Respect – Aus dem Leben eines Sprayers

Ich lerne London aus einem neuen Blickwinkel kennen – nämlich aus den Augen eines echten Graffiti-Sprayers – er selbst versteht sich als Street Artist. Ich habe mich im Internet für eine Walking Tour angemeldet. Am Freitag um 11 Uhr erwartet Gregory Simpson mich und 30 andere Interessierte vor einem Coffeeshop im Londoner Viertel Shoreditch (East End). Gregory trägt auch bei bedecktem Wetter eine Sonnenbrille, denn seine Straßenidentität als Sprayer will er geheim halten. Ja, wir werden auch seine Werke auf der Tour sehen, aber er verrät uns nicht, welche es sind und seinen Straßennamen verrät er uns natürlich auch nicht. Stolz erzählt er, wie hoch die Strafen in Großbritannien für Sprayer sind. Ja, einige seiner Kollegen sind schon im Gefängnis gelandet.

Gregory ist Mitte 30, trägt Jogginghose und Sneakers und natürlich seine Sonnenbrille. Er ist ein Lebenskünstler, nachts sprüht er seine Kunst an die Wände der Stadt, tagsüber führt er die Touristen an die Orte seines Schaffens – von den Spenden lebt er (am Ende der Tour sollen wir ihm geben, was seine Führung uns wert war). Mit langen Schritten eilt er uns voraus und führt uns kreuz und quer durch die Gassen des Arbeiterviertels Shoreditch, wo kleine Backsteinhäuser dicht nebeneinander gedrängt stehen, es gibt unvermutete Innenhöfe, dann wieder halb verlassene Fabrikbauten – alle diese Steinwände sind die Leinwand für die Straßenkünstler mit ihren Spraydosen.

Respekt und Verachtung sind die Koordinaten, zwischen denen sich jeder Sprayer der Szene hier bewegt. Gregorys Verachtung trifft auch eine konkurrierende Walking Tour mit französischen Schülern, die nicht von einem Sprayer aus dem Viertel geführt wird. Das wird nicht gerne gesehen. Das Geld der Touristen soll zurück in die Szene fließen.

Gregory spricht in der „wir“-Form, er ist Teil der Szene, hat sich den Respekt der Gemeinschaft erworben. Wenn man am Anfang seiner Sprayer-Karriere steht, muss man seine „dedication“ beweisen, indem man seinen „tag“ (Signatur/Logo) so oft es geht in der ganzen Stadt auf die Mauern schreibt („go all city“). Man muss viel Zeit und Energie einsetzen, sich Wind und Wetter aussetzen, den Gefahren und der (Straf-) Verfolgung trotzen. Dabei gilt es, seinen eigenen Stil zu entwickeln. Übrigens gibt es nur wenige Frauen in der Sprayer-Szene – die nächtlichen Streifzüge und das Risiko ziehe einfach überwiegend Männer in ihren Bann, meint Gregory.

Eines der wenigen Werke einer Frau. Davor steht meine Schwester Dorit, der ich die Fotos zu verdanken haben (bis auf dieses, da war ich selbst am Drücker).

Gregory führt uns zu wandfüllenden Werken („Mural“) – er weiß, wie lange der Künstler gebraucht hat, um sein Bild an die Wand zu bringen (je schneller, umso beeindruckender). Wer zu Hause alles vorbereitet und draußen nur noch anklebt, verdient weniger Respekt, als der, der vor Ort sein Werk kreiert und seine Technik beim Aufbringen der Farbe bei Wind und auf Leitern hangelnd beherrscht. Gregory weist uns auf einige hässliche und technisch einfache Bemalungen hin, die nur aufgrund ihrer Lage („heavens spot“) hoch oben an Gebäuden dem Sprayer Respekt einbringen (weil risikoreich).

„MSK“-tag unter dem Geländer bringt Respekt ein. Die pinke Schrottkarre unter Plastikverschlag stammt von Banksy.

Manche der Street Artists sind so berühmt, dass sie ganz konventionell zu Ausstellungen in Galerien eingeladen (und bezahlt) werden. Er zeigt uns zwei Wände mit (frischen) Bemalungen von etablierten Straßenkünstlern, die hiermit ihre aktuellen Ausstellungen bewerben. Gregory hat Hochachtung vor diesem „Helium“-Künstler, der sein Werk unter Zeitdruck in nur zwei Tagen auf die Wand gebracht hat.

Mit den Helium-Buchstaben hat der Künstler FANACAPAN seinen eigenen Stil entwickelt.

Mancher Sprayer holt sich die Erlaubnis der Hausbesitzer ein, die meisten sprühen jedoch illegal.

Ein beeindruckendes Werk (mit Genehmigung). Hier hat der Künstler die Struktur der Fassade (Schornsteine) für einen 3D-Effekt seines Bildes benutzt.

Begehrt und doch verachtet sind die Auftragsarbeiten. Gerade gestern fertig gestellt ist eine Werbung für die Netflix-Dokumentation „Our Planet“. Hier haben drei Street Artists zusammen gewirkt und ihr Werk signiert. Einer der Künstler steht in der Tür vom Pub gegenüber und Gregory begrüßt ihn mit Handschlag.

Später sehen wir eine weitere Auftragsarbeit (für Gucci mit Andy-Warhol-Motiv), die Künstler stehen gerade auf dem Gerüst und legen letzte Hand an – ob sie ihre Wandbemalung signieren werden? Wer sich vom Kommerz einfangen lässt, ist ein „sellout“, er erntet Spott und Verachtung in der Community. Deshalb erledigten einige der Sprayer ihre Auftragsarbeiten maskiert und ohne Signatur, um sich die Schande zu ersparen.

Auftragsarbeit von Gucci: 3-facher Andy Warhol entsteht gerade im Hintergrund

Die Community hat das Territorium fest im Griff. Hinterlassen Sprayer von außerhalb ihre „tags“ oder Bilder an den Wänden, werden sie in der nächsten Nacht sofort wieder übersprüht. Nur, wer sich hier den Respekt durch seine unermüdliche Arbeit erworben hat, wird geduldet. Wenn man über das Bild eines andere drüber sprayen will („crossen“), gehört es zum guten Stil, das Bild des anderen komplett auszulöschen (mit Grundierung übermalen, bevor man selbst etwas Neues anbringt). Wenn einer den anderen übermalt, muss das neue Werk besser sein, als das Übermalte. Sonst übersteht es nicht die nächste Nacht.

Wer entscheidet über die Qualität? Anders, als in der konventionellen Kunstwelt, entscheiden hier nicht Galeristen, Kritiker und Käufer über den (künstlerischen und materiellen) Wert eines Werks. Es ist alleine die Eigendynamik der Sprayer-Gemeinschaft, die ihren ungeschriebenen Gesetzen folgt. Es gibt Hierarchien und Meinungseminenzen. Freiheit ist eine Illusion. Der Sprayer lehnt sich gegen das Establishment auf, muss sich aber gleichzeitig den Regeln der Szene unterwerfen. Sie bilden eine sehr ausgereifte Subkultur, die sich am Puls der Zeit bewegt und in der ihre Mitglieder sich ständig im Kampf („battle“) miteinander befinden. Sie kommen mir wie Street Gangs vor, die ihre Revierkämpfe mit Spraydosen anstelle von Messern austragen.

Natürlich kommt Gregory auch auf Banksy zu sprechen – der wohl bekannteste aller Street Artists. Auf unserer Tour sehen wir eine pink bemalte Schrottkarre auf einem Dach und eine wiederhergestellte Wandbemalung hinter Glas (wie im Museum) an der Fassade eines Cafés. Banksy sei nur ein mittelmäßiger Künstler (so die Bewertung von Gregory), seine Popularität begründe sich aus seiner guten Auswahl der Orte für seine Werke und einer cleveren Selbstvermarktung (wie jüngst der medienwirksame Publicity-Stunt des geschredderten „girl with balloon“ während der Versteigerung bei Sotherbys).

Nach zwei Stunden Rundgang verabschiedet sich unser Guide (vorher füllt sich seine Hand noch mit 10-Pfund-Noten). Wieder zuhause bekomme ich eine E-Mail von Gregory, wo er (ganz geschäftstüchtig) um eine gute Online-Bewertung seiner Tour bittet, seine facebook und instagram (@Aciz82)-Seiten nennt und sogar vier Fotos seiner Streetart beifügt – ganz so anonym möchte er wohl doch nicht bleiben. Ein Künstler braucht sein Publikum, um Anerkennung zu erfahren.

