Es ist vollbracht – ich habe mich 30 Tage lang der Schreib-Challenge des NaNoWriMo unterworfen und dies ist meine Bilanz (Stand 30.11.2019, 22:30 Uhr – die Zeit bis Mitternacht habe ich mit einer Ehrenrunde um den Häuserblock verbracht):
42.242 Wordcount total
2053 mein höchster Wordcount an einem Tag
1408 mein durchschnittlicher Tages-Wordcount (für die 50k hätte ich 1667 schaffen müssen)
1001 x gedacht: „In einer halben Stunde fange ich wirklich an!“
252 mein niedrigster Wordcount an einem Tag
179 Normseiten mit Carolines Briefen gefüllt
91 Schokoladenstücke (mit 70 % Kakaoanteil) beim Schreiben genascht
59 Spaziergänge (27 davon nach Mitternacht)
51 x mich beim Namen „Klarius“ vertippt: Klarisu
32 x Lebensmittel und Leckereien eingebaut (inkl. Recherche norwegischer Rezepte)
27 Tage, an denen ich mindestens ein Wort für meinen Roman geschrieben habe
23,58 die Uhrzeit, an der ich meinen Tages-Wordcount in die NaNoWriMo-online Statistik eingetragen habe (da kein Rückdatieren möglich)
21 x das Wort „Kuss“ verwendet
11 Namen für die Geschwister von Caroline ausgesucht: Elin, Liv, Hanne, Smilla, Gunda, Femke, Jaspar, Tjark, Finn, Mads und Jan (4 fehlen mir noch)
3 Tage, an denen ich genullt habe (d.h. kein einziges Wort zustande gebracht)
0 x die NaNoWriMo-Challenge verflucht
Nachtrag 1
1 x fälschlicherweise behauptet, ich hätte niemals die NaNoWriMo-Challenge verflucht
Nachtrag 2
Nicht quantifizierbar:
x Freude über die Geschichte, die entstanden ist
x ermutigendes und belohnendes Feedback aus meinem Familienkreis und von meinen treuen Blogleserinnen (DANKE an euch alle!)
In der dritten Woche bin ich in einen guten Schreibschwung gekommen. Ich schaffe an den meisten Tagen zwischen 1.700 und 1.900 Wörtern – liege damit über dem Tagespensum von 1.667 Wörter – aber um meinen schwachen Start der ersten zwei Wochen aufzuholen, reicht es nicht aus – aber mein neues Ziel lautet ja sowieso 40.000. Zurzeit liege ich bei 33.000 Wörtern (144 Normseiten) – ich kann das also in den nächsten 6 Tagen gut schaffen.
Inhaltlich bin ich immer noch bei Caroline im Winter 1933 bis Frühling 1934 und ihrem Kennenlernen mit dem Kapitän. Am Freitag hatte ich einen echt guten Lauf mit dem Erzählen ihres Verlöbnisses.
Als nächstes steht natürlich die Hochzeitsfeier an (dazu habe ich dänische Hochzeitsbräuche recherchiert – wirklich witzig, was es da alles gibt – zum Beispiel schneidet die Braut ihrem Bräutigam die Zehenspitze der Socken ab – früher musste sie diese dann wieder annähen und den Hochzeitsgästen damit ihre hausfraulichen Fähigkeiten beweisen). Aber am Samstag war ich dann so blockiert vor der Aufgaben, die Hochzeit nun als kleinen dramaturgischen Höhepunkt besonders toll zu beschreiben, dass ich an diesem Tag kein einziges Wort zu Papier gebracht habe (was meiner Wörter-Statistik einen weiteren Tiefpunkt verschafft hat).
Am Sonntag ging es dann wieder (habe mich schreibend in Hochzeitskleid-Diät und andere Vorbereitungen gestürzt) heute ist der Polterabend dran – ich zögere das große Ereignis ein bisschen heraus…
Zum dritten Mal stelle ich mich im November wieder der Herausforderung des National Novel Writing Month (NaNoWriMo) – einen Roman mit mindestens 50.000 Wörter in 30 Tagen zu schreiben – und heute ist Halbzeit (Tag 15). Meine Bilanz: Ich trage hechelnd die rote Laterne und habe den Anschluss ans Feld verloren. Mein täglicher Wordcount kommt an vielen Tagen kaum über 500 Wörter hinaus, an zwei Tagen habe ich genullt. Manchmal schaffe ich die 1.667 Wörter des Tagespensums – lege mich zufrieden ins Bett (nach Mitternacht – denn ich schaffe den Kraftakt des Schreibens meistens erst nach 20 Uhr) – nur damit der Wörterkampf am nächsten Morgen wieder von vorne anfängt. Hinzu kommt, dass ich ständig mit meinen körperlichen Beschwerden (starke Kopfschmerzen) zu kämpfen habe, was die Schreiblust nicht gerade erhöht.
Für das Soll-Pensum brauche ich 2 ½ bis 3 Stunden reines Schreiben. Meistens versuche ich, vor dem Mitagessen eine 45 Minuten-Session zu machen – wenigsten 600-800 Wörter, damit ich am Abend innerhalb von 2 Stunden die fehlenden 1000 Wörter hinbekomme. In der Zwischenzeit gehe ich viel spazieren und denke ein bisschen über meine Geschichte nach (aber meistens entwickelt sich die Handlung beim Schreiben selbst).
Und worüber schreibe ich: Meinen Antarktis-Frauenroman habe ich schon im Mai diesen Jahres entworfen und eine Exposé plus 20 Romanseiten für das Berliner Autorenarbeitsstipendum eingereicht (bisher noch nichts gehört, ich rechne mit einer Absage). Vielleicht ist es ja dieser Umstand, dass ich das Konzept schon recht gut ausgearbeitet habe, was mich jetzt so hemmt – ich habe jedenfalls keine Lust, meinen „Fahrplan“ abzuarbeiten.
Also habe ich am ersten Tag einfach mit einem Brief der jungen Caroline Mikkelsen an ihre Lieblingsschwester begonnen (diese habe ich Elin genannt – übrigens ist die Webseite für dänische Vornamen die am häufigsten von mir aufgerufene – ich brauche ständig neue Namen – am zweit häufigsten suche ich nach Rezepten, denn meine Heldin nascht gerne süße Sachen und muss auch für ihre Schwiegermutter ein nordisches Fischgericht zubereiten). So beginnt der Brief: Sandefjord (Norwegen) im Sommer 1934, die 27-jährige Dänin Caroline ist frisch mit Kapitän Mikkelsen verheiratet (den sie kaum kennt und der 19 Jahre älter ist als sie) und muss sich in ihrer neuen Heimat zurecht finden.
In der Briefform ist es mir recht leicht gefallen, die Stimme dieser jungen Frau zu finden, die vertrauensvoll ihrer Schwester von ihren Gefühlen und Eindrücken erzählt (ich habe mich im Briefschreiben auch davon befreit gefühlt, „literarisch“ zu schreiben, Caroline schreibt von der Seele weg, sprunghaft, mit Zwischeneinschüben in Klammern und vielen Gedankenstrichen).
Dieses Konzept habe ich beibehalten und ich bin immer noch briefeschreibend bei Caroline, auch wenn ich mich immer wieder ermahnen muss, nicht von meinem Stil der ersten Tage abzuweichen (je länger ich schreibe, umso reflektierter drückt sich Caroline aus, ich streiche zwischendurch immer wieder zu „gehobene“ Vokabeln und Formulierungen).
In den ersten drei Tagen habe ich die Begegnung von Caroline mit der Familie Christensen beschrieben, die ihre Antarktisexpediton von 1935 beauftragen. In dieser Brieferzählung kam der Kapitän nur am Rande vor und obwohl ich Caroline mit (naiver) Bewunderung über ihn schreiben lasse, klingt doch sein herrisches Temperament durch und ich habe einen Geizkragen aus ihm gemacht (so kontrolliert er zum Beispiel Carolines Haushaltskasse).
Am Tag 4 habe ich mir überlegt, dass man so nicht nachvollziehen kann, warum Caroline diesen Mann geheiratet hat. Also bin ich zeitlich in das Jahr 1933 zurück gesprungen, nach Frederikshavn (Dänemark) und habe mich ausführlich in die Begegnung des Paares vertieft: Sie arbeitet im Büro ihres Onkels, der einen Fischgroßhandel betreibt, der Kapitän ist Zulieferer und kommt als Geschäftsparter ins Büro und so kreuzen sich ihre Wege. Dann gibt es ein erstes „Date“, außerdem taucht eine Konkurrentin in Person der Bürovorsteherin Fräulein Olsen auf.
In den letzten Tagen habe ich beschrieben, wie Caroline (mit zwiespältigen Gefühlen) die Einladung des Kapitäns auf einen Besuch in seine Heimatstadt annimmt (der seine Heiratspläne klar zu verstehen gibt, die Mutter von Caroline drängt ihre Tochter, auf das Werben des Norwegers einzugehen). Heute habe ich eine Szene begonnen, in der Caroline ihrer skeptischen Schwiegermutter in spe etwas vorkochen soll (was gründlich schief geht).
Bei alledem habe ich mich alleine von meiner Fantasie leiten lassen – die biografischen Informationen über Caroline Mikkelsen (später Mandel), die ich von ihrem Sohn und aus diversen Zeitungsartikeln gewonnen habe, sparen diese frühe Phase ihres Lebens aus.
