Am Sonntagabend begrüßte dervielseitige Tenor Rolando Villazón sein Publikum im gut gefüllten Kuppelsaal ungewohnt mit Mikrofon, denn Moderator Holger Wemhoff war kurzfristig erkrankt, so dass der Sänger selbst spontan durch sein Programm führte – mit Ernsthaftigkeit und Charme.
So schwelgte die golden-warme Stimme des Tenors in den ersten drei Liedern von Mozart, Schubert und Strauss von der melancholischen Abendstimmung, über die Kunst bis zum Abschied der Seelen. Er interpretierte die deutschen Verse mit sehr guter Textverständlichkeit und großer Ausdruckskraft.
Der nächste Teil war Komponisten aus dem mediterranen Raum gewidmet. In „Coplas de Curro Dulce“ von Fernando J. Obradors zeigte der Mexikaner sein Temperament.
Unter den melodienreichen Liedern der italienischen Komponisten Verdi, Bellini und Rossini stach besonders Villazóns schmerzlich-sehnsuchtsvolle Interpretation von „Vaga luna che inargenti“ (Bellini) heraus.
Nach der Pause präsentierte der Tenor moderne Musik und spannte mit vier Songs von Kurt Weill den Bogen in die Gegenwart mit dem Thema von Krieg und Verlust. Die Texte stammen aus der Feder von Walt Whitman („Oh Captain! My Captain!„ – das Gedicht ist manchem bekannt aus dem Film „Der Club der toten Dichter“).
Auch die folgenden drei Lieder von Iain Bell forderten die Hörgewohnheiten heraus und gingen nicht sofort ins Ohr, wie andere eingängige Klassikhits.
Der Mexikaner scherzte: „Ich singe dieses Konzert noch acht Mal. Wenn Sie jedes Mal hinkommen, können Sie die Lieder am Schluss mitsingen.“
Zum Abschluss holte der Tenor Lieder der Komponistinnen Gisela Hernández, Inés Halimi und María Grever aus dem Schatten ihrer männlichen Zeitgenossen hervor und bewies, dass diese Kompositionen ihren Platz im Standardrepertoire verdient hätten.
Das Lied „Entre tus manos“ hat Inés Halimi eigens für Villazón komponiert – wie er erzählte als Ergebnis einer Begegnung auf einer Zugfahrt, bei der die beiden ins Gespräch gekommen waren.
Begleitet wurde Rolando Villazón von der kanadischen Pianistin Carrie-Ann Matheson, die es verstand, im musikalischen Dialog die unterschiedlichen Stimmungen der Lieder zu unterstreichen.
Das Publikum dankte dem Tenor den gelungenen Abend mit stehenden Ovationen und wurde mit drei Zugaben belohnt, in denen der Mexikaner wieder den Farbenreichtum seiner Stimme aufblühen ließ und viel Herzenswärme auf den Saal übersprang.
Mein neues Romanprojekt schimmert schon verheißungsvoll am Horizont – meine Protagonistin soll die Wiener Staatsoper in den 1920er Jahren sein. In ihren prunkvollen Mauern, zwischen Sternenstaub und Bühnenstaub zum vielstimmigen Klang des Orchesters soll sich mein Figurenreigen auffächern. Ein Mikrokosmos der Gesellschaft – von kapriziösen Gesangsstars, über Highsociety in den Logen und Bravo- und Buh-Rufern auf den Stehplätzen bis zu den rauen Bühnenarbeitern auf dem Schnürboden trifft hier alles zusammen für das Gesamtkunstwerk und Erlebnis Oper. Als langjährige Opern-Enthusiastin habe ich richtig Lust auf dieses Thema und kenne mich auch ganz gut aus – aber hauptsächlich in der Gegenwart.
Ich mache mich also auf eine Recherche-Reise in die Vergangenheit auf der Suche nach einer historischen Künstlerin (zunächst schwebt mir eine Prima Donna vor) – die ich in den Mittelpunkt meiner Geschichte stellen kann. Ich surfe im world wide web, aber die richtig Großen dieser Zeit waren alles Männer.