Meine Eindrücke aus der Sprayer-Szene habe ich in dieses Gedicht gesprüht:

street respect

meine sneakers auf dem asphalt

lautlos

zwischen den leuchtkegeln der laternen

verborgen

unter meiner kapuze

helle nase, dunkle augen

im rucksack klappern meine cans

molotow, kobra und montana

mein finger am sprühknopf

skinny, medium und fat

ich beherrsche jede technik

aus dem handgelenk gegen den wind

klopf klopf am nachmittag an einer haustür

„darf ich auf ihre hauswand sprayen?“

„nein“

„kein problem“

ich komme wieder in der nacht

auf sneakers unter meiner kapuze

die wand ist meine neue welt

ich bin ihr kapuzen-kolumbus

mein „tag“ ist meine fahne

ich schreibe meine markierung

an die mauern meines viertels

an die mauern deines viertels

an die mauern aller viertel dieser stadt

ich gehe „all city“

tag tag – all night – all city

schreibe mich ein in den kreis der brüder

dreißig tags in einer nacht

seht meinen einsatz, seht meine hingabe

mein tag ist meine währung

bezahle meinen eintritt

in den außenring der ringe

ich bombe die fassaden

werde gebustet von den bullen

bald kennen meine brüder meinen tag

sie kennen meine schrift, sogar mein gesicht

graffiti war gestern, streetart ist heute

ich finde meinen style

der fuchs ist mein character

drei nächte für mein erstes mural

ein echter burner, finden meine brüder

hänge kopfüber vom hausdach

mein leben in der hand eines freundes

sprühe mich in den heavens spot

seht meinen mut, gebt mir euren respekt

shoreditch hat mich aufgenommen

freestyle bringt mir fame

heute crosse ich über ein mural von tizer

tizer überspüht morgen mein werk

der battle ums territorium ist on

mutiny sprayed für netflix

er ist ein sellout – shame on you!

ich spraye ohne bezahlung

respekt ist meine belohnung

tag tag – all night – all city

Die Welt auf einer Seite

Ich habe genau eine Seite, um die Autorin Katja Lange-Müller davon zu überzeugen, mich in ihre Prosa-Meisterklasse aufzunehmen. Auch dieses Jahr möchte ich wieder beim Schwäbischen Kunstsommer mit dabei sein – diesmal aber nicht mit Lyrik.

Das kann doch nicht so schwer sein, eine Seite bekomme ich locker hin – denke ich optimistisch. Ich schaue mir die Vorgaben in der Ausschreibung genauer an. Die Meisterin verlangt „eine Figuren- oder Tierbeschreibung oder Beschreibung einer Szene, die sich zwischen zwei, drei Menschen oder zwischen Mensch und Tier abspielt“. Es gehe ihr um eine literarische Skizze „nach der Natur“, es soll etwas „Lebendes“ abgebildet werden.

Als Musterbeispiel nennt sieDas Fliegenpapier“ von Robert Musil. Hier beschreibt er parabelhaft den Todeskampf von Fliegen auf dem klebrigen Papier und spannt dabei den Bogen um die gesamte menschliche und gesellschaftliche Existenz.

Nachdem ich Musils Text gelesen habe, erscheint mir die vor mir liegende Aufgabe doch um einiges schwieriger. In wenigen Worten gilt es, eine tiefgründig Botschaft zu vermitteln, symbolhaft und verschlüsselt. Auf der Inhaltsebenen muss ich Interesse für die Figuren wecken, Spannung erzeugen, vielleicht sogar mit Humor garnieren?

Im Kopf krame ich tagelang nach Gegenständen, die eine Geschichte erzählen. Brautschuhe vielleicht? Schachfiguren (die schwarze Dame alleine auf dem Spielfeld mit einem weißen Springer)? Dann denke ich an Fundgegenstände bei der Versteigerung der DB. Ein kaputter Regenschirm wünscht sich einen neuen Besitzer…

Dann schweifen meine Gedanken zu fantastischen Tieren (bitte kein drolliger Mops oder verspielte Miezekatze, ermahnt Frau Lange-Müller in der Ausschreibung). Mir kommt die Idee zu einem Vogel mit Flugangst oder Singvogel mit Lampenfieber, einem Igel, der sich anstelle seiner Stacheln eine weiche Haut wünscht, ein vergessliches Eichhörnchen. Wie wäre es mit einem Bücherwurm, der keine Buchstaben mag?

Am Samstag schreibe ich meine Geschichte über den Regenschirm – die sich beim Schreiben doch ganz anders entwickelt. Am Sonntag wende ich mich den Bücherwürmern in der Bibliothek von Sir Henry zu. Da meine Abreise am heutigen Montag nach London bevorsteht, zieht sich das britische Flair ein wenig durch meine Geschichten. Auch thematisch gibt es eine gewisse Verwandtschaft unter den Geschichten.

Hier also meine zwei Texte. Was haltet ihr davon? Welchen soll ich einsenden (ich muss mich für einen entscheiden)?

Text 1:

Aufgespannt

Bis zu jenem Tag im April war Mr. Chapmann niemals ohne seinen Regenschirm aus dem Haus gegangen. Seinen Weggefährten aus Kirschholz und rotem Nylon trug er stets ohne Rücksicht auf das Wetter mit sich. Vor dem Öffnen der Haustür richtete er seine blauen Augen unter buschig weißen Brauen im stummen Gruß auf den schlanken Eintänzer im Schirmständer. Dort stand der Schirm bereit, mit stolz hochgerecktem Hals, auf dessen Ende ein Löwenkopf aus Elfenbein thronte. Mr. Chapmans linke Hand fand den Knauf mit der Sicherheit eines Tänzers in einer gut geprobten Choreografie. Die Wellen der Löwenmähne schmiegten sich in die weichen Falten seiner linken Handinnenfläche. Seine runden Finger umschlossen den Kopf des Löwen, die Kuppe des Mittelfingers legte sich zwischen die Wölbungen von Nase und Stirn des Wüstenkönigs. So gerüstet ging Mr. Chapman auf die Straße, immer mit dem Hut auf dem Kopf, den Mantel zugeknöpft. Der Regenschirm schwang im Takt seiner Schritte, die Spitze setzte gleichzeitig mit dem linken Fuß auf. Der Klang, mit dem die messingumhüllte Schirmspitze auf den Boden stieß, offenbarte klopfend oder knirschend die Beschaffenheit des Untergrunds. Ob Asphalt, Steinplatte oder Sandweg – die Schirmspitze war seine Kompassnadel. Der Schirm ließ ihn aufrecht voran schreiten, mit dem Gang eines Mannes mit Ziel und Bestimmung. Es gab keine Ablenkungen für ihn am Wegesrand, keine Verwicklungen oder Verwirrungen. Diesen Zweck erfüllte der Schirm jedoch am besten, wenn er geschlossen blieb. Aufgespannt würde er der Willkür des Windes ausgesetzt sein. Nein, der Schirm blieb zu. Kein Wind würde jemals an den zarten Metallspeichen rütteln und ihre Gelenke brechen. Weder Wasser, noch Sonne würden an der saftigen Röte des Stoffes lecken. Nur in seiner Geschlossenheit konnte der Schirm seine Vollendung erreichen und seinen Träger sicher tragen.

An jenem Morgen im April jedoch, als Mr. Chapman erstmalig ohne Schirm aus dem Haus lief, flogen seine Haare hutlos im Wind, seine Mantelschöße flatterten. Seine langen Schritte trugen ihn unsicher zum Bahnhof – dem Sohn entgegen, den er seit 30 Jahren nicht gesehen hatte – ohne Schirm und mit geöffneten Armen.