In vielen Details fehlt es mir an historischem Wissen (z.B. wie waren die Häuser in Norwegen in den 1930er ausgestattet, wie war die Infrastruktur von Sandefjord, wie fuhren die Autos, welche Musik wurde gehört, welche kitschigen Frauenbücher wurden gelesen – meine Suche hierzu bei Google hat keine Treffer ergeben) und von der Ausstattung eines Walfängers ganz zu schweigen. Aber im Moment will ich mich davon nicht aufhalten lassen (ich schreibe einfach auf Geratewohl), die historisch korrekten Details muss ich dann in der Überarbeitungsphase einfügen bzw. berichtigen.
Ich werde nun erstmal so weiter machen und nicht versuchen, meinen Plot-Plan abzuarbeiten. Im Moment habe ich keine Lust (und keine Inspiration), zu meiner zweiten Protagonistin Jesse zu wechseln, der Journalistin in Australien, die sich im Jahr 1995 auf die Suche nach der ersten Antarktis-Betreterin macht.
Völlig klar ist, dass ich bis Ende November die Romanhandlung nicht (annähernd) zuende schreiben kann. Und den 50.000 Wörtern will ich auch nicht mehr hinterher hecheln (ich könnte es bei einem Tagespensum von ca. 2.100 Wörtern noch schaffen). Ich sage mir: 40 ist die neue 50.
Mein neues Ziel sind 40.000 Wörter (das kann ich mit dem regulären Tagespensum von 1.667 Wörtern schaffen – das ist schwer genug).
PS: Die 925 Wörter dieses Blog-Artikels füge ich als Autorinnenreflexion in mein Romandokument ein – diese werden gnädig für heute mitgezählt.
Was haben die Apothekenzeitschrift und das Lindt-Weihnachtsmagazin gemeinsam? Es lassen sich so wunderbar seltsame Wörter darinnen finden.
Am Sonntag habe ich aus diesem bunten Wörterfundus Gedicht-Collagen zusammen gefügt. Bin immer wieder erstaunt, welche überraschenden Wortzusammenstellungen hierbei entstehen.
Für meine Wörtersuche habe ich mir die kostenlose Zeitschrift aus der Apotheke geholt – hiermit habe ich zuvor schon gute Erfahrungen gemacht – die Wörter dort sind erstaunlich vielseitig und ergibig (okay, „Reizdarm“ und „Rheuma“ muss ich ja nicht ausschneiden). Dann hat mich noch im Supermarkt auf meinem Pilgerweg zu den Weihnachtsleckereien das Werbemagazin von Lindt angelacht. Da versteckt sich ein Schatz sinnlicher und genussvoller Wörter drinnen.
Dann ging es ans freudige Durchblättern und Wörter Ausschneiden, die mich angesprochen haben.
Als nächstes habe ich die Wörter sortiert (nach Substantiven, Verben, Adjektiven, Bindewörtern und Satzanfängen) vor mir ausgebreitet und mich schließlich ans spontane Zusammenfügen gemacht, wobei ich gegen Ende doch ziemlich getüftelt habe, um an einigen Stellen das ideale unperfekte Wort zu finden.
Probiert es doch auch mal aus! Es macht wirklich Spaß.
Wer noch andere inspirierende Wörter-Collagen entdecken möchte, dem empfehle ich die kunstvollen Kreationen von Mo, einer Absolventin meines Jahrgangs im Masterstudiengang „Biografisches und Kreatives Schreiben“ an der ASH Berlin.
Nach den vielen Prosa-Texten der letzten Zeit habe ich mich in diesen Tagen mal wieder zu einem Gedicht inspiriert gefühlt. Ich hoffe, es gefällt euch.
Nachdem wir uns in der Prosa-Meisterklasse zuerst den Tieren und Pflanzen zugewendet haben, stehen in der zweiten Schreibaufgabe von Katja Lange-Müller die Menschen im Fokus unserer Betrachtungen. Es gilt, einen hässlichen (abstoßenden) Menschen mit Empathie zu beschreiben oder alternativ einen unsympathischen Menschen mit Spott, Hohn oder Zorn zu portraitieren. Das Portrait soll in wenigen Sätzen gezeichnet werden (nicht länger als eine halbe Seite). Da ich mich zwischen den Möglichkeiten nicht entscheiden konnte, habe ich beide umgesetzt.
Hier nun meine Texte. Ihr dürft gerne raten, welche Figur aus welcher Aufgabe hervorgegangen ist.
Text 1:
Alexanders
großartiger Sieg
Alexander saß auf dem dritten Sessel linker Hand des Abteilungsleiters am Konferenztisch und lauerte hinter gesenkten Lidern auf den richtigen Moment, um seinen präzisen und eleganten Todesstoß zu vollführen. Ein aberratio ictus war ihm noch nie unterlaufen – seine Geschosse trafen zuverlässig das richtige Ziel. Heute hieß das Ziel Peter der Große – diesen Beinamen verdankte er solum seiner Körpergröße von 1,92 Metern und war mitnichten auf Intelligenz oder strategisches Geschick zurückzuführen. Peter ergoss sich in einem unendlichen Redeschwall von Trivialitäten und täuschte Kompetenz vor. Alexander frohlockte innerlich, wie Peter seine rechtlichen Ausführungen als „de lege artis“ bezeichnete, wo jener de facto mit seinem Vortrag bewies, dass er keinesfalls die Regeln der Kunst beherrschte. De facto verstrickte der tölpelhafte Schwätzer sich in Widersprüche und tappte in jede Falle, die Alexander ihm voller Raffinesse gestellt hatte.
„Attacke“,
sagte der General in seinem Kopf und Alexander erhob sich zu seiner
vollen Größe von 1,61 Metern.
„Mein
geschätzter Kollege scheint übersehen zu haben, dass im
vorliegenden Fall ein Empfangsbekenntnis der Partei vorliegt, Blatt 8
der Akte. Somit dürfte ihm ein saltus in demonstrando
unterlaufen sein.“
Der Abteilungsleiter warf einen verächtlichen Blick auf Peter. Alexander – der wahrlich Große – spürte den Triumph warm durch seine Brust rauschen.
Text 2:
Schönheit
und Sorgen am Morgen
Alba richtete sich ächzend auf und tastete mit ihren krummen Zehen auf dem Teppichboden nach Halt. Unter ihren Fußsohlen spürte sie das harte Granulat vom Hamsterfutter – vielleicht waren auch ein paar Köttel ihrer Lieblinge mit dabei. Die Hamster Max und Moritz hockten auf dem zerrupften Polster vom Lehnsessel beim Fenster und schliefen. Draußen war es noch dunkel, aber Alba konnte nicht mehr schlafen. Ihr Rücken schmerzte und ihre Gelenke auch. Ihre schmale Hand mit den dicken Venen tastete nach dem Off-Knopf der Fernbedienung und das körnige Bild im Flimmerkasten erlosch. Sie griff nach ihrem Holzstock und rappelte sich hoch, schlurfte langsam in die Küche und zur Kaffeemaschine. Sie presste den spitzen, brüchigen Nagel ihres Zeigefingers in eine Öffnung im Plastikgehäuse, wo einst die Einschalttaste saß. Die Maschine erwachte gurgelnd zum Leben und heiße Tropfen fielen in großen Abständen in den Filter mit dem Kaffeepulver von Gestern. Alba nickte zufrieden und drehte das Radio auf.
„Juuu ahhhr
soooo bjutifuul tu miiii“, stimmte sie zahnlos und heiser in den
Gesang der Frau aus dem Radio ein. Sie öffnete das Fensterglas im
knirschenden Holzrahmen und streute Sonnenblumenkerne für die
Spatzen auf den Fenstersims; dabei musste sie sich mühevoll
hochrecken, ihr buckliger Rücken sträubte sich. Sofort kam die
fette Taube mit dem Klumpfuß aus dem Kirschbaum der Liebermanns
angeflogen und wollte die Körner picken.
„Der Winter bringt Hunger und Sorgen“, schmatzte Alba und ließ die Taube gewähren.
Ein zweites Mal lasse ich mich im Schwäbischen Kunstsommer im Kloster Irsee von den Musen umgarnen. Dieses mal bin ich in der MeisterklasseProsa bei Katja Lange-Müller. Schon beim Abendessen am Samstag sehe ich einige bekannte Gesichter aus dem letzten Jahr – zwei Dichterinnen sind wieder in der Lyrik-Klasse und wir frischen alte Erinnerungen auf.
Am Sonntagmorgen um neun Uhr sitze ich im Kapitelsaal unter Stuck und Freskomalerei – es ist derselbe Raum, wie letztes Jahr in der Lyrik, aber ein Déja-vu erlebe ich nicht.