Eine der Glanzgestalten dieser Zeit war Richard Tauber. Ich bestelle seine Biografie und lese eifrig darin: Er war der deutsche Caruso mit der goldenen Stimme, ein Pop-Star seiner Zeit mit unzähligen Schallplattenaufnahmen. Er pendelte zwischen Wien und Berlin, wurde in den 1930ern als Halbjude von den Nazis vertrieben und starb 1948 verarmt im Exil in London. Er war ein großzügiger Lebemann mit einer schrecklichen 1. Ehefrau (Sopran / Soubrette), die ihn erpresst und ausgenommen hat: Carlotta Vanconti – sie eignet sich definitiv nicht als Heldin für meinen Roman – höchstens als Gegenspielerin.
Irgendwie komme ich dann auf Dirigenten – und stelle fest, dass Frauen damals wie heute eine absolute Ausnahmeerscheinung in diesem Metier sind. Der Funke springt über und ich verfolge diese Fährte weiter, finde Anekdoten zu den wenigen Dirigentinnen, die in den 1920er Jahren an der Berliner Philharmonie den Taktstock geschwungen haben. Aber in Wien? Nulla! Die Australierin Simone Young war die erste Frau am Pult der Wiener Staatsoper – dieses Debüt fand im 21. Jahrhundert statt. Ich stoße auf Joana Mallwitz, die bei den Salzburger Festspielen dieses Jahr (2020!) die erste Frau ist, die mit „Così fan tutte“ dort eine Oper dirigieren darf.
Welche Erkenntnis ziehe ich daraus: Eine Dirigentin hätte in den 1920er Jahren niemals das Pult des Staatsopernorchesters betreten dürfen. Ich habe eine Eingebung: Sie müsste sich als Mann verkleiden! Meine Protagonistin ist geboren. Ich knüpfe an die literarische Tradition von Shakespeare an und lasse eine Frau in Männerkleidung Furore machen. Amouröse Verwicklungen inklusive. Da denke ich sofort an einen Mentor (natürlich auch ein Dirigent), in den sie sich verliebt, aber sich nicht als Frau offenbaren darf. Und ein machtgieriger Konkurrent kommt ihrer Maskerade auf die Schliche und erpresst sie. Die Travestie bietet jede Menge Möglichkeiten für Verwicklungen und spannungsreiche Konflikte und sogar Komik.
Nun steht meine Reise nach Wien an – zum einen freue ich mich darauf, endlich wieder in Live-Operngenuss zu kommen – zum anderen bin ich begierig darauf, für meinen Roman zu recherchieren. Ich will das Wien der 1920er Jahre hautnah kennenlernen.
Im Vorfeld schreibe ich eine E-Mail an die Info-Seite der Wiener Staatsoper mit Bitte um Kontakt zum Archivar, da mir viele Fragen zu Frauen an diesem Arbeitsplatz auf den Lippen brennen. Ich erhalte keine Antwort. Auch an ein Wiener Musik-Archiv schreibe ich eine Anfrage, aber meine Mail kommt als unzustellbar zurück. Die digitalen Wege führen ins Leere. Bin gespannt, was ich vor Ort herausfinden kann.
Am Montagabend steige ich in den „Nightjet“ nach Wien (12 Stunden Fahrt). Ich teile das Abteil mit zwei jungen Frauen, mache es mir oben auf dem Bett so gut es geht gemütlich und lese in der Tauber-Biografie. Hier kommt gut zum Ausdruck, welch hohen Stellenwert und gesellschaftliche Anerkennung Opern- und Operettensängern in dieser Zeit hatten (es gab nicht so viele multimediale Alternativen wie heutzutage), auch das Publikum ging mit großer Leidenschaft in die Vorstellungen, jeder redete darüber. Auch zu den Gagen und anderen Details werde ich hier fündig.