Text 2:

Zwischen den Zeilen

„Zutritt privat“ steht auf dem Messingschild der hölzernen Flügeltür zur „Jedermann-Bibliothek“ von Sir Henry. Hier gibt es Bücher für jeden Geschmack. Im Kabinett reichen die Regale bis zur Decke. Die Luft steht still und schwer im Dämmerlicht. Die ledrigen Buchrücken sind von jahrelangem Stillstehen gebeugt und rissig. Würde endlich ein lesehungriger Besucher eintreten und eines der Bücher hervor ziehen, würde er große Augen machen: Auf fast allen Seiten der Bücher fehlen Buchstaben. Denn seit einiger Zeit lebt hier eine Familie von Bücherwürmern. Wotan und Wilma Wurm emigrierten in die Bibliothek mit der Encyclopaedia Britannica aus dem Jahr 1887. Sir Henry stellte seine Neuerwerbung neben die Brockhaus-Reihe, schnalzte zufrieden mit der Zunge und überließ die Bücherkammer wieder ihrem Eigenleben. Wilma und Wotan wurmten sich zuerst quer durch die britische Kunst und Wissenschaft und futterten sich alsbald durch exotischere Werke. Während Wilma eine Vorliebe für die geschmackvoll ausgereiften Sätze von Dostojewski entwickelte, fand Wotan seine Lieblingsbuchstaben in den französischen Klassikern. Besonders das blumige Aroma der Akzente über den Buchstaben waren ihm ein Genuss. Es dauerte nicht lange und sie bekamen eine Schar bücherbegieriger Kinder. Die Jüngste jedoch machte ihren Eltern Sorge: Lola kroch mit ihrem hellen schlanken Leib durch die gesammelten Werke von Thomas Mann und hatte dabei keinen einzigen Buchstaben verzehrt. Sie knabberte nur am unbedruckten Papier zwischen den Zeilen.

„Ich mag keine Wörter, sie schmecken so eindeutig“, jammerte Lola.

„Die Wörter sind die Essenz des Buches“, rief Mutter Wilma und rollte sich auf.

„Wörter weisen dir den Weg“, sagte Léa, eine ältere Schwester, die sich seit Monaten durch Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ biss.

„In den Wörtern liegt die Wahrheit“, murmelte Bruder Ben.

„Wie kannst du den Sinn der Sprache auskosten, wenn du ihre Wörter nicht in dich aufnimmst?“, fragte der Vater.

„Der Geschmack ergibt sich aus den fehlenden Wörtern“, beharrte Lola und nahm einen weiteren Happen von zwischen den Zeilen.

Bin gespannt auf euer Feedback. Bis zum 19. April habe ich noch Zeit für die Auswahl des Texts und ggf. Feinschliff. Vielleicht möchte sich jemand von euch auch beim Schwäbischen Kunstsommer bewerben… Würde mich total freuen, liebe kreative Gefährt*innen dabei zu haben.

Update 29. Mai 2019:

Heute habe ich Post bekommen: Ich bin in die Prosa-Meisterklasse aufgenommen worden. Freue mich riesig! Wer möchte, kann den finalen Text meiner Bewerbung nachlesen – einfach den folgenden Link aktivieren: Bewerbung Kunstsommer_Prosa_final

Madame Viola und die vergessene Stunde

Wer kennt sie nicht, die blaue Stunde zwischen 2 und 3 Uhr nachts, wenn die Welt sich ein wenig langsamer zu drehen scheint, es stiller wird und der Mond seine silbernen Fäden durch die Nacht spinnt.

Aber kennst du auch die lila Stunde? Sie gibt es nur 1 Mal im Jahr – wenn die Menschen die Zeiger der Uhr mit der Macht der Willkür um eine Stunde vorstellen und damit den Sommermodus einschalten, auch wenn die Natur noch lange nicht so weit ist. Falls du denkst, diese übersprungene Stunde gäbe es nicht, dann hast du dich getäuscht. Es ist die Stunde von Madame Viola.

Madame Viola ist hellwach in dieser lila Stunde, einer Stunde die außerhalb der Zeit liegt. Einer Stunde, die sich ewig dehnt, um dann in einem Moment zusammen geschoben zu werden wie eine Ziehharmonika zu einer Millisekunde. Wenn du genau hinhörst, kannst du diesen Ton und den Luftzug spüren, der beim Zusammenschieben der lila Stunde entsteht. Das Seufzen von Madame Viola duftet nach Lavendel. Das Besondere an der lila Stunde ist, dass in ihr alles passieren kann. In der lila Stunde sind alle Handlungen bedingungslos, bedenkenlos, sorgenlos – aber nicht bedeutungslos.

In dieser li-la-lo’sen Stunde treibt Madame Viola mit Vorliebe ihre Spiele im Gegenstrom der Zeit. Sie lässt die Regentropfen aufwärts fallen und dreht alle N E B A T S H C U B auf Links. Wenn Madame Viola übermütig wird, holt sie die Sonne hinter dem Horizont hervor und weckt die Vögel für ein Morgenständchen auf. Sie lässt die Katze bellen und den Hund miauen. Der Maulwurf wird zum Hellseher und der Wolf zum Veganer.

Sie kommt in dein Schlafzimmer, sammelt deine vergessenen Träume ein und hängt sie zum Trocknen auf die Leine. Sie hat eine bunte Sammlung dieser Traumfetzen, die sie kichernd in neuen Kombinationen zusammen näht und den arglosen Schläfern in der lila Stunde überzieht. Wenn du also einen Traum aus Kettenhemd, Schafspelz, Filzflicken und Silberfäden träumst, dann weißt du, wer dich darin eingehüllt hat.

Dann kommt der unausweichliche Moment, in dem der kurze Zeiger der Uhr den Stundensprung macht und die lila Stunde zusammendrückt auf dem schwarzen Balken der Vergessenheit. Aber glaube mir, es hat diese Stunde gegeben! Vielleicht kannst du noch den Duft von Lavendel riechen. Vielleicht entdeckst du eine sonnengoldene Strähne in deinem Haar. Vielleicht findest du Moos zwischen deinen Zehen vom Tanz auf der Waldlichtung. Madame Viola bewahrt alles auf, was in der lila Stunde geschehen ist.

Creative Commons. René Magritte: „L’empire des lumières“

„Geschafft“ – Blogparade BKS 13

Anna, eine Mitstudierende aus meinem Studiengang „Biografisches und Kreatives Schreiben“ (BKS) an der ASH Berlin, hat zu einer Blogparade eingeladen. Das Thema lautet: „GESCHAFFT“. Gerne reihe ich mich mit diesem Beitrag in die Parade ein.

Was habe ich in letzter Zeit geschafft? Da fällt mir sofort mein Roman „Bei Stromausfall Liebe“ (früherer Arbeitstitel: Blackout) ein. Seine Ursprünge hat die Geschichte in der Romanwerkstatt meines Studiums im Sommer 2018 – dort habe ich das Setting des Stromausfalls in Frankfurt am Main und die Figuren entwickelt und die ersten 15 Seiten geschrieben. Im November unter dem Ansporn des NaNoWriMo ist meine Geschichte an 30 sehr intensiven Schreibtagen zu einem vollständigen Roman gewachsen. Ein paar letzte Szenen Anfang Dezember und fertig war die erste Fassung.

Im Januar habe ich das Manuskript an Testleserinnen und -leser gegeben und von dreien ein sehr detailliertes und hilfreiches Feedback bekommen. In den letzten zwei Wochen habe ich mich dann in die Überarbeitung gestürzt. Hier habe ich den barocken Überschwang an Bildern und Metaphern heraus gestrichen und auch sonst versucht, Dialoge zu straffen und Füllwörter und inhaltliche Wiederholungen zu eliminieren.

Das war eine ganz schön intensive Arbeit am Text, nicht ohne Schmerzen. Die Devise von Steven King: „Kill your darlings“ ging mir ständig durch den Kopf – ja, manchmal sind es gerade meine Lieblingsformulierungen, die der Schere zum Opfer fallen müssen. Dann habe ich noch ein bisschen am dramatischen Aufbau gerückt (einige Szenen zu Beginn in der Reihenfolge vertauscht, so dass die Hauptfigur Natasha im Einstieg präsenter ist). Und zu guter Letzt habe ich noch eine kleine Szene hinzu geschrieben, in der der Wiener Witwer (den man sonst nur durch seine Briefe kennenlernt und in einer Begegnung in einem Lebkuchenladen mit Banker Robert) in der Neuen Altstadt mit Yul, dem jungen Fahrradkurier, zusammen trifft – diese Verflechtung der Figuren hat meinen Testleser*innen gefallen und deshalb habe ich einen Nachschlag davon spendiert.