Die Meisterin Katja Lange-Müller setzt sich nicht an das Kopfende des Tischs, aber das Zepter hält sie trotzdem in der Hand. In der Vorstellungsrunde beäuge ich meine Prosa-Gefährt*innen für die nächsten sieben Tage. Neun Frauen (eine davon aus Österreich) und ein Mann (aus der Schweiz), alle zwischen 60 und 75 Jahre alt bis auf ein junges Mädel (22), die einen Schwäbischen Nachwuchsliteraturpreis gewonnen hat (in Form eines Stipendiums für den Kunstsommer). Alle verbindet die Leidenschaft für das Schreiben und das Lesen („Im Schreiben wirken Lebenserfahrung und Leseerfahrung zusammen – wobei auch Leseerfahrung Lebenserfahrung sein kann“ – so die Meisterin). Einige haben einen Hintergrund als Lehrerin, sind nun im Ruhestand, bei allen ist das Interesse an Bildung und Kultur groß. Eine hat früher schon ein Kinderbuch veröffentlicht, alle anderen bewegen sich noch in den Sphären von Schriftstellerei ohne Veröffentlichungen mit vielen Texten in der Schublade („Ein Text ist erst fertig, wenn es zwischen zwei Buchdeckeln steckt.“).
Katja Lange-Müller (Jahrgang 1951) nimmt das Leben in vollen Zügen (nicht nur beim Rauchen) in sich auf, ist eine echte Berlinerin (erst im Osten, dann im Westen – aber auch sonst viel in der Welt herumgekommen) und als Linkshänderin mit Rechtsschreibeverbot hat sie sich dem Schreiben schon aus purer Rebellion zugewandt, sie schreibt immer gegen Widerstände und mit viel Empathie für die unterdrückten Menschen (sie hat z.B. viele Jahre als Krankenschwester in der Psychiatrie gearbeitet) und die missverstandenen Tiere, dabei mit viel skurrilem Humor. Von ihrem unvergleichlichen Witz bekommen wir in der Klasse viel ab, sie haut Sätze raus, die uns zum Lachen bringen (und die wir bald schon eifrig als Zitate für die Ewigkeit notierten).
Das Thema der Meisterklasse ist die schreibende Beobachtung von etwas Lebendem (Pflanze, Tier, Mensch). Zum Einstieg liest Katja uns Auszüge aus „Bummel durch Europa“ von Mark Twain vor, wo er urkomisch und ironisch zwei Ameisen bei ihrer sinnlosen Aktivität beschreibt. „Das Fliegenpapier“ von Robert Musil erschüttert mit seiner detaillierten Annäherung an den Todeskampf. Zur Vorbereitung auf die Klasse habe ich (auf Empfehlung der Meisterin) die Grauen erweckenden Erzählungen von Patricia Highsmith und die von Katja selbst („Die Enten, die Frauen und die Wahrheit“) gelesen, um mich auf das Genre der Erzählung einzustimmen. Wir kommen auf Kafkas „Verwandlung“ zu sprechen und auf seine genaue Beschreibung des Käfers, der sich für den informierten Biologen als Kakerlake entpuppt. Im Stundentakt machen wir Pause, weil Katja rauchen gehen muss (50 pro Tag) – von diesem Laster will/kann sie sich trotz Dauerhusten nicht lösen.
Für den Nachmittag bekommen wir die Aufgabe, einen Spaziergang in die Natur zu unternehmen und etwas Lebendiges (es darf auch ein phantastisches Wesen sein) zu beobachten und zu beschreiben – aber nicht (nur) äußerlich, sondern wir sollen das Wesen erfassen. Am Montagvormittag wollen wir uns wieder treffen und kurz berichten, ob jede etwas gefunden hat, ab 16 Uhr soll Vorleserunde sein.
Damit starten die ersten zwei Tage schreiberisch eher geruhsam. Ich mache einen langen Spaziergang durch den Klostergarten und in die Felder (die mir aus dem letzten Sommer noch angenehm vertraut sind), hocke mich an einen Teich und beobachte Fliegen, die auf dem Wasser schweben (nein, es sind Wasserläufer, wie ich später in der Klasse aufgeklärt werde – leider bin ich ein ziemlicher Biologie-Depp und weiß fast nie, wie die Pflanzen und Tiere heißen) und Frösche, die wie tot im Wasser tümpeln.
Zum Glück treffe ich noch auf sechs Jungkühe (seit meiner Kindheit meine Lieblingstiere), die am Zaun Futter suchen und die ich eine Viertelstunde lang Aug in Aug beobachte (inklusive Fliegengeschwirre und ein paar Mückenstichen).
Meinen Kuh-Text schreiben ich dann vor dem Abendessen innerhalb einer Viertelstunde per Hand (am nächsten Morgen tippe ich es auf dem PC ab und mache ein paar Änderungen). Zu den Wasserläufern schreibe ich auch eine halbe Seite, aber die Tierchen sind für mich nicht so ergiebig.
Die Musen halten mich ganz schön auf Trapp. Das Programm ist voll und ich gehe zu jeder Veranstaltung. So sieht mein Tagesablauf aus:
07:00 Uhr: Aufstehen
08:00 Uhr: Frühstück
09:00-12:00 Uhr: Arbeit in der
Meisterklasse (bzw. Schreibzeit)
12:00-13:30 Uhr: Mittagessen (plus
Spaziergang)
13:30-14:15 Uhr: Werkstattgespräch
(die Meister der bildenden Künste – 2x Malerei, Illustration,
Textilkunst – stellen sich und ihre Werke vor)
15:00-18:00 Uhr: Arbeit in der
Meisterklasse (bzw. Schreibzeit)
18:00 Uhr: Abendessen
20:00-21:00 Uhr: Abendwerkstatt (Einblicke in Tanz, Chor, Kammermusik, Lesungen Prosa und Lyrik)
21:00-22:00 Uhr: Spaziergang
22:00 Uhr: Bettruhe
Hierbei sammele ich jede Menge Inspiration. Beim Essen gibt es neben den Gaumenfreuden am reichhaltigen Buffet auch viel Gelegenheit, mit anderen Teilnehmenden ins Gespräch zu kommen. In den ersten Tagen tragen alle Namensschilder mit Klassen-Angabe – aber mit der Zeit lerne ich, die Menschen anhand ihres Aussehens ihrer Kunstform zuzuordnen – die Tänzerinnen sind aufgrund von Jugend und Schönheit leicht zu erkennen, die Maler sind mit Farbklecksen verziert, die Chorsänger sind öfters rund.
Am Montagnachmittag lesen wir erste Texte in der Klasse vor. Zu meinen Kühen gesellen sich eine Wespenfliege (die ein Florentiner Porträt bekrabbelt), eine gemeine Ackerwinde, Wasserläufer, ein Elch, eine Staublaus in einem Schweizer Labor und eine Raupe im grauen Bus auf dem Weg in den Tod (die jüngste Teilnehmerin überrascht mit einem Faible für schwere Themen und hat die Euthansie-Verbrechen der Nazis aufgegriffen, die im Kloster Irsee stattgefunden haben – es gibt hier eine Gedenkstätte).
Bei der Besprechung unserer Texte zeigt sich Katja als sehr interessiert, zugewandt und direkt. Sie nimmt auch kein Blatt vor den Mund, wenn sie etwas zu kritisieren hat („Da hast du mit dem Schinken nach der Wurst geworfen“ – bei einer Anhäufung von Klischees). Sie verbündet sich mit dem Text, notfalls auch gegen die Autorin („Das war aber so, ist kein literarisches Argument“), aber mit Herzlichkeit und Humor. Es zeigt sich auch ihre frühere Ausbildung zur Textsetzerin – sie nimmt die Texte auf Punkt und Komma unter die Lupe („Jeder Literaturliebhaber freut sich, wenn er mal wieder einem Semikolon begegnet“), auch der Schrifttyp (bitte mit Serifen) und Zeilenabstände (groß genug, einzeilig ist ein no-go) müssen stimmen, sonst vergehe der Leserin von vorneherein die Lust am Text.
Auch die Mitschreibenden geben sich sehr wertschätzend und konstruktiv Feedback. Mein Kuh-Text stößt auf viel positive Resonanz, was mich natürlich freut (vielleicht liegt es auch an den Tieren, die die meisten so sympathisch finden).
Nur die Zeit hat Katja nicht im Blick,
da wird schon mal eine Stunde lang ein einziger Text auf jedes Wort
hin abgeklopft. Eine Teilnehmerin übernimmt dankenswerterweise die
Rolle der Strukturwächterin und macht die Meisterin auf die Uhrzeit
und andere organisatorische Belange aufmerksam.
Katja selbst kämpft mit dem Berg loser Blätter (wir kopieren unsere Texte immer für alle, damit jeder ein Mitleseexemplar hat) bis sie schließlich davon träumt, sie hätte die Büroklammer erfunden. Eine ganze Schachtel dieser Drahtwunder kapert sie sich Mitte der Woche aus dem Hotelbüro, um das Blätterchaos zu bändigen. Am Dienstag ist sie völlig überrascht, dass sie am Abend mit einer Lesung auf dem Programm steht (ein Organisationsgenie ist sie wahrlich nicht, dafür umso spontaner).
Am Donnerstag scheint die Sonne höchst sommerlich (übrigens ist das Wetter keineswegs so verregnet, wie im Wetterbericht angedroht – was mich am Abend meiner Abreise dazu brachte, erschrocken noch schnell ein Regencape in meinen Koffer zu den Röcken und Sandalen zu stopfen, das ich dann doch nicht gebraucht habe) und wir halten unsere Vorleserunde im Park ab.