Nach einer holprigen Fahrt durch Tschechien und wenig Schlaf auf meiner schmalen harten Liege, reißt der Zugbegleiter morgens um 6 Uhr die Abteiltür auf und serviert mir Pfefferminztee (die trockenen weißen Brötchen verschmähe ich). So gestärkt steige ich um 7 Uhr aus dem Zug. WIEN – hier bin ich.
Eine halbe Stunde später komme ich in die Wohnung (sehr zentral an der Karlskirche – nur ein U-Bahn-Tunnel entfernt von der Wiener Staatsoper) meines Airbnb-Gastgebers Christoph – ein Gamben-Spieler (das ist ein historisches Streichinstrument), wie mir das Plakat an der Zimmertür verrät – wie könnte es in dieser Klassik-Hochburg anders sein. In der gemütlichen Altbauwohnung lege ich mich erst mal ein Stündchen ins Bett und starte dann in den Besichtigungstag.
Ich spaziere zuerst zur Staatsoper – diese ausladende Diva, die sich halb versunken als „Erstes Haus am Ring“ seit 1869 breit macht (so dass sie nie komplett auf ein Foto passt), zeigt mir ihr altehrwürdiges Gesicht. Ich war in früheren Jahren schon einige Male hier und habe ein wohliges Wiedersehensgefühl. Im Opernshop unter den Arcaden stöbere ich nach Büchern über die Geschichte des Hause – blättere durch einige und mache Fotos.
Das Highlight des Tages ist der Liederabend von Jonas Kaufmann. Zweieinhalb Stunden vor Beginn stelle ich mich im kalten Wind in die Schlange für die Stehplätze. Dieses Ritual zieht seit 150 Jahren die echten Opernliebhaber an, die hier bei jedem Wetter stundenlang ausharren, um für wenig Geld (3 Euro, es gibt über 500 Stehplätze, in Corona-Zeiten nur noch 156 mit Stuhl für je 10 Euro und auf Abstand) auf den klangschönsten Plätzen ihren Lieblingssängern und Stücken zu lauschen.
Mein standhafter Einsatz wird belohnt und nach einer Stunde halte ich glücklich meine Karte in der Hand (sogar im Parkett).
Das Konzert beginnt um 20 Uhr und ist wunderbar gefühlvoll und nuanciert. Jonas Kaufmann präsentiert mit seinem langjährigen Klavierbegleiter Helmut Deutsch eine Highlights-Zusammenstellung des Liedrepertoires mit teilweise volksliedhaften Stücken (Ännchen von Tharau, Der Mai ist gekommen) und Klassikern des Kunstlieds von Schubert, Schumann, Mozart, Mahler, Strauss und vielen mehr. Eines meiner Favoriten: Die Forelle von Schubert.
Am Mittwoch besuche ich das Ernst-Fuchs-Museum in der Otto-Wagner-Villa (um 1900 im Jugendstil erbaut) – dort trafen sich die Künstler und gesellschaftliche Elite zum Fin de siècle.
In den 1970er Jahren kaufte und sanierte der Maler Ernst Fuchs die Villa. Hier hängen nun seine farbenprächtigen Gemälde im Stil des phantastischen Realismus und jede Menge weiblicher Formen wie im Barock – ganz schön kunstvoller Kitsch. Für meine Roman-Recherche passt diese Epoche zwar nicht, aber vielleicht kann ich mal eine Party-Szene in solch einer Villa spielen lassen.
Nach einer Pause in meiner Wohnung – mit Lachsbrötchen und Kuchen – zieht es mich in den nahen Stadtpark. Mein Weg führt mich vorbei am Konzerthaus und am Musikverein (mit seinem berühmten Goldenen Saal) – keine andere Stadt der Welt hat so viele Konzertsäle und bietet täglich ein solch hochkarätiges Defilee an klassischer Musik.
Im Park wandele ich auf idyllischen Wegen zwischen Wiesen und Schwanenteich, an jeder Ecke ragt eine Statue eines Komponisten auf: Johann Strauss in Gold mit Geige, Franz Lehár und