Dann war mein Manuskript bereit für den nächsten großen Schritt: Vor ein paar Tagen habe ich mein Werk (nebst Exposé, an dem ich auch ganz schön getüftelt habe) an einen etablierten Berliner Literaturagenten und an eine Agentin bei mir aus der Nachbarschaft gesendet. Jetzt heißt es abwarten und hoffen. Wird mein großer Traum von einer Veröffentlichung in einem Publikumsverlag irgendwann wahr werden? In einigen Wochen werde ich professionelle Einschätzungen zur Qualität und Vermarktbarkeit meines Manuskripts bekommen. Bin sehr gespannt! Immerhin habe ich es bis hierhin GESCHAFFT.

Meinen Schaffensprozess habe ich in einem Gedicht ausgedrückt, das ich der sprachlichen Einschränkung („contrainte“) unterworfen habe, dass in jeder Zeile mindestens ein Wortelement aus GE-SCH-AFFT vorkommen muss – mit kleiner orthographischer Freiheit. Viel Vergnügen:

Ge-sch-afft

Ich habe geträumt von einer Geschichte

gespickt mit heldenhafften Figuren

gewürzt mit schurkenhafften Spielern

habe meine Ideen gewogen und verschoben

habe geschrieben und geschrieben

habe mich zu zuweilen gewunden und geschunden

aus meiner Schreibtischhafft sind

Buchstaben geflohen auf gebleichtes Papier

mal geisterhafft mal meisterhafft

haben sich beispielhafft verbunden

zu gesunden runden Gestalten

gestrickt von Masche zu Masche

zu einer romanhafften Handlung

bis zum gebührend glaubhafften Finale

Geschafft?

Nein, noch war nicht alles gelungen

habe alle Wörter gewendet und geräumt

gestrichen und gebrannt bis zur Asche

was zu bildhafft und zu geladen

klischeehafft und gebläht

Nun liegt das Werk seitenhafft vor mir

Eine Frage bleibt geflüstert und gerufen:

Gefällt es meiner Leserschafft?

Fühlt sich so der Jubel „geschafft“ an?
Doch eher so! Geschafft – Romangipfel erklommen!

STILLvester

„Silvester – niemand will mich haben,“

flüstert die Stille mit gesenktem Kopf,

„verschmäht werden meine Gaben,

überflüssig bin ich wie ein Kropf.“

 

„Heute lassen wir es krachen,“

ruft ein Mensch mit schweren Tüten

„Feiern, saufen, grölen, lachen,

vor der Stille muss man sich hüten.“

 

Im Supermarkt greifen gierige Hände

nach Chinaböllern und Raketen,

zittern sollen Ohren und Wände,

wir verballern maßlos lose Moneten.

 

Vorsätze fassen und zum Lidl hasten,

fehlt noch der Käse zum Fondue.

Nen Kasten Bier ist nix zum Fasten.

Gute Stimmung gegen böse Geister hollerhü.

 

„Hört mich denn keiner, wenigstens einer?“,

säuselt die Stille und hebt ihren Blick.

Knall – ha ha – da jault ein Vierbeiner.

„Rutschen wir rein mit Wumm im Genick!“

 

Glanz und Getöse erhellen das Firmament

zwischen blassen Sternen und Mond im Wolkenkleid.

„Verschwinden will ich bis mich einer erkennt,“

sagt die Stille und niemand hört ihr Leid.

 

Grauer Kater schleicht im Morgendunst.

Blei im Kopf und in den Gliedern.

Im neuen Jahr wird alles Kunst.

Singen neue Texte zu alten Liedern.

 

Vögel schweigen – haben Tinnitus,

Hunde kläffen, Herrchen schnarcht,

Tellerstapel in der Spüle, Tiefstand im Spiritus,

Straßen tragen Schlachtfeldtracht.

 

Gähnen, recken, strecken Finger nach den Tasten:

TV, Radio und Phone – PLAY ON – PLAY ON.

„Pfeifen wir auf Ohrensausen, wozu rasten?“,

ruft ein Mensch, gegen Zweifel hilft der Ton.

 

„Frohes Neues“, hallt es aus vielen Mündern.

Was heißt das? Schon verklungen und vergessen.

Im Schall müssen sie keine Gedanken plündern.

Abseits wandert die Stille ohne Rückkehradressen.

 

„Ach, wäre doch nur einmal STILLvester!“

Mias Blog-Adventkalender 2018 – Weihnachten und andere Monsta – Türchen 11

Willkommen zu Mias Blog-Adventkalender 2018 – Weihnachten und andere Monsta. Auch in diesem Advent gibt es wieder eine spannende Gemeinschaftsgeschichte. Was bisher geschah (in kursiv):

Und da war es, das erste Türchen. Für das hatte sie sich als Ideengeberin natürlich verantwortlich gefühlt. So ein Anfangstürchen gibt die Richtung vor. Zack, da ist sie!  Zumindest für den ersten Raum, den die Menschen betreten, wenn sie mit den ersten Worten mitten hineingeführt werden. Sie bekommen vielleicht ein Gefühl dafür, was das für ein Raum ist, in dem sie sich befinden.

„Es duftet nach Kakao“, sagt Monsta und folgt dieser süßen Spur. „Da, ein Tannenbaum mit geschnitzten Holzfiguren!“, ruft Max und läuft dorthin. Roland malt ein Bild von dem Raum, Scrabbie hängt ihren Boxsack in die Ecke, Gustav gibt ihr Klugscheißer-Ratschläge und Lysander unterhält sich mit Otte.

Viele weitere Türchen werden sich bestimmt öffnen. Nicht immer an dem Tag, an dem wir sie brauchen. Das ist dann wie im Leben. Manchmal sehen wir zu lange auf eine geschlossene Tür, bis wir merken, dass eine andere längst geöffnet ist. „Du kannst ja einfach das Fenster nehmen!“, grinst Monsta und zeigt mir, wie das geht.ch rüttelte ihn unsanft wach. Er hatte es schließlich versprochen, hoch und heilig hatte er es versprochen. Ich hätte es besser wissen müssen. Ich versuchte ihm den Teebeutel unter dem Arm wegzuziehen.

„Hey, du bist dran!“, rief ich noch einmal. „Was, was ist los?“, fragte er, noch völlig verschlafen und von nix eine Ahnung. „Du bist dran mit dem 2. Türchen und das schon seit Stunden!“, schimpfte ich. „Aber, ich entspanne doch gerade so schön mit meinem Teebeutel!“, beschwerte sich Monsta und gähnte. „O.k., ich bin ja gar nicht so. Also, ich öffne jetzt das 2. Türchen und dann kann es endlich losgehen mit der Geschichte, oder?“ Er ließ seinen Teebeutel in der Tasse, stieg teenass aus der Tasse und kletterte, kleine Pfützen hinterlassend, durch das Fenster. „Ich mache das Türchen von der anderen Seite auf!“, rief er und rüttelte an dem 2. Türchen, Nichts. Er rüttelte weiter. „Es klemmt!“ Rütteln. Nichts. Rütteln. Nichts.

„Vorsicht, ich nehme Anschwung. Geh lieber zur Seite!“ Ein lauter Knall und Monsta flog mit dem zweiten Türchen herüber zu mir. „So, das Türchen wäre soweit!“, grinste er und schüttelte sich. Ich lachte. Die Geschichte brauchte noch ein wenig, um sich von dem Schreck zu erholen, als sie so plötzlich im Raum stand, aber bis morgen wird sie sich erholt haben.

Wenn eine Tür zu klemmt oder sich nur mit ganz großer Kraftanstrengung öffnen lässt, ist es besser, sie geschlossen zu lassen und eine andere zu öffnen. Das passt doch besonders gut in die Adventszeit. Da entlanggehen wo es leicht ist… stattdessen machen wir uns das Leben oft schwer. Adventszeit heisst doch still werden, das Gute erwarten, behutsam vorangehen. Und was machen wir? Wir kämpfen immer mal wieder gegen das was ist. Nun ja, Monsta wollte nun mal unbedingt dieses Türchen öffnen. Und ja, es war dann ja auch genau richtig. Manchmal lohnt sich ja zu kämpfen. Genau hinter diesem Türchen verbarg sich nämlich eine Wortwolke, die wie geschaffen schien, um daraus eine wunderbare Geschichte für alle Monstas und Mias und alle anderen kleinen und großen Menschen zu erzählen.