Hierbei raucht Katja unaufhörlich und nach zwei Stunden stehen ihre Füße in einem Berg von Zigarettenstummeln. Inzwischen haben wir eine zweite Schreibaufgabe bekommen: Wir sollen einen Menschen auf einer halben Seite beschreiben, entweder einen Hässlichen mit Empathie oder einen Unsympathen mit Spott, Zorn, Ironie. Ich bearbeite beide Varianten (meine Texte dazu teile ich nächste Woche mit euch). Hier bin ich wieder über die stilistische Bandbreite und den Einfallsreichtum meiner Mitschreiber*innen erstaunt. Auch wenn in der ganzen Woche nur zwei Texte von mir besprochen wurden und ich weniger Text produziert habe, als ich mir gewünscht hätte, sind der Lerneffekt und die Anregung aus den Fremdtexten doch ziemlich groß.
Die große Kunstsommernacht am Samstag rückt näher und wir müssen unsere Lesung vorbereiten. Die Prosa bekommt zwei Zeitblöcke zu je 30 Minuten zugeteilt. Katja legt fest, dass im ersten Block fünf Autorinnen ihre Tier-Texte lesen werden und im zweiten fünf Autorinnen ihre Menschen-Texte. Wer was vorlesen soll/möchte, entscheidet sich einvernehmlich (ich will meinen Kuh-Text vorlesen). Wir sollen kürzen und proben (Freitag).
Als Werbung für unsere Lesungen (in der Kunstsommernacht finden immer drei Veranstaltungen gleichzeitig statt, so dass man Konkurrenz hat) druckt eine Teilnehmerin, die ein talentiertes Zeichenhändchen hat, ihre Illustrationen zu Katja-Zitaten auf grünes Papier, das wir den Besuchern austeilen und auslegen werden.
Am Samstag um 19:30 Uhr ist der große Moment unserer Lesung gekommen. In den Fluren des Klosters wimmelt es von kunstinteressierten Besuchern aus nah und fern. In unserem Lesesaal haben sich etwa 50 Zuhörer versammelt.
Katja spricht einleitende Worte, in denen sie die Aufgabenstellung für unsere Texte erklärt. Ich komme als Zweite dran (wir lesen in alphabetischer Reihenfolge) und trage meinen Text vor, bemühe mich langsam zu sprechen und gut zu betonen und ernte sogar einige kleine Lacher für meine Kuh-Komposition (mit Proben ist es nun das vierte Mal, dass ich den Text vor Publikum vorlese und ich denke, ich konnte mich in der Interpretation steigern – bin ja im Vorlesen eher verhalten). Auch meine Mitleser*innen laufen zu Höchstform auf und interpretieren ihre Texte wunderbar verschroben, pedantisch, zornig. Je öfter ich die Texte höre, umso mehr treten deren sprachlichen Stärken und die Persönlichkeiten der Verfasserinnen hervor.
Unsere Lyrik-Kollegen erhasche ich nur im dritten Teil ihrer Lesung – in der Kunstsommernacht gibt es so viel zu erleben, dass man kaum alles schaffen kann – ich höre ein eindrucksvolles Chorkonzert mit einer Uraufführung der Vertonung des Dietrich Bonhoeffer Gedichts „Wer bin ich“, erlebe den zeitgenössischen Tanz, die Kammermusik und die Bilderausstellung in den Fluren und Ateliers (Pressebilder von der Kunstsommernacht hier). Während der Woche habe ich natürlich mit großem Interesse bei meinen alten Bekannten nachgehorcht, wie es ihnen dieses Jahr so in der Lyrik-Klasse ergeht. Auch die Lesung ihres Meisters Mirko Bonné habe ich angehört, ein kühler Hamburger, der neben seiner Dichtertätigkeit auch Prosa schreibt und sich als Übersetzer (z.B. von Emily Dickinson) einen Namen gemacht hat. Die Lyriker hatten ein höchst konträres Programm zu unserer Prosa-Klasse. Seminarartige Informationsfülle (einige historische Gedichte wurden analysiert), strenge Vorgaben vom Meister, der zuweilen auch hart mit einigen Gedichten seiner Schülerinnen ins Gericht ging, wenig Werkstattcharakter (vor Ort haben sie zwar auf Schreibimpulse kurze Gedichte geschrieben, die aber eher als Entwürfe verstanden wurden und auch in der Lesung nicht zu Gehör gebracht wurde, stattdessen Gedichte, die schon zuvor entstanden waren). Da hätte ich nicht tauschen wollen. Unsere herzlich-impulsiv-chaotische Katja war der ganzen Klasse ans Herz gewachsen und umgekehrt.
So nun dürft ihr zu guter Letzt auch meine Kühe kennenlernen (die ich übrigens jeden Tag beim Spazierengehen besucht habe und die immer hoffnungsvoll zum Zaun gelaufen kamen, obwohl ich sie mit leeren Händen enttäuschen musste, was sie am nächsten Tag verziehen oder vergessen hatten…).
Mein Lesetext:
„Ich kriege was, was du auch kriegst“
Sechs Kühe stehen
dicht nebeneinander, eine Herde wie in Scheiben geschnitten, lange
Seite an langer Seite, ihre Bäuche und Flanken berühren sich. Fünf
Köpfe schauen in eine Richtung, eine Kuh ist falsch herum
eingeklemmt und guckt in die Gegenrichtung. Im linken Ohr hat jede
ein gelbes Nummernschild mit einem Knopf angetackert wie bei einem
Plüschtier.
Die Weide ist groß
und doch stehen sie hier dicht an dicht. Auf wenigen Quadratmetern
reiben sie sich aneinander, wedeln im selben Rhythmus mit ihren
langen Ohren, um die Fliegen zu vertreiben, die sie unablässig
umschwirren und sich auf ihren feuchten Nüstern, in den Augen und
auf dem braunen Fell niederlassen. Dazu zucken die Kühe mit der Haut
und wedeln mit den Schwänzen, aber es ist ein sinnloser Kampf. Jedes
Zucken lässt die Fliegen aufsteigen, die sich wenige Sekunden später
an anderer Stelle auf dem Kuhkörper erneut niederlassen. Die Kühe
können nicht gewinnen. Sie könnten sich das Zucken und Wedeln
sparen. Aber es ist ein Reflex, nicht zu unterdrücken.
Seite an Seite
suchen sie Futter. Nicht auf der grünen Wiese, sondern im
Kiesschotter unter den zwei elektronischen Drähten des Zauns. Hier
hat die Bäuerin etwas für sie hingeworfen. Salzbonbons vielleicht.
Hier suchen sie nun mit ihren langen Zungen den Kiesboden ab. Bauch
an Bauch schiebt sich die eine neben der anderen her. Sie arbeiten
nicht zusammen, aber auch nicht gegeneinander. Jede versucht, einen
Salzkrümel für sich zu finden, jede folgt der Bewegung ihrer
Nachbarin. Eine Kuh quetscht sich beharrlich zwischen zwei andere,
streckt ihren Kopf in die Höhe, reibt ihren faltigen Hals auf dem
Nacken der anderen. Ihr gefällt der Körperkontakt. Vielleicht ist
es eine Art von Zärtlichkeit. Jedenfalls ist sie hier im Zentrum des
Geschehens. Hier entgeht ihr nichts.
Eine andere Kuh ist
die Anführerin. Wenn eine Stelle abgesucht und abgeleckt ist, drängt
sie entschlossen mit ihrem kräftigen Körper gegen die Körper ihrer
Gefährtinnen. Wie eine Welle geht der Anstoß durch die Fleischmasse
der anderen fünf Kühe. 24 Beine stampfen und straucheln im leicht
abschüssigen Kiessand. Der Tross schaukelt sich wie in einer
einzigen Bewegung einige Meter zur Seite und dort senken sich die
Köpfe und Zungen wieder zur Nahrungssuche.
Die Kühe schnaufen,
die Fliegen summen. Sonst ist es still.
Ein Plätschern
kommt dazu. Eine der Kühe hat den Schwanz gehoben und lässt einen
dicken Strahl gelber Pisse zu Boden stürzen. Die Artgenossin daneben
kaut ungerührt und ihr Maul vollzieht dabei kreisende Bewegungen.
Dicht an dicht bewachen sie jeden Bissen der anderen mit gutmütigem Futterneid. So bekommt jede gleich viel vom Gleichen. Man könnte es Kuhkommunismus nennen.
So ist eine intensive Woche voller Prosa und Kunst wie im Fluge vorbei gegangen. Ich bin bestimmt nicht zum letzten Mal dort gewesen.
Gestern habe ich alle Unterlagen (Exposé und die ersten 22 Romanseiten) für das Arbeitsstipendium 2020 für Literatur des Berliner Kultursenats abgesendet – ich bewerbe mich mit meinen neusten Romanprojekt mit dem Arbeitstitel: „Das Lachen der Pinguine“.
