob ich den vielfältigen Anforderungen gewachsen bin. Bald schon sollen wir uns ein Thema für unsere Masterarbeit aussuchen und ich habe noch nicht den Hauch eines Ansatzes von einer Ahnung, was das für mich sein soll. Auch mein Praxisvorhaben bereitet mir Sorge, denn für mein theoretisches Konzept der Schreibspaziergänge habe ich noch keine Umsetzungsmöglichkeit gefunden – bei den Volkshochschulen bin ich an verschlossenen Türen abgeprallt und wie ich sonst eine Gruppe schreibwilliger Menschen in Berlin finden soll, steht wie eine Steilwand vor mir und mir fehlt die Kletterausrüstung. Vielleicht muss ich auf die schreibpädagogische Betreuung einer Einzelperson zurückgreifen – das erscheint mir eher möglich.
Aber zurück zu meinem Roman – meinem Traumprojekt und meiner Zukunftsperspektive. Was ist in den letzten Wochen passiert? Warum hat sich der Innere Kritiker lautstark zu Wort gemeldet?
Passenderweise ist es eine Studiumsaufgabe für den Januar, einen schriftlichen Dialog mit meinem „Inneren Zensor“ zu führen (oder „Erlauber“, wie ich gerade beim Blick in den Modulübungsplan sehe, aber diese Variante habe ich offenbar ausgeblendet). Ich hätte nicht gedacht, dass mich dieser Dialog nicht nur akademisch, sondern mit akuter Dringlichkeit erfassen wird. Es ist höchste Zeit, dass ich meinen Dämon zum Gespräch bitte. Ich hoffe, bei näherem Kennenlernen verliere ich meine Furcht vor ihm.
Warum hat erst das Roman-Finale meinen Peiniger auf den Plan gerufen? Zu Beginn meines Schreibprojekts im Rahmen des „NaNoWriMo2017“ ging es darum, jeden Tag eine bestimmte Wörteranzahl zu Papier zu bringen. Das hat mich große Disziplin und auch einige Anstrengung gekostet – und trotzdem habe ich beim Schreiben eine rauschhafte Erfüllung erlebt. Denn die Quantitatsvorgabe war für mich gleichzeitig eine Freistellung von Qualitätsansprüchen. Eine Erlaubnis, einfach drauflos zu schreiben – nach Lust und Laune ohne festes Inhaltsziel. Die innere kritische Stimme („sei perfekt“ ist ihr Credo) hatte Urlaub. So konnte ich mich genüsslich frei schreiben, gerne auch mal ausschweifend über alle Früchtesorten im Marmeladenvorrat meiner Protagonistin Elise. Auf diese Art habe ich jeden Tag ein Kapitel geschrieben, mit dem ich rundum zufrieden war, und habe meine Figuren und Handlungsstränge leichthändig entwickelt. Daraus ist eine lebendige und farbenfrohe Fülle entstanden.
Dann kam der Dezember. Meinen Vorsatz, nur jeden zweiten Tag zu schreiben, habe ich nach Erledigung meiner Pflichtaufgabe (Entwurf von Philosophie-Essay) schnell aufgegeben und wieder täglich geschrieben – wenn auch mit weniger Worten, dafür mit Korrekturschleifen. Das war die Zeit für das große und verfrühte Comeback meines Inneren Kritikers. Nun sitzt er auf meiner Schulter und raunt mir unaufhörlich ins Ohr. Die Handlung ist komplex, die Figuren buhlen in großer Zahl um meine Aufmerksamkeit. Mein Plot-Planungsdokument wird täglich detaillierter. Der Countdown zum Jahresende tickte mit jedem Tag lauter.
Nach meinem ersten Strauchler am letzten Donnerstag habe ich mich am Freitag mit großer Kraftanstrengung noch zu 2.500 Worten gezwungen – wobei jetzt jedes Wort vom Kritikermeister abgewogen und mit einem Qualitätsurteil versehen wird. Dann hat mich am Samstag eine Schmerzwelle überspült und untergetaucht – was mich jedoch nicht davon abgehalten hat, an diesem Tag und am Silvesterabend noch jeweils über 1.000 Wörter zu Papier zu bringen. Die Silvesternacht mit der Böller-Hölle in Berlin bis 5 Uhr in die Früh hat mir dann den Rest gegeben und am 1. Januar habe ich endlich den Widerstand gegen meine mentale und körperliche Erschöpfung aufgegeben. Ich habe mir einen außerplanmäßigen Ruhetag zugebilligt.
Welcher peitscheschwingende Sklaventreiber bringt mich soweit? Wo früher im Berufsleben ein Vorgesetzter und Kollegen Leistungsdruck auf mich ausgeübt haben, habe ich diese Rolle nun freiwillig dem Inneren Kritiker übergeben.
Ganz planmäßig habe ich mir dann am 2. und 3. Januar 2018 einen Belohnungsausflug nach Dresden gegönnt. Zum Glück schon fest gebucht, denn eine penible Stimme in meinem Kopf hat mir vorgehalten, dass ich mir ohne Romanfinale die Belohnung eigentlich gar nicht verdient hätte. Auf den Schwingen der berauschenden Musik von Korngolds „Die Tote Stadt“ konnte ich für kurze Zeit in andere Sphären entschweben.