Da standen in krakliger Schrift viele gute Zutaten für eine wirkliche Adventskalendergeschichte:

Wünsche, Advent, Weihnachten, Liebe, Frieden, Sehnsucht, Türen, Engel, strahlen, Freundschaft, Mysterium. „Schnee“ und „Winter“ lies sich nur ganz knapp entziffern. Einige weitere Worte waren gänzlich verwischt, man konnte sie nicht entziffern. Auch wenn Monsta sich noch so anstrengte… Aber er hatte ja selbst noch so viele Ideen mehr… 

 Monsta und Mia schauten mit aufgerissenen Augen auf ihren Gast, der sich in einer geschmeidigen Bewegung aus der Teepfütze erhob und nun in Form einer Kartoffel vor ihnen saß. Sein Körper sah aus wie ein durchsichtiger Wackelpudding, in dessen Innern kleine Lichtpünktchen in Grün und Gold aufblinkten, wie bei einer phosphoreszierenden Alge.

„Haaatschiiiii“, machte das Wesen und schoss dabei in die Höhe wie eine Gurke und blinkte hellgrün auf. Dann sackte es wieder in sich zusammen und sah jetzt wie eine zitternde Birne aus. „Entschuldigung, dass ich hier so mit dem Türchen ins Haus gefallen bin. Darf ich mich vorstellen: Ich bin das Mysterium“, sagte das Mysterium. „Ah, bist du unsere Adventsgeschichte?“, wollte Monsta wissen und grinste verschmitzt mit allen seinen fünf Zähnen. „Ich bin die Pointe der Geschichte“, sagte das Mysterium und leuchtete golden auf. „Aber ich habe mich leider in der Tür geirrt und bin viel zu früh dran. Ihr hattet es so eilig.“ „Was machen wir nun mit dir?“, fragte Mia.

„Ihr könnt mir helfen, die anderen Figuren der Geschichte suchen zu gehen. Sie sind beim schwungvollen Türchen öffnen von der Fensterbank nach unten in den Schnee gefallen.“  „Nach wem sollen wir denn Ausschau halten?“, fragte Monsta und strubbelte sich voller Tatendrang mit seinen kleinen Händen im Zottelhaar. „Der Prolog hatte schon seinen Auftritt, den müsst ihr nicht mehr suchen. Haltet die Augen auf nach Fräulein Freundschaft und Kammersängerin Sehnsucht. Herr Winter hat ziemlich frostige Manieren, aber vielleicht findet ihr noch heraus, was man tun muss, damit er auftaut.“

„Bin schon unterwegs“, rief Monsta und wollte losfliegen … „Halt!“, rief das Mysterium aufgeregt. „Eile mit Weile, liebes Monsta. Und überlege, in welcher Reihenfolge ihr die Figuren suchen müsst, derweil ich mich wieder in das letzte Türchen quetsche und meinen wohlverdienten Adventsschlaf weiterführe.“ „Wie? Du willst Mia und mir gar nicht helfen? Was ist denn, wenn wir nicht weiterkommen oder etwas falsch machen?“

„Papperlapp. Ihr habt Angst, nicht weiterzukommen, da lachen ja die Rentiere. Ich glaube, ihr seid umgeben von Menschen und Traumgestalten, die nur darauf warten, euch zu unterstützen. Manchmal müsst ihr einfach fragen. Mehr Mut zum Wort, sage ich!“  Monsta schüttelte seine strubbeligen Haare und guckte das Mysterium verständnislos an. Dann wandte es sich lieber an Mia. „Ach Mia, wäre das nicht schön, wenn …“ „Die Sehnsucht! Monsta, das ist es, du hast dich doch gerade nach etwas gesehnt. Nach was ist jetzt ganz egal. Du kannst es mir später erzählen. Ich möchte es auch unbedingt wissen, aber ich glaube, die Sehnsucht, die Kammersängerin Sehnsucht ist die Erste, die wir suchen müssen.“  Monsta sprang vor Freude in die Höhe und das Mysterium lächelte still vor sich hin, bereit in sein Schlafgemach zu klettern. „Zieh dir die Schneeschuhe an Mia, es geht los. Wenn du dich an mir festhältst, können wir sogar durch verschlossene Türen gehen.“ „Jetzt echt?“ Mia tippte sich verstohlen an die Stirn. Sie musste doch gleich mal an Monstas Teebeutel schnuppern. 

 „Fast. Du musst nur ganz fest an deine größte Sehnsucht denken.“

Mia schloss die Augen und versuchte sich zu erinnern. Es war so Gott verdammt lange her, dass sie an ihre Sehnsucht gedacht hatte. Sehnsucht hatte irgendwas mit Träumen zu tun, daran erinnerte sie sich vage und Träume hatte sie längst aus ihrem Leben gestrichen. Wären Monsta & Co. nicht ihre Kumpels und Kumpelinen hätte sie sie wahrscheinlich komplett vergessen, aber so? Keine Chance und schon stupste Monsta sie ungeduldig von hinten an: „Auf geht´s, ab geht die wilde Fahrt! Scrabbie hat mir vorhin noch zugerufen, wo wir die Kammersängerin Sehnsucht finden können.“ „ Jaaaaa, totenhunderprozentigseelensicher… sie wohnt dort, wo der Osten auf einmal zum Westen wird, an jener feinen Grenze passt sie auf, dass ja keine Sehnsüchte die Welt verlassen können. Und wenn eine doch herunterzupurzeln droht, hilft ihr Max Erfindung des Sehnsuchtsfangnetzes (übrigens in sattem Magenta!) sie doch hier auf Erden zu behalten.”

Zisch, plitsch, braus, – Monsta und Mia waren nun nicht mehr aufzuhalten und sausten im Dunkel der Nacht davon…

Durch die Nacht also, flogen Monsta, Mia, Max, Scrabbie und Roland, auf der Suche nach Kammersängerin Sehnsucht, landeten sanft aufgefangen vom Sehnsuchtsfangnetz am Hain und sahen vor sich eine schier endlose Schlange Wartender. „Das wird ewig dauern“, seufzte Monsta, „wenn wir überhaupt reinkommen…“  „Ist Max nicht viel zu jung, Mia?“  „Keine Sorge, Scrabbie hat uns noch an jedem Türsteher der Stadt vorbeigebracht!“ „Ich will endlich tanzen!“, puffte Roland Nebelwölklein in die Kälte.

Nach drei endlosen Stunden standen sie endlich ganz vorne. Gerade wollte der Zerberus zu einem „Heute nicht…“ und einer abweisenden Geste ausholen, als eine engelsgleiche Stimme erklang, fanfarenbegleitet, und in güldenem Licht die Kammersängerin Sehnsucht herniederfuhr, den Türsteher umarmte und so lange küsste, bis die Sehnsüchtigen endlich begriffen, dass sie in den Tempel der Unschuld schlüpfen konnten, huschhusch, raschrasch.

Kaum drin, standen sie schon ungeduldig in der nächsten Schlange, vor den Klos, zwischen leichtbekleideten Tätowierten, wenigstens war es hier feuchtwarm und nicht feuchtkalt. „Worauf habt ihr den Lust?“, fragte Scrabbie in die Runde. „Tee!“, verlangte Monsta. „Lebkuchen!“, forderte Roland. „Zimtsterne!“, wünschte Mia. „Stollen!“, wollte Max. „Eierpunsch!“, orderte Scrabbie.

„Es gibt Puderzucker für alle!“,

zwitscherte Madame Sehnsucht und zwängte sich mit der Ziehgruppe in die enge Kabine. Roland versuchte sich in eine Ecke der Kabine zu drücken und so wenig Körperkontakt zu den anderen zuzulassen wie möglich. Scrabbies Blick hing an den langen Wimpern von Madame Sehnsucht. ‚Ob die wohl echt waren?‘ Monsta verstrubbelte sich mal wieder seine Haare. Das war ihm jetzt eigentlich alles ein bisschen zu viel Gewusel. Mia, die Praktische, fragte: „Frau Kammersängerin, was machen wir hier?“ Samantha Sehnsucht lachte glockenhell auf: „Wir üben für den Weihnachtschor der himmlischen Heerscharen. Der braucht für das Weihnachtskonzert noch Verstärkung und ich sehne mich nach Eurer Unterstützung.“ Monsta plusterte sich auf: „Da brauche ich vorher nicht nur einen Tee, sondern ein ordentliches Käsebrot, sonst geht gar nix.“ Scrabbie quietschte: „Ich kann nicht singen, ich bin im Stimmbruch“. Roland sagte nichts, aber sein Gesicht lief rot an. Mia dagegen blickte strahlend in die Runde: „So lasst es uns doch wenigstens einmal versuchen. Ich wollte schon immer mal singen.