Als kleiner Teaser hier Teil 1 meines Exposés:
Kurzinhalt
Die erste Frau, die 1935 den Südpol betritt, steht 60 Jahre lang im Schatten männlicher Heldengeschichten und ist der Welt unbekannt. Erst als 1995 eine australische Journalistin öffentlich nach ihr sucht, bricht die Norwegerin Caroline Mikkelsen ihr Schweigen und nimmt ihren rechtmäßigen Platz in der Geschichte ein. Die Spurensuche führt auf einem Walfänger durch das Eis der Antarktis bis hin zum hektischen Zeitungsbetrieb in Sydney. Wenn sich die bescheidene Südpol-Pionierin und die ehrgeizige Journalistin begegnen, prallen ihre unterschiedlichen Wertvorstellung aufeinander und beide Frauen stellen sich die Frage, ob eine Lebensleistung ohne Anerkennung einen Wert hat. Der gründlich recherchierte Roman gibt erstmalig Einblicke in die facettenreiche Biografie der Pionierin Caroline Mikkelsen und schlägt über die fiktive Figur der Journalistin eine Brücke in die Lebenswelt von Frauen in der heutigen Zeit, die sich gesellschaftlich immer noch gegenüber männlicher Dominanz behaupten müssen.
Falls ihr euch fragt, wie ich auf diesen Stoff gekommen bin:
Alles fing im April diesen Jahres an, als ich das Internet nach einem neuen Romanstoff durchforstet und „erste Frau“ in Google eingegeben habe auf der Suche nach einer historischen Persönlichkeit, die etwas Interessantes vollbracht hat, aber in der Literatur noch nicht (erschöpfend) behandelt worden ist. Meine zweite Suchidee war nach einer Hochstaplergeschichte, irgendwas mit Lebenslüge und Verheimlichen. Zuerst bin ich auf die erste Frau im Weltall (eine sowjetische Kosmonautin) gestoßen, habe einige Artikel über sie gelesen und Videos angeschaut, aber irgendwie hat es bei mir nicht „klick“ gemacht.
Zum einen interessiert mich der Südpol schon seit 2011, als ich eine Dokumentation zum 100. Jahrestag der Erstbetretung des Südpols gesehen habe. Das Wettrennen zwischen dem Norweger Roald Amundsen (der Sieger) und dem Engländer Robert Falcon Scott (der Zweitplatzierte, der mit seinem Leben bezahlte) ist echtes Heldendrama. Im Nachgang zur TV-Doku habe ich noch ein Sachbuch über das Wettrennen zum Südpol gelesen. Anlässlich des Jubiläums wurde sogar die Oper „Southpole“ komponiert und im Januar 2016 an der Bayerischen Staatsoper uraufgeführt (habe ich mit Faszination im TV angesehen). Außerdem mag ich Pinguine sehr gerne und habe vor Jahren den Film „Die Reise der Pinguine“ im Kino gesehen und war ganz ergriffen. Mein Bezug zur Antarktis liegt also auf der Hand.
Aber richtig hinein gezogen hat mich die Frage: Warum hat Caroline Mikkelsen 60 Jahre lang über ihr Erlebnis geschwiegen? Das berührt auch meinen zweiten Ansatz, nämlich die Sache mit der „Lebenslüge“ oder vielleicht eher ein Familiengeheimnis.
Jedenfalls habe ich dann fieberhaft das Internet nach weiteren Zeitungsartikeln abgesucht (und wenige gefunden), auch Wikipedia nach Personen und Fakten durchsucht. Eine Schlüsselfigur in der „Entdeckung“ von Caroline Mikkelsen anlässlich des 60. Jubiläums der Landung ist Diana Patterson, die Leiterin der Davis Station (eine Forschungsstation an der antarktischen Ostküste nahe der Landungsstelle der Norweger im Jahr 1935), die 1995 die Suche nach der ersten Frau in der Antarktis voran trieb. Schließlich meldete sich Caroline im November 1995 auf eine Suchanzeige in einer norwegischen Zeitung. Im Nachgang gab es einige Zeitungsinterviews mit ihr und sie wurde offizielle ins Guinness Buch der Rekorde eingetragen.
Im Mai war ich mit 4 Freundinnen und Kommilitoninnen zur Schreibwoche in Winterberg und habe mich dort ganz in die Imagination der Charaktere und des Plots auf zwei Zeitebenen vertieft und meine ersten 12 Seiten des Romans geschrieben. Ich stelle mir Caroline als bescheidene junge Frau vor, die von ihrem 20 Jahre älteren Kapitänsehemann auf die Expedition mitgenommen wurde und sich ihm (und dem männlich dominierten Heldenverständnis) unterordnete und nach der Rückkehr nicht darauf bestanden hat, die öffentliche Anerkennung für ihre Erstbetretung einzufordern. Der Kapitänsmann starb im zweiten Weltkrieg und 1944 heiratete Caroline erneut: einen Gärtner aus Tønsberg. Aus Rücksicht auf seine Gefühle schwieg sie während der Ehe über ihr Antarktiserlebenis (so vage stand es im Zeitungsartikel). Das gibt meiner Fantasie jedoch viel Stoff, um über die Charaktere der Eheleute und deren Beziehungsdynamik nachzudenken. Ich stelle mir den Gärtner Johan als schüchtern vor (das komplette Gegenteil zum ersten Ehemann), der sich im Vergleich zum Abenteurer-Kapitän minderwertig gefühlt hat, weil er seiner Frau keine exotischen Reisen ermöglichen konnte. Caroline zeigte viel Einfühlungsvermögen und Rücksichtnahme als Ehefrau, den zweiten Mann seine „Schwäche“ nicht spüren zu lassen.
Der historischen Figur stelle ich die fiktive Journalistin (die ich in Sydney ansiedele, wegen des Australien-Bezugs der Davis Station), die sich auf die Suche nach Caroline macht.
Ich habe jedoch gemerkt, dass es mich reizt, selbst auf Spurensuche nach Caroline (die 1998 im Alter von 91 Jahren gestorben ist) zu gehen, um dem Menschen näher zu kommen und an mehr biografische Informationen zu gelangen. Das Internet ist in dieser Hinsicht wirklich toll. Meine Freundin Hedda hat noch in Winterberg über ihr LinkedIn-Profil (was ich selbst nicht habe) mit Diana Patterson Kontakt aufgenommen. Die Australierin hat mir sehr freundlich und hilfsbereit zurück gemailt. Ich habe sie zur ihren Eindrücken zu Caroline aus ihrem Treffen im Jahr 1995 befragt und eine gute Beschreibung zurück bekommen.
Noch näher dran würde ich natürlich kommen, wenn ich Kontakt zu den Kindern (zumindest von einem Sohn weiß Diana) von Caroline bekommen könnte, um sie zu befragen (und auch den „Segen“ für mein Romanprojekt zu bekommen). Diana hat keine Kontaktdaten zur Familie Mandel, gibt mir jedoch den Tipp, es bei Susan Barr (vom Norwegischen Polarinstitut) zu versuchen, die seinerzeit beim Interview dabei war und schon damals den Kontakt hergestellt hatte. Im Internet finde ich sogar eine E-Mail-Adresse von Susan und schreibe sie an. Prompt bekomme ich eine sehr nette und hilfsbereite Antwort und die Adresse eines Johan Mandel (der Sohn heißt vielleicht wie der Vater) aus Tønsberg – in Norwegen findet man Personennamen, Adressen und Telefonnummern (sogar mit Satellitenbild vom Haus) online. Es handelt sich um eine Festnetznummer, so dass sms oder whatsapp ausscheiden. Also schreibe ich einen Brief an den mutmaßlichen Sohn (stelle mich vor, erkläre kurz mein Romanprojekt und frage, ob er der Sohn von Caroline sei, bitte um Rückmeldung, gebe meine Blog-Seite als Referenz und meine E-Mail-Adresse an) und schicke ihn per Post ab.
Auch die Jahrhunderte alten Kommunikationswege haben noch ihren Wert! Etwa 10 Tage später entdecke ich eine E-Mail in meinem Postfach: Johan Mandel hat mir geantwortet: In wackeligem Englisch bestätigt er, dass er der Sohn von Caroline ist und mir gerne weiter hilft. Ich bin begeistert! Ich formuliere 10 Fragen rund um Carolines Biografie – zunächst auf Englisch, dann jage ich den Text durch den Google-Translator und füge die norwegische Übersetzung bei und schreibe, Johan möge mir gerne in seiner Muttersprache antworten. Wenige Tage später bekomme ich eine freundliche und sehr interessante Antwort auf Norwegisch (tolle Sprache – langsam verstehe ich einige Wörter!) und erfahre viel Neues. Mein Bild von Caroline wird immer runder – sie war eine sehr vielseitige Frau, aus einer kinderreichen dänischen Familien stammend, mit Ausbildungszeit in Hollywood (zur Näherin), Designerin, Geschäftsfrau. Sie ist keinesfalls ein verhuschtes Mädel unter dem Kommando ihrer Ehemänner, sondern eine starke Frau, die trotzdem zeitlebens sehr bescheiden war und ihr Licht unter den Scheffel gestellt hat, um den (zweiten) Ehemann nicht in den Schatten zu stellen. Diese Widersprüche sind für meinen Roman äußerst reizvoll.
Ich habe noch eine zweite Mail an meinen norwegischen Brieffreund (der Sohn müsste in seinen 70ern sein) geschickt mit weiteren Nachfragen. Er will mir nach seiner Rückkehr aus dem Urlaub darauf antworten.
Am letzten Freitag finde ich einen Umschlag mit norwegischen Briefmarken im Briefkasten und siehe da – Johan hat mir einige Zeitungsartikel und Originalfotos von der Antarktisreise geschickt! Das ist wie Weihnachten! Bin immer noch total begeistert und auch berührt über das Vertrauen.