Zurück in Berlin. Der Innere Kritiker entdeckt eine Staubschicht auf meinem Laptop und dem Stapel der Uni-Lehrbriefe.
Eine schlimme Nacht wartet auf mich. Der Sturm rüttelt an meinen Rollläden (nicht nur metaphorisch) und noch heftiger stürmen die Gedanken in meinem Kopf. Endlos und auswegslos sortiere ich meine Arbeitsaufträge wie Bauklötze, versuche die wackligen Türme vor dem Einsturz zu bewahren, indem ich sie umsortiere, in eine andere Form oder Konstruktion zu bringen versuche. Es werden nicht weniger. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als Schlaf. Ein Bewusstseins-Vakuum. Wenn es doch nur eine Aus-Taste für meinen Kopf gäbe!
Ich fahre das volle Geschütz gegen meinen Gedankenwirbel auf: Japanisches Heilöl brennt kalt auf meiner Stirn, ich lausche auf die Stimmen aus dem CD-Spieler vom Kleinen Prinzen, vom anarchistischen Kling-Känguru, auf die großmütterliche Stimme von Luise Reddemann, die Achtsamkeitsübungen mit mir machen will, mich zum Gepäck ablegen und zu meinem Wohlfühlort einlädt – sie alle können mich nicht retten. Vor dieser Gedanken-Kobra, die mich würgt und zu verschlingen droht!
Was sind das für Gedanken? Sie handeln von Pflicht, Disziplin, Leistung, Ordnung. Sie umklammern mich. Oder umklammere ich sie? Jene Gestalt, die ich oben den „Inneren Kritiker“ genannt habe. Diese Gestalt steckt in einem Korsett, eingeschnürt von den eigenen hohen Ansprüchen. Aber was steckt eigentlich darunter? Was würde passieren, wenn all diese Schnüre und Stricke abfallen würden? Dann würde die nackte Angst vor mir stehen! Aber diese Angst bibbert nicht davor, zu versagen oder nicht gut genug zu sein. Nein, sie schlottert vor dem Verlust des Korsetts, das sie zusammen hält – vor dem Verlust von Halt, von Kontrolle – vor dem Sturz ins Bodenlose. Die Angst ist paradox. Sie ist unlogisch. Sie ist ein Gefühl. Sie ist ein Bild.
Ich versuche, ein Bild zu finden, um meinen Sturzflug irgendwie aufzuhalten. Und dann finde ich es (um 4 Uhr nachts): Das Bild vom Himmel über den Wattewolken. Ich könnte Schweben, anstatt zu stürzen! Ich bin so erleichtert über dieses Bild, dass mir die Tränen kommen. Und mit den Tränen fließt auch ein Teil meiner Anspannung ab und ich kann endlich einschlafen.
Am Morgen beschließe ich, erst mal inne zu halten, anstatt den Düsentrieb für mein Romanfinale anzulassen.
Ich besinne mich darauf, was mein Schreiben für mich bedeutet – nämlich Freiheit. Schweben, statt stürzen. Deshalb hatte ich auch vor Monaten dieses wunderbare Himmel-Wolken-Bild für meinen Blog-Header ausgewählt. Ich hatte es ständig vor Augen und war zuletzt doch blind dafür.
Ich werde meinen Roman zu Ende schreiben. Ob ich das Finale in vier Tagen oder in vier Wochen (oh je, der Innere Kritiker steigt mit rotem Kopf an die Decke) schreibe, darauf soll es mir nicht ankommen. Ich freue mich darauf, meine Fantasie in die Lüfte zu schicken. Um die Handlungskluft kümmere ich mich erst mal nicht, sondern schreibe als nächstes die Szene, auf die ich mich schon seit Wochen freue: Mein Protagonist, der Junge mit der Gitarre, entkommt auf einem weiß-glitzernden Schneevogel von seiner Insel der Restriktionen und fliegt seiner (inneren) Freiheit entgegen.
Sobald ich das letzte Wort vom letzten Kapitel geschrieben habe, werde ich – ohne Korrekturschleife – diese 1. Fassung „ roh“ und ungeschliffen ausdrucken. Damit ich mein Werk physisch in Händen halten und umarmen kann – mit all seinen Imperfektionen, dem Überfluss an Adjektiven, den Tippfehlern.
Jetzt, wo ich das alles aufgeschrieben habe, kommen mir kurz Zweifel, ob ich diese sehr persönlichen Einblicke wirklich auf meinem Blog veröffentlichen soll. In der Welt der sozialen/digitalen Medien zeigen die meisten Menschen nur eine selektierte und retuschierte Seite ihrer Lebenswelt. Auch in meinem bisherigen Berufsleben gehörte es zum Leitbild, keine Schwäche oder Zweifel zu zeigen. Davon habe ich mich jedoch abgekehrt. Auch für die Schattenseiten darf und muss es Raum geben. So erlebe ich es schließlich auch in positiver Weise in meinem jetzigen Studium und im Austausch mit meinen Mitstudierenden.