„Vielleicht schlummern in uns verborgene Talente.“

Samantha Sehnsucht freute sich sichtlich: „Das ist die richtige Haltung.“ Sie trat an das Schränkchen in einer der Ecken der Kabine und öffnete die beiden Flügeltüren … Auf dem Weg sahen sie ihn, den dicken Herrn Wunsch, der sich kaum auf den Beinen halten konnte, ob der wohl hinter dem nächsten Türchen steckte?

Ja, es stimmte, Herr Wunsch steckte hinter dem nächsten Türchen. Aber er wollte einfach seine Ruhe haben, er war so müde und konnte sich wirklich kaum mehr auf den Beinen halten. Er hatte genug. Alle hatten sie Wünsche über Wünsche, wollten dies und wollten das oder doch lieber was anderes. Das ganze Jahr ging es so, Geburtstagsgeschenke, Ostergeschenke, Valentinsgeschenke und was es nicht noch für Gelegenheiten, um etwas zu schenken und sich etwas zu wünschen. Es wurde jedes Jahr schlimmer und im Advent war es ganz, ganz furchtbar. Es quietschte und pfiff in seinen Ohren. Das waren die Stimmen und Gedanken der Menschen, die sich gerade etwas wünschten. Herr Wunsch stemmte sich von innen gegen die Tür, damit ja niemand hereinkam. Auch wenn er wusste, dass ihm das nichts nützen würde. Sich selbst konnte er keinen Wunsch erfüllen, sonst hätte er sich schon lange mindestens ein Jahr Pause vom Wunsch erfüllen gewünscht.

Da hörte er das Jauchzen von Scrabbie und irgendwie schien es ihm, dass damit auch das Quietschen in seinen Ohren etwas weniger wurde. Er lächelte in sich hinein und fühlte sich gleich nicht mehr gar so verzagt. Vielleicht würde ja doch noch ein Wunder geschehen und irgendwer sich etwas wünschen, das von Herzen kam, allen Menschen diente und nichts mit Materiellem zu tun hatte.

Da klopfte es an seine Tür. Sollte er öffnen? Oder sollte er sich einfach hinter das 24. Türchen schleichen und sich dort bis Weihnachten verstecken? Mhmm, das war nun die Frage. Nein, das konnte Herr Wunsch niemanden antun, er war ja gewissenhaft und pflichtbewusst. So richtet er seinen Anzug, fuhr sich nochmals durch sein Haar, öffnete die Tür einen Spalt und stand Scrabbie gegenüber.

Türchen 11:

„Sind Sie Herr Wunsch?“, fragte Scrabbie und blinzelte. Vor ihr stand ein rundlicher Herr in einem Anzug aus Lametta. Das einzige an ihm, was nicht silbrig, golden, rot und blau glitzerte, waren seine riesigen rosa Elefantenohren.

„Ja, der bin ich“, sagte er und schlackerte mit seinen Ohren, als wolle er lästige Fliegen vertreiben.

„Dieses Wunschgesumme macht mich noch wahnsinnig“, murmelte er.

„Aber auch dir werde ich mein Ohr leihen, mein Kind. Flüstere nur deinen Wunsch hinein“, sagte er mit tiefer Bauchstimme. Scrabbie beugte sich vor bis ihre Lippen fast sein linkes Ohr berührten, das aus der Nähe wie ein platter Marshmellow aussah. Sie flüsterte ihren Wunsch in dieses rosa Ohr. Herr Wunsch verzog keine Miene, aber sein Ohr wedelte – vielleicht vor Freude.

„Die Zeit ist um, ihr müsst gehen, die nächsten Wunsch-Besteller sind an der Reihe“, drang plötzlich eine scharfe Stimme durch die Kabine. Scrabbie drehte sich erschrocken um und da stand eine Frau mit der Figur einer Sanduhr. Sie war ganz in Schwarz gekleidet, ihre Brust war eine Glasvitrine und im Innern sah man anstelle des Herzens das runde Ziffernblatt einer Uhr, deren Zeiger sich so schnell wie eine Karussell drehten.

„Aber meine anderen Freunde haben ihre Wünsche noch gar nicht sagen können“, protestierte Mia.

„Wer sind Sie überhaupt?“

„Ich bin Helga Hektik. Ich sorge für die Wunsch-Optimierung“, sagte die Uhrenfrau.

„Mir wird ganz schlecht von dem Minutenzeiger, der hat sich schon 7 Mal um sich selbst gedreht“, jammerte Monsta und raufte sich sein strubbeliges Bauchhaar. Herr Wunsch legte seine Ohren an und verkroch sich wieder hinter seinem Türchen Nr. 10.

„Ihr hättet ein Online-Ticket für die Wunschsprechstunde lösen müssen“, sagte Helga Hektik mit Automatenstimme.

„Wenn ihr euch für den Newsletter vom Advents-Adventure-Land registriert hättet, würdet ihr sogar einen Extra-Wunsch (ohne Umtauschrecht) bekommen. Aber hier einfach so herein zu platzen…“

„Wir sind für das Weihnachtkonzert eingeladen“ verteidigte Scrabbie ihre Freunde. Sie blickte sich suchend um, aber wo zuvor Kammersängerin Sehnsucht geschwebt hatte, hing nur noch eine Puderzuckerwolke in der Luft.

„Hinaus mit euch! Schnell schnell, die Zeit hält nicht für euch an“,

„Deine Uhr läuft zu schnell“, plärrte Monsta während die Uhrenfrau ihn unsanft aus der Kabine drängte und die Tür zuknallte.

Die Freunde fanden sich in einer dämmrigen Eingangshalle mit zerbrochenen Fensterscheiben wieder, durch die der Wind einige Schneeflocken herein blies.

„Wo ist Roland?“, rief Scrabbie. Die Freunde blickten sich um, aber Roland war nirgends zu sehen.

Und hier, bei Anneliese – öffnet sich morgen das 12. Türchen.

 

Mias Blog-Adventkalender 2018 – Weihnachten und andere Monsta – Türchen 4

Willkommen zu Mias Blog-Adventkalender 2018 – Weihnachten und andere Monsta. Auch in diesem Advent gibt es wieder eine spannende Gemeinschaftsgeschichte. Was bisher geschah (in kursiv):

Ich rüttelte ihn unsanft wach. Er hatte es schließlich versprochen, hoch und heilig hatte er es versprochen. Ich hätte es besser wissen müssen. Ich versuchte ihm den Teebeutel unter dem Arm wegzuziehen.
„Hey, du bist dran!“, rief ich noch einmal.
„Was, was ist los?“, fragte er, noch völlig verschlafen und von nix eine Ahnung.
„Du bist dran mit dem 2. Türchen und das schon seit Stunden!“, schimpfte ich.
„Aber, ich entspanne doch gerade so schön mit meinem Teebeutel!“, beschwerte sich Monsta und gähnte. „O.k., ich bin ja gar nicht so. Also, ich öffne jetzt das 2. Türchen und dann kann es endlich losgehen mit der Geschichte, oder?“ Er ließ seinen Teebeutel in der Tasse, stieg teenass aus der Tasse und kletterte, kleine Pfützen hinterlassend, durch das Fenster.
„Ich mache das Türchen von der anderen Seite auf!“, rief er und rüttelte an dem 2. Türchen, Nichts. Er rüttelte weiter.
„Es klemmt!“ Rütteln. Nichts. Rütteln. Nichts.
„Vorsicht, ich nehme Anschwung. Geh lieber zur Seite!“ Ein lauter Knall und Monsta flog mit dem zweiten Türchen herüber zu mir. „So, das Türchen wäre soweit!“, grinste er und schüttelte sich.
Ich lachte. Die Geschichte brauchte noch ein wenig, um sich von dem Schreck zu erholen, als sie so plötzlich im Raum stand, aber bis morgen wird sie sich erholt haben.