Die norwegischen Zeitungsartikel aus 1995/96 enthalten noch viele weitere biografische Details (wie meine ersten Übersetzungen hervorgebracht haben), die ich in den nächsten Wochen auswerten werde.
Am Freitag (12. Juli) war ich von der Sendung aus Norwegen so euphorisiert, dass ich meine Schreibblockade überwinden konnte (seit Anfang Juli habe ich mich jeden Tag damit gequält, dass mir noch 5-10 Romanseiten für meine Stipendiumsbewerbung fehlen, aber ich konnte mich nicht zum Schreiben aufraffen). Zaghaft habe ich eine Szene in der Redaktion des Sydney Morning Herolds mit meiner fiktiven Journalistin Jesse entworfen, die ihren Kollegen die Antarktis-Story verkaufen will. Da ich beim Schreiben immer großen Wert auf gute Recherche lege, habe ich mich zunächst über New-Themen (Politik/Gesellschaft) aus Februar 1995 in Australien und über die Zeitungs- und Journalistenwelt in Australien informiert (welche Zeitungen gibt es, welche Journalisten und Themen haben 1994/95 den Walkley-Award – wie Pulitzer-Preis in Amerika – gewonnen?).
So konnte ich am Samstag und Sonntag doch in einen kleinen Schreibrausch kommen und habe 10 neue Seiten produziert. Neben der Redaktionssitzung (1995) auch eine Szene mit Caroline im Walfänger vor der Antarktisküste (1935).
Meine Schwester Dorit hat mir wertvolles Last-minute-Feedback gegeben (wie immer super hilfsbereit), so dass ich am Montagabend alle Texte einreichen konnte (immerhin 1 Tag vor Fristende – ich brauche scheinbar ein gewisses Maß an Termindruck, um in die Gänge zu kommen).
Drückt mir die Daumen für das Stipendium – die Chancen stehen allerdings 300 (Bewerbungen) : 17 (Stipendien) – so steht es jedenfalls im Antragsmerkblatt.
Unabhängig vom Stipendium werde ich im November im „National-Novel-Writing-Month“ (NaNoWriMo) auf jeden Fall wieder in den Roman einsteigen und (hoffentlich) eine erste Fassung schreiben. Freue mich schon darauf.
Nun möchte ich euch einen Eindruck aus meinem Romananfang geben.
Viele Spaß beim Lesen! Wie gefällt euch der Stoff und meine Umsetzung?
Prolog: Die Stimme der Antarktis
Ich liege außerhalb deiner Reichweite, in unermesslicher Entfernung – und doch streckst du deine Hand nach mir aus, willst mich berühren, deinen Fuß auf meine weiße Haut setzen, deine Fahne in meine eisigen Tiefen rammen. Mich in Besitz nehmen – für deine Nation, für deinen Ruhm, für deine Unsterblichkeit. Ich liege vor deinem Auge, so weiß, dass du blind davon wirst. So weit, dass die Distanz ihre Bedeutung verliert. Du hörst meine Stimme. Sie führt dich über das Meer. Dein Schiff bahnt sich einen Weg zwischen den Eisspalten mit ihren scharfen Kanten, die wie Säbel in deinen Bug schneiden. Du gibst nicht auf. Deine Schritte führen dich über meine Oberfläche aus Fels und Eis. Meine weiße Haut trinkt das Öl aus deinen Schlittenmotoren und das Blut deiner Hunde. Ich bewahre deine schmutzigen Spuren auf in meinen gefrorenen Kammern der Jahrhunderte, abgedeckt durch neue Schichten meiner Reinheit. Ich bleibe unberührt. Ich erneuere mich und du verlierst dich in mir. Dein Atem geht schnell, meine Atem geht im Rhythmus der Jahreszeiten, steigt auf und ab mit Licht und Dunkelheit. Die Kälte lässt meine Stimme in deinen Ohren klirren. Weiter, immer weiter zieht sie dich zu meinem Mittelpunkt, der im unsichtbaren Irgendwo liegt. Vielleicht findest du diesen Punkt, der dich zum Eroberer macht. Du willst belohnt werden für deine Entbehrungen, deine Opfer, deinen Mut. Du wirst ein Kreuz auf deiner Landkarte machen und all meinen Wölbungen einen Namen geben. Rufst du mich mit diesen Namen, bleibe ich stumm. Ich bleibe Niemandsland. Der Niemand, der bist du.
Die Sommersonne hat meine Vokale eingeschmolzen zu einem endlosen „o“. Domot losst soch ooch got dochton…
Sommerpanorama auf O
Oh Sommer, Sonne, Sohlenglühen
ob schattenlose Tropen
oder Großstadtpflaster
gehorchen offenkundig vor
Hitzedominanz
Orchideen oder
Osterglocken
wogen farbenfroh bevor
trockener
Torf sinnloses Pflanzenopfer fordert
Wo Fußsohlen rote
Flipflops lose kosen
wo Anton ohne Socken ohne
Sorgen
salopp Cola-Limo-Dosen
poppt
wo Ottilie rigoros große
Melonen rollt
wo Leopold Zitronen
konsumiert
schmollt Olga vor
Wacholderschorle
Ottos Ohren horchen
andachtsvoll
oktavenreichem
Orchestersolo voller Bravo
Onkel Moritz monologisiert
orientierungslos
ohne Boot vor kolossalem
Ozean
tobt bodenlose Wellenwoge
wo Albatrosse unverfroren flogen
Entflohen vor
Sonnenstichkoma
von wolkenlosem
Könighimmelblau
folgen Kosmonauten,
Hottentotten, Matadore
tosenden Kommandos vor
Honolulu
stoppen ohne Seenot
atemlos vor Loreley
prosten sonderbaren
Wodkatrunk
Wo Poeten methodisch
Vokale stornieren
dort holen Sportler hochspielend Pokale
wo mobile Bustouristen
on-off-hoppen
offenbaren Omas Locken vor
Frisörsalon
wo hüllenlose Badekörper
voller Wonne tollen
toppt Sonnenbrandtattoo
große Mode
Wetterorakel prophezeit
Hoch von Morgen
so wollen
Sonnenfetischisten hoffen
Windstoß vor Orkan
überrollt
moderne
Großstadtschluchten
doch Donnertrommeln locken
Mondenschein und Sternentrost
Wenn ihr Lust habt, könnt ihr gerne im Kommentar eigene o-vokale Verse hinzufügen – gerne auch aus dem obigen Wörterfundus. Die „contrainte“ (selbstbestimmte Sprachregel) lautet: In jedem Wort muss mindestens ein „o“ vorkommen. Freue mich auf noch mehr Sooooooooommerlyrik.
Wenn mir jemand gesagt hätte, dass ich mal die Protagonistin eines Beitrags in meiner Lieblingssendung „Kulturzeit“ auf 3sat werden würde, hätte ich das für reine Fantasie gehalten. Aber vor ein paar Tagen ist dieser unwirkliche Fall wirklich eingetreten.
Ende März 2019 sehe ich auf facebook einen Aufruf der „Kulturzeit„, dass die Moderatorin Vivian Perkovic für die Serie „Was liest du?“ demnächst nach Berlin kommen wird. Wenn man ihr erzählen möchte, welches Buch einen so richtig begeistert, dann soll man sich bewerben. Ich schreibe sofort eine E-Mail an die Redaktion und stelle mein langjähriges Lieblingsbuch „Momo“ von Michael Ende vor.
Einen Monat später bekomme ich eine
E-Mail von der Regisseurin Viola Löffler, in der sie sich für mein
Interesse an der Mitwirkung bedankt und um Rückruf bittet, damit wir
die Details besprechen könnten. Ich denke, es geht schon um die
Details der Dreharbeiten, aber das Telefonat verwandelt sich
unversehens in ein Interview zu den Inhalten von Momo – ich soll
spontan erzählen, was mich an Momo so begeistert. Da sprudele ich
nur so los. An den Fragen merke ich, dass es in dem Beitrag nicht um
eine Literaturanalyse gehen soll, sondern meine persönliche
Beziehung zu dem Buch herausgestellt werden soll und wie die Inhalte
in meinem Leben wirken. Die Regisseurin kommt zu dem Ergebnis, dass
ich wirklich ein Super-Fan des Buches bin. In der Redaktionssitzung
des Teams Anfang Mai wird sie meine Momo-Beziehung vorstellen, dann
werden sie sich für 3 Bücher und Protagonisten für Berlin
entscheiden.
Als dann am 14. Mai der Anruf kommt, dass ich für „Was liest du?“ ausgewählt bin, mache ich Freudensprünge. Das ist endlich mal ein Erfolgserlebnis im Gegensatz zu den vielen Absagen, die ich für die Einsendungen meiner Texte zu Wettbewerben und an Literaturzeitschriften wegstecken muss. Wie schön, dass meine Literaturbegeisterung hier auf Interesse stößt, auch wenn ich nur Rezipientin und nicht Schreiberin bin.
Die Regisseurin schlägt als Drehort ein Yogastudio vor (passend zum Thema der inneren Ruhe), ich nenne ihr den Namen des Studios bei mir in der Nachbarschaft, wo ich einige Schnupperkurse besucht habe (sie will dort anfragen). Sie sendet mir Links zu den Beiträge aus Leipzig und Bielefeld, die ich mir sofort in der Mediathek der Kulturzeit anschaue (sehr sehenswert!). Ein Beitrag dauert 6 Minuten, für jede Person stehen 2 Minuten zur Verfügung. Ich werde also einige Zeilen aus Momo vorlesen müssen (ich denke sofort an die weisen Sätze von Beppo Straßenkehrer) und dann folgt das Interview der Moderatorin (die übrigens meine Favoritin unter den 4 Kulturzeit-Moderator*innen ist – freue mich sehr darauf, sie kennenzulernen).
Dann markierte ich mir Mittwoch, den 29. und Donnerstag, 30. Mai im Kalender und freue mich auf eine ganz neue Erfahrung.
Am Montag der Drehwoche telefoniere ich nochmal mit Viola und wir verabreden die Zeiten für den Dreh. Mit dem Yogastudio Bamboo hat es geklappt.
Mittwoch, 1. Drehtag:
Am Abend zuvor hat mich mein Momo-Hörbuch eingestimmt (das ich seit ca. 6 Jahren regelmäßig mit großer Aufmerksamkeit höre und fast schon mitsprechen könnte – aber die Geschichte, Figuren und Sprache sind so wunderbar facettenreich, dass ich mich nicht daran überhöre).
Gut ausgeschlafen mache ich mich zu Fuß auf den Weg ins „Bamboo“ einige Straßen entfernt von mir. Meine Nervosität hält sich einigermaßen in Grenzen. Ich habe die letzten Tage im Kopf durchgespielt, was ich alles über Momo erzählen könnte. Für den guten optischen Auftritt habe ich auch gesorgt: War vor ein paar Tagen beim Frisör und habe eine neue Bluse an. Make-up habe ich keines aufgelegt (mache ich sonst auch nie), nur etwas Lippenstift. Ich gehe davon aus, dass ich vor Ort von einer Maskenbildnerin geschminkt werde. Das kenne ich von einem Fotoshooting, das ich mal beruflich vor vielen Jahren hatte, außerdem sind die Leute im Fernsehen doch immer ganz dick geschminkt. Eine Fehleinschätzung, wie sich herausstellen wird.
Pünktlich um 12:30 Uhr steige ich die schmale Holztreppe der ehemaligen Molkerei in einem Hinterhof hoch ins Yogastudio. Die Inhaberin Birge begrüßt mich freundlich (ich kenne sie vom Hatha-Yoga-Soft-Kurs), das Fernsehteam ist noch nicht da, sie rufen an und sagen, dass sie ein bisschen später kommen. Birge öffnet an diesem Nachmittag extra für die Dreharbeiten die Türen und stellt ihre Räume kostenlos zur Verfügung. Ihrem Wunsch, den Namen des Yogastudios zu nennen, kann nicht entsprochen werden, da 3sat als öffentlich-rechtlicher Sender keine Werbung machen darf. Sie nutzt die Zeit zum Putzen und Aufräumen und plaudert ein wenig mit mir. Sie erzählt, dass sie auch als Schauspielerin arbeitet, sie spielt im Schlosstheater Steglitz in Boulevardstücken. Daher kommt vielleicht ihre Aufgeschlossenheit und Großzügigkeit gegenüber den Kulturschaffenden vom Fernsehen.
Um Viertel vor Eins trifft das Drehteam ein: Die Regisseurin Viola begrüßt mich gutgelaunt (wir verständigen uns bald auf’s „Du“, sind ungefähr im gleichen Alter), der Kameramann Andy und Tontechniker Ben geben mir höflich die Hand, während sie taschenweise Ausrüstung hoch schleppen.
Dann steht mir die Moderatorin Vivian gegenüber, sie kommt mir aus den Kulturzeit-Sendungen vertraut vor, ist aber viel zierlicher, als ich vermutet hätte. Auch sie begrüßt mich freundlich und hat eine sympathisch-natürliche Art. Sie erzählt, dass sie gerade vom Treptower Park kommen. Dort waren sie im Tretboot auf dem Wasser (im vorgestellten Roman geht es ums Wasser) und sind alle ein bisschen durchgefröstelt.
Ich sitze auf dem großen Sofa im Foyer, wo auch die Yoga-Schauspielerin am Tresen steht und Tee für uns kocht. Das Produktionsteam erkundet die Räumlichkeiten. Im großen Yoga-Saal breitet Viola bunte Matten am Boden aus und macht mit Vivian Sitzprobe im Lotussitz und in Strümpfen – ach ja, wir sollten alle unsere Schuhe unten an der Treppe ausziehen – ich werfe einen skeptischen Blick auf meine weißen Sportsöckchen unter dunkelblauer Jeans (hoffentlich kommen die nicht ins Bild). Der Kammermann baut sein Stativ und eine Beleuchtungsanlage vor ihnen auf, sie sind aber mit den Lichtverhältnissen und dem eintönigen Hintergrund nicht zufrieden. Zwischenzeitlich verkabelt mich Ben (hinten im Hosenbund ein Sender, vorne am Kragen wird ein kleines Mikro angeklebt). Ich warte – und warte noch ein bisschen mehr. Birge zitiert den Schauspieler Anthony Hopkins, der sagte, dass er seine Gage fürs Warten bekomme.
Plötzlich soll es losgehen. Vivian zieht ihren Lippenstift nach (sie trägt Make-up im Gesicht, aber dezent, ihre Frisur mit Zopf und Ponyfransen ist alltagstauglich, auch die Kleidung eher leger mit Bluse und roter Hose). Ich zücke mein Handspiegelchen und prüfe nach, ob mir nicht die Haare zu Berge stehen (auf maskenbildnerische Gestaltung muss ich wohl verzichten, aber Kameramann Andy sagt etwas von Weichzeichner, so dass ich auf digitale Verschönerung hoffen darf) und dann soll ich in den Umkleideraum kommen – dort haben sie (ohne, dass ich es mitbekommen habe) im kleinen Vorflur zwei Sessel neben ein Tischchen mit hölzerner Buddhafigur gerückt. Ich soll mit meiner gelben Bluse auf den dunkelbraunen Sessel für guten Farbkontrast. Vivian nimmt neben mir Platz (im westlichen Sitzmodus ziehen wir auch unsere Schuhe wieder an, auch wenn man es wohl nicht sieht). Wir ruckeln unsere Stühle dichter zusammen. Zwei Meter entfernt steht die Kamera auf einem Stativ, das armlange Raum-Mikro (das zusätzlich zu den beiden Personen-Mikros zum Einsatz kommt) wird von Ben mit einer Stange über uns gehalten. Soll jetzt eine Probe stattfinden?
Vivian verwickelt mich in ein Gespräch (fragt nach meinem Beruf und wo ich herkomme). Ich werde ein bisschen lockerer (halte mich aber mit beiden Händen am Momo-Buch auf meinem Schoß fest, dabei soll ich im Interview gar nicht daraus vorlesen). Die Regisseurin sitzt vor uns auf dem Boden und gibt das Startsignal.
Vivian sagt die erste Klappe an und schon sind wir mitten im Interview. Ich konzentriere mich ganz auf meine Gesprächspartnerin und bekomme von Kamera und Mikro kaum etwas mit.
Vivian stellt mir einige Fragen (die sie auf ihrem Smartphone vorbereitet hat), aber sie nimmt sehr spontan auf, was ich ihr gerade erst gesagt habe (dass ich früher als Juristin gearbeitet habe – „Sie selbst haben mal im grauen Anzug gesteckt“ – wie die Grauen Herren in Momo von der Zeit getrieben) – man merkt, dass sie Erfahrung in live-Interviews hat.
Ich werde von ihren Fragen überrascht
(z.B. zur Kapitalismuskritik von Michael Ende), finde aber spontan
Antworten darauf (nur auf die Frage, wem ich „Momo“ denn
schon geschenkt habe, druckse ich herum, weil ich das Buch noch nie
verschenkt habe). Es entwickelt sich ein lebendiges Gespräch (ich
spreche von Beppo und seiner Philosophie des Straßenkehrens: ein
Atemzug, ein Besenstrich – wende ich auf mein Leben an bei
Leistungsdruck und Gefühl der Überforderung; mit Gigi dem
Geschichtenerzähler habe ich zu meiner verschütteten Kreativität
und der Lust zum Schreiben zurück gefunden).
Nach ca. 10 Minuten haben wir einen
runden Gesprächsbogen geschlagen. Ich finde ganz salbungsvolle
Abschlussworte, was ich aus Momo gelernt habe (achtsam und in
Verbindung mit sich selbst sein, dann ist es auch möglich, sich
anderen Menschen aufmerksam zuzuwenden und ihnen gut zuzuhören).
Regisseurin Viola ist sehr zufrieden.
Allerdings hat sie sich notiert, dass bei einer bestimmten Frage
draußen eine S-Bahn vorbei gefahren ist (was der Tontechniker
bestätigt, bildtechnisch hat uns einmal eine Fliege gestört). Das
müssen wir wiederholen.
Vivian fragt mich nochmal: „Momo
führt eine Revolution an. Auch Sie haben in Ihrem Leben eine
regelrechte Revolution erlebt“ – und ich erzähle von meiner
beruflichen Umorientierung und Neustart in Berlin) – allerdings komme
ich bei der Wiederholung total ins Stocken, suche nach den Wörtern
von vorhin, die mir nicht mehr einfallen.
„Das habe ich vorhin irgendwie
besser gesagt“, murmele ich.
„Nicht so schlimm. Wir machen das
nochmal. Unterhalte dich einfach mit mir.“
Also stellt mir Vivian die Frage ein
drittes Mal und ich versuche eine frische Antwort mit neuen Worten.
Nach insgesamt ca. 15 Minuten ist alles
im Kasten. Die Regisseurin sagt, dass sie total gefesselt zugehört
hat und am liebsten eine längere Version des Interviews für eine
Online-Version machen würde (dazu kommt es vermutlich nicht, weil zu
aufwendig). Ich freue mich sehr über das enthusiastische Feedback.
Bin echt gespannt, wie sie das Interview letztendlich schneiden wird
(bei 1 Minute Redezeit muss leider vieles wegfallen).
Jetzt soll ich noch einige Yoga-Übungen
auf den Matten machen. Im großen Saal vollführe ich mein
Mini-Repertoire an Übungen (aus dem Sonnengruß – keine Ahnung, wie
die Figuren alle heißen), der Kameramann macht Großaufnahmen und
Slow-Motions von meinen Bewegungen (oh Schreck, als Yoga-Vorturnerin
mache ich überhaupt keine gute Figur, das darf gerne der Schere zum
Opfer fallen). Vivian bereitet sich schon mit Smartphone auf Schiller
vor, gleich treffen sie am Gendarmenmarkt im Theater einen alten
Schauspieler – ihre dritte und letzte Station heute (ganz schön
intensiver Tag für das Team).
Draußen drehen sie noch einige Bilder,
wie die Moderatorin ins Haus geht, ihre Schuhe auszieht und die
Treppe hoch geht.
Gegen 15:30 Uhr verabschieden wir uns. Ich mache mit Vivian noch ein Erinnerungsfoto (bei den morgigen Dreharbeiten wird sie nicht mehr dabei sein).
Donnerstag, 2. Drehtag:
Heute wollen wir uns schon um 12 Uhr
treffen. Diesmal bereite ich mich auf die Großaufnahme mit ein wenig
Concealer unter den Augen, Wimperntusche und Lidstrich vor. Für die
optische Kontinuität ziehe ich dieselbe Bluse und Hose von gestern
an.
Gerade gehe ich im Sonnenschein über
die Ampel, als es hinter mir hupt und jemand meinen Namen ruft. Ich
springe ins weiße Auto aus Mainz und fahre die letzten 500 Meter mit
meinem TV-Team zum Yogastudio. Heute morgen haben sie schon am
Müggelsee gedreht (im Kamerastativ knirscht der Sand). Die
Regisseurin hat den Schlüssel für die Räume bekommen und wir haben
den Drehort für uns.
Heute bin ich entspannter und bekomme
auch mehr von Andy und Ben und ihrer engagierten Arbeit mit. Auf
meinen Wunsch drehen wir zuerst mein Vorlesen. Die Textstelle, die
ich mir ausgesucht habe, muss ich auf wenige Sätze kürzen (auf max.
15 Sekunden).
Kameramann Andy (Anfang 30, lange schwarze Haare im Zopf) ist sehr wählerisch, was den Bildhintergrund angeht, er achtet auf Farben, Strukturen und das Licht. Er sucht das grüne Holztor auf roter Backsteinwand draußen im Innenhof aus. Einige Vögel singen und die S-Bahn rauscht regelmäßig vorbei, aber für den Ton finden wir einige Moment der Stille. Ben verkabelt mich wieder. Er ist ein stiller Typ mit Mütze, trägt gerne Grün – und kennt sich auch mit Momo und Michael Ende aus.
Ich stehe mit dem Buch in der Hand vor dem Tor, die Kamera ist auf mich gerichtet, Andy und Viola probieren den Faltreflektor (Alu auf der einen Seite, weißer Stoff auf der anderen) in unterschiedlichen Distanzen aus – das Sonnenlicht wird intensiv auf mein Gesicht geworfen, je nach Lichtstärke muss auch der Filter der Linse verändert werden – das Ganze dauert ein bisschen, bis Andy zufrieden ist.
Dann soll ich 10 Sekunden direkt in die Kamera blicken, meine Sätze vorlesen, dabei immer wieder aufschauen (es dem Zuschauer erzählen), danach wieder 10 Sekunden den Blick in die Kamera halten.
Ich starre ins Objektiv, bekomme Blinzelreflex, dann lese ich los:
„Man
darf nie an die ganze Straße auf einmal denken, verstehst Du? Man
muss nur an den nächsten Schritt denken, den nächsten Atemzug, den
nächsten Besenstrich. Und immer wieder nur den nächsten. Dann macht
es Freude; das ist wichtig.“
Kameramann Andy hält in 15 Meter Entfernung den Lichtreflektor in die Höhe, der vom milden Wind wie ein Segel erfasst wird und gar nicht so leicht still zu halten ist. Ben hält das riesige Mikro mit dem grauen Fell über mich. Ohne es zu merken, habe ich beim Lesen instinktiv zur Regisseurin geschaut, die neben der Kamera steht. Ich soll nur in die Kamera blicken. Ich wiederhole das Vorlesen noch 2 Mal, dann sind alle zufrieden.
Als nächstes filmen wir die
Spiegel-Sequenz, die meine Idee war. Wie in der Szene vom Frisör
Fusi, der von einem Grauen Herrn besucht wird, schreibe ich einen
Tagesablauf in Sekunden auf einen Spiegel.
Praktischerweise hängt im Umkleideraum
ein langer Spiegel im Goldrahmen, Viola hat Kreidestifte mitgebracht.
Auch hier erfordert das Einrichten der Kamera (Winkel) und des Lichts
(diesmal Matte mit Glühbirnchen an einem Ständer) einiges an
Präzision. Andy erzählt mir von den verschiedenen Filtern. Er lässt
die Menschen vor seiner Linse immer gut aussehen. Besonders
schmeichelhaft sind blaue Glitzersterne. Andy arrangiert Licht und
Filter so, dass meine Augen schön leuchten.
Für diese Aufnahme brauchen wir keinen
Ton. Aber Tonmann Ben übernimmt die Aufgabe des Souffleurs und liest
mir die langen Zahlenreihen aus meinem Buch vor. Ich schreibe in
Türkis auf den Spiegel:
Schlaf
441 504 000 Sek.
Arbeit
441 504 000 „
Nahrung
110 376 000 „
Mutter
55 188 000 „
Einkauf
usw. 55 188 000 „
Freunde,
Singen usw. 165 564 000 „
——————————————————
Zusammen:
1.103 760 000 Sekunden
Wir kürzen die Original-Liste aus dem
Buch um einige Positionen (Wellensittich,
Fenster, Geheimnis) und Ben ermittelt die neue Summe auf seinem Handy
(falls ein Zuschauer auf „Pause“ drückt und nachrechnet).
Dabei zoomt der Kameramann mal auf die
Schrift, mal auf mein Gesicht – ich weiß nicht so genau, was die
Kamera gerade im Bild hat, aber ich führe die Bewegungen aus und
konzentriere mich darauf, mich nicht zu verschreiben. Andy ist ganz
begeistert von der Optik – der Spiegel erzeuge eine tolle Wirkung.
Zum Abschluss setzen wir Violas Idee um: Ich soll aus einer Buchseite eine Lotusblüte falten. Dazu schneidet sie einige Seiten quadratisch zu und ich studiere die Faltanleitung auf ihrem Handy. Leider bin ich im Origami-Basteln total unerfahren und kapiere nicht sofort, wie das gehen soll. In der Zwischenzeit bauen Andy und Ben ein neues Set im großen Yoga-Saal auf: Neben einem weißen Buddha und einer Paillettenstehlampe in der Ecke. Die Kamera guckt diesmal von oben auf mich herab.
Es geht los und meine Finger fühlen sich dick und ungeschickt beim Falten an. Bei den letzten Knickschritten hilft mir Viola, dann kommt tatsächlich eine erstaunliche Blüte zum Vorschein, die ich dann dem Buddha in den Schoß lege.
Um 14 Uhr sind alle Bilder im Kasten.
Die vielen Utensilien werden wieder ordentlich verstaut und in den
Kofferraum geschleppt, gleich werden sie alles im Theater wieder
auspacken.
Viola, Andy und Ben verabschieden sich herzlich von mir. Wirklich ein tolles Team (auch mit Moderatorin Vivian), bei dem jede und jeder seine Leidenschaft und Perfektion einbringt für das bestmögliche Ergebnis. Es war eine schöne und einmalige Erfahrung für mich, für 2 Tage in dieses Kreativteam mit aufgenommen zu werden.
Bin natürlich sehr gespannt auf den
Berliner „Was liest du?“-Beitrag. Es ist schon erstaunlich,
wie viel Aufwand in einen 6-minütigen Film gesteckt wird – aber das
ist halt Qualitätsfernsehen. Der Beitrag soll noch vor der
Sommerpause gesendet werden und wird danach auch in der
Kulturzeit-Mediathek zu sehen sein. Ich füge den Link hier ein, wenn
es soweit ist.
Ich hoffe, ich konnte euch mit meinen Eindrücken vom Dreh gut unterhalten.
Update 25. Juni 2019: Der Beitrag ist heute Abend gesendet worden. Hier könnt ihr ihn euch anschauen: Was liest du, Berlin?