Wenn eine Tür zu klemmt oder sich nur mit ganz großer Kraftanstrengung öffnen lässt, ist es besser, sie geschlossen zu lassen und eine andere zu öffnen. Das passt doch besonders gut in die Adventszeit. Da entlanggehen wo es leicht ist… statt dessen machen wir uns das Leben oft schwer. Adventszeit heisst doch still werden, das Gute erwarten, behutsam vorangehen. Und was machen wir? Wir kämpfen immer mal wieder gegen das was ist. Nun ja, Monsta wollte nun mal unbedingt dieses Türchen öffnen. Und ja, es war dann ja auch genau richtig. Manchmal lohnt sich ja zu kämpfen. Genau hinter diesem Türchen verbarg sich nämlich eine Wortwolke, die wie geschaffen schien, um daraus eine wunderbare Geschichte für alle Monstas und Mias und alle anderen kleinen und großen Menschen zu erzählen. Da standen in krakliger Schrift viele gute Zutaten für eine wirkliche Adventskalendergeschichte: Wünsche, Advent, Weihnachten, Liebe, Frieden, Sehnsucht, Türen, Engel, strahlen, Freundschaft, Mysterium. „Schnee“ und „Winter“ lies sich nur ganz knapp entziffern. Einige weitere Worte waren gänzlich verwischt, man konnte sie nicht entziffern. Auch wenn Monsta sich noch so anstrengte… Aber er hatte ja selbst noch so viele Ideen mehr…

Türchen 4:

Monsta und Mia schauten mit aufgerissenen Augen auf ihren Gast, der sich in einer geschmeidigen Bewegung aus der Teepfütze erhob und nun in Form einer Kartoffeln vor ihnen saß. Sein Körper sah aus wie ein durchsichtiger Wackelpudding, in dessen Innern kleine Lichtpünktchen in Grün und Gold aufblinkten, wie bei einer phosphoreszierenden Alge.

„Haaatschiiiii“, machte das Wesen und schoss dabei in die Höhe wie eine Gurke und blinkte hellgrün auf. Dann sackte es wieder in sich zusammen und sah jetzt wie eine zitternde Birne aus.

„Entschuldigung, dass ich hier so mit dem Türchen ins Haus gefallen bin. Darf ich mich vorstellen: Ich bin das Mysterium“, sagte das Mysterium.

„Ah, bist du unsere Adventsgeschichte?“, wollte Monsta wissen und grinste verschmitzt mit allen seinen fünf Zähnen.

„Ich bin die Pointe der Geschichte“, sagte das Mysterium und leuchtete golden auf.

„Aber ich habe mich leider in der Tür geirrt und bin viel zu früh dran. Ihr hattet es so eilig.“

„Was machen wir nun mit dir?“, fragte Mia.

„Ihr könnt mir helfen, die anderen Figuren der Geschichte suchen zu gehen. Sie sind beim schwungvollen Türchen öffnen von der Fensterbank nach unten in den Schnee gefallen.“

„Nach wem sollen wir denn Ausschau halten?“, fragte Monsta und strubbelte sich voller Tatendrang mit seinen kleinen Händen im Zottelhaar.

„Der Prolog hatte schon seinen Auftritt, den müsst ihr nicht mehr suchen. Haltet die Augen auf nach Fräulein Freundschaft und Kammersängerin Sehnsucht. Herr Winter hat ziemlich frostige Manieren, aber vielleicht findet ihr noch heraus, was man tun muss, damit er auftaut.“

„Bin schon unterwegs“, rief Monsta und wollte losfliegen…

Und hier, bei Sonja, öffnet sich morgen das 5. Türchen.

Am Tag 26 im National Novel Writing Month – Auf einer Kitschwelle ins Ziel

Heute ist Tag 26 und ich bin auf der Zielgeraden! Gestern kurz vor Mitternacht habe ich die 45.992 Wörter voll geschrieben. Also nur noch 4.008 Wörter (sagt mein treuer Freund der Taschenrechner) bis ins Ziel am Freitag. Zum Glück bin ich seit meinem letzten Blogeintrag vor zwei Wochen besser in den Schreibfluss gekommen und musste mich nicht mehr ganz so stark antreiben – obwohl das Wörterpensum jeden Tag aufs Neue eine Herausforderung ist.

Alle Höhepunkte meiner Geschichte sind erzählt. Natasha und Robert haben sich aus dem Aufzug befreit, in dem sie zusammen feststeckten – dabei gab es Wortduelle und körperliche Annäherung (okay, „Räuberleiter“ ist jetzt nicht der Inbegriff von Erotik, aber immerhin). In ihren Szenen sind die Widersacher – der unsympathische Personaler Waidemann und Roberts diktatorischer Chef Herr von Auerstedt zwar aufgetreten – aber eher als zahnlose Tiger. Hollywood Bösewichter gehen anders…

Die Millionärsgattin Gabriele, die den Stromausfall genutzt hat, um ein Dessous zu stehlen, wurde im Parkhaus vom 17-jährigen Fahrradkurier Yul (und Gelegenheitsdrogendealer) gestellt und erpresst. Später sind sie sich im Rothschildpark schicksalhaft ein zweites Mal begegnet – dieses Mal in umgedrehtem Machtverhältnis – Blut und Tränen sind gelaufen.

Jetzt bleibt mir nur noch, das rührselige Finale für mein Liebespaar zu schreiben – Kitsch-Alarm!

Eigentlich ist Jane Austen mein großes Vorbild in romantischer Romanliebe, aber ich fürchte, mein Paar hatte zu wenige Hindernisse auf dem Weg zum Happy End. Ich habe den Verdacht, bei mir klingt es mehr nach Rosamunde Pilcher, wo man schon von der ersten Sekunde an weiß, wer zusammen kommt. Aber da Millionen von Leserinnen zu Pilcher geseufzt haben, ist das Strickmuster vielleicht nicht das Schlechteste.

Bei Gabriele und Yul schwebt mir für den Ausklang vor, dass sie durch ihre Begegnung verändert und geläutert sind. Noch mehr gefühliges Pathos.

Meine größte Sorge ist, dass ich nicht mehr genug Stoff habe und spätesten am Mittwoch alles überdeutlich ausgewalzt und nichts mehr zu erzählen habe. Wie fülle ich bloß die Seiten? Immerhin bleibt mir noch meine Nebenfigur, der Wiener Herr im weißen Anzug, der Briefe an seine „Geliebte Claudette“ schreibt. Den hatte ich in letzter Zeit links liegen bzw. in der U-Bahn feststecken lassen, kurz vor dem Zoo – vielleicht kann ich noch einen Raubtierangriff einbauen für ein bisschen mehr Spannung oder wenigstens ein possierliches Tierchen durch die Szenerie hüpfen lassen. Ihm kann ich noch einen Schreibtag widmen.

Außerdem habe ich eine Rubrik „Aus dem Äther“ – Mikrogeschichten aus den Nachrichten, die sich die Leute schicken. Diese habe ich immer mal zwischen den Kapiteln geschrieben, wenn ich einen „Kater“ von einer dramatischen Szene hatte und mich zu nichts Neuem aufraffen konnte.

Heute Abend tippe ich also weiter auf der Tränendrüse herum.

 

 

 

Am Tag 12 im National Novel Writing Month – Wörter wo seid ihr? Blackout im Zwang der Zahlen

Ein Drittel des Weges auf meinem NaNoWriMo-Schreibabenteuer habe ich bewältigt – mit Hängen und Würfen! Noch nie waren 1.667 Wörter (das durchschnittlich zu erringende Tagespensum, damit ich in 30 Tagen auf die Romanlänge von 50.000 Wörtern komme – so ist die Challenge dieses Wettbewerbes mit mir selbst) so schwer zu finden. Wo seid ihr Wörterwellen und Schreibrausch?

Ich frage mich, wie ich das im letzten Jahr so locker geschafft habe, mit Überschuss jeden Tag und leichtem Fluss (zumindest im November – meine Schreibreise ging ja dann noch drei Monate weiter, da wurde der Weg noch steinig).

In der ersten Woche musste ich mich oft mit Stoppuhr (10 Minuten schaffst du, dann Pause) von Etappe zu Etappe hecheln. Auch der Extras-Button (zum Wörter zählen) und mein Taschenrechner sind im Dauereinsatz: „Oh mein Gott, wie viel noch, habe ich es endlich geschafft???“

Liegt es am vielleicht Stoff?

Blackout“ nenne ich meinen Roman. Ich fürchte, dieser Titel ist in meinen Schreibprozess durchgesickert und zieht dort schwarze Fäden in meinen Gedanken.

Meine Geschichte baut auf den 15 Romanseiten auf, die ich im August in der Romanwerkstatt im Studium geschrieben habe. Die Handlung spielt an einem heißen Julitag – am Freitag, den 13. (den gab es wirklich dieses Jahr) in Frankfurt am Main – kurz nach 14 Uhr fällt in der ganzen Stadt der Strom aus (für mehrere Stunden). Der neue EZB-Wolkenkratzer ist einer der dramatischen Handlungsorte.

Inspiriert zu diesem Romansetting hat mich der große Stromausfall am 13. Juli 1977 in New York City – eine der dunkelsten Stunden der Stadt mit Plünderei und Gewaltausbrüchen. Ich finde es sehr reizvoll, Figuren unterschiedlicher Gesellschaftsschichten und Temperamente in dieser menschlichen und zivilisatorischen Extremsituation aufeinander prallen zu lassen. Wer handelt heldenhaft, wer schurkenhaft?

In meiner Geschichte wird zwar auch Blut fließen, aber im Zentrum steht die Romantik. Im Moment des Stromausfalls führt das Schicksal (ich) die schlagfertige Putzfrau Natasha und den zurückhaltenden Banker Robert im Fahrstuhl zusammen. Sie müssen sich aus der Falle befreien und kommen sich dabei näher.

Außerdem gibt es noch die Milionärsgattin Gabriele von Auerstedt, die im Moment des Stromausfalls in einer Umkleidekabine steht und spontan zur Dessous-Diebin wird. Dabei wird sie vom Fahrradkurier Yul beobachtet, ein 17-jähriger lebenshungriger Junge aus dem Rotlichtmilieu, der von einem besseren Leben träumt.

Dann gibt es noch den älteren Herrn aus Wien im weißen Anzug (bankrott und bigott), der die Asche seiner toten Frau in einer Lebkuchendose mit sich herum trägt und einen fatalen Plan verfolgt. Soweit, so gut.

Als ich am  1. November mit dem Schreiben begonnen habe, wollte ich nicht dort fortsetzen, wo meine Romanseiten endeten (im Moment des Stromausfalls), sondern noch eine wenig zurück gehen und mir mehr Zeit zur Einführung meiner Figuren geben. Die fertigen Seiten (die ich nicht in meinen NaNoWriMo-Wordcount mit einrechne – das ist Ehrensache) sind wie der Rohbau – dort habe ich sehr konzentriert auf wenig Raum die Charaktere aufgebaut – den ich in den letzten 11 Tagen von innen ausgestattet habe – zuweilen mit viel Detailliebe und überflüssigem Stuck.

Ich hatte das Gefühl, dass ich meine Figuren erst noch in ihrem Alltag zeigen möchte, bevor ich sie in die Ausnahmesituation des Stromausfalls stürze.

Also habe ich mich ausschweifend jeder Figur zugewandt: Natasha beim abendlichen Putzen (u.a. tauscht sie versteckte romantische Zettelbotschaften mit dem Inhaber eines der Büros aus, beide wissen nicht, wer der geheimnisvolle Schreiber ist – Spoiler Alert: es ist Robert), Robert beim Frühstücken und mit dem Fahrrad zur Arbeit fahrend, dem Wiener anreisend und Gabriele im Schönheitssalon.

Das klingt so, als wäre mir das leicht von der Hand gegangen. Fehlanzeige. Ständig ermahne ich mich beim Schreiben „show, dont’t tell“. Diese goldene Regel habe ich tausendmal gebrochen. Ich bin eine echte Plaudertasche und erkläre ständig die Gedanken und Motivationen meiner Figuren, auch wenn ich versuche, sie wenigstens in Dialogen (wenn schon nicht mit Handlungen) zu zeigen.

Als Erzählperspektive habe ich den Personalen Erzähler gewählt und wechsele zwischen der Sicht von Natasha, Robert, Yul und Gabriele. Ich drifte gefährlich nahe an den Allwissenden Erzähler, was ich vermeiden möchte.

Für den Wiener im weißen Anzug (der in den Action-Szenen aus der Sicht Dritter gezeigt wird und eher unsympathisch rüber kommt) habe ich mir den Trick überlegt, dass ich seine Innenwelt in Briefform sichtbar mache. Wieder ganz und gar „telling“ – er sitzt im Zug und schreibt einen langen Brief an „Meine geliebte Claudette“ – das habe ich an Tag 3 geschrieben, als ich um jedes Wort gerungen habe, um meinen Wordcount zu schaffen (habe nach 557 Wörter kapituliert).

Ja, die Statistik sitzt mir im Nacken. Die Disziplin ist das oberste Gebot. Ich zwinge mich, an jedem Tag zu schreiben (meistens zwischen 21 Uhr und Mitternacht, wenn es kein „später“ mehr gibt). Ich lasse keine Ausreden gelten. „Heute lasse ich es sein, dann schreibe ich morgen eben das Doppelte“, gibt es nicht. Die Aufholjagt ist Stress pur – selbst, wenn mir nur ein paar hundert Wörter fehlen. An Tag 3 und Tag 7 habe ich mich zu 557 und 432 Wörtern gequält (immerhin), dafür an anderen Tagen 2.400 Wörter geschafft. Ich versuche jedoch, den Durchschnittslevel zu halten (1.700 pro Tag wären ideal, mit Mini-Polster).

Hier meine aktuelle Statistik. In der Zeile „At This Rate You Will Finish On“ steht nun endlich der 30. November. Bis vor 2 Tagen war es der 3. Dezember – too late! – Panikaufwallung.

Genug der Worte? Mein obiges Lamento hat 899 Wörter (das wäre schon über die Hälfte meines heutigen Tagespensums) – ach, ich glaube, ich leide an einer word-count-compulsion – einem Schriftstellerzwangsstörungszahlensyndrom…

Jetzt möchte ich euch noch eine Leseprobe gönnen. Ich hatte letzte Woche ein intensives Vorstellungsgespräch und habe daraus jede Menge Tintensaft gesogen. Die Fragen des Interviewers sind mir echt so gestellt worden – ihr werdet sehen, wie meine Romanheldin Natasha damit klar kommt.

Übrigens neben dem Briefschreiben eine weitere Selbstaustricksung: Wenn ich meiner Erzählerstimme schon das Schwafeln verbiete (show show show), dann lasse ich meine Figur im Job Interview einfach ihre Lebensgeschichte erzählen. Mein innerer Kritiker soll sich halt bei Natasha beschweren.

 

 

Gespenstersolitüde

Winde heulen

eine Diele knarrt

eine Tür schlägt zu

im Schloss von Tudory

 

Eine Uhr schlägt Zwölf

ein Vorhang bläht sich

ein Gespenst erwacht

im Schloss von Tudory

 

Seine Kunst ist ausgefeilt

griffbereit sind seine Requisiten

es senkt den Schauerschleier das

Gespenst von Tudory

 

Es klappern gelbe Zähne

ohne Lippen ohne Blut

Bühne frei für das

Gespenst von Tudory

 

Im Mondschein glitzert Staub

auf geheimen Gängen

geht mit Kettenrasseln das

Gespenst von Tudory

 

Es lässt die Kerzen flackern

mit seinem kalten Hauch

wer spürt es voller Furcht

im Schloss von Tudory

 

Versteinerte Gesichter

zeigen keine Regung

auf der Ahnengalerie

im Schloss von Tudory

 

Grausig tut es seine Pflicht

geistert Nacht um Nacht

doch niemand sieht es das

Gespenst von Tudory

 

Längst verhallt sind

schrille Schreckensschreie

der Marquise von Albury

im Schloss von Tudory

 

Längst verblichen sind

Grimassen des Entsetzens

vom Gesicht des Grafen Ginsbury

im Schloss von Tudory

 

Sehnend lauschend schleppend

zieht es durch leere Gemäuer

sein Kostüm in Fetzen das

einsame Gespenst von Tudory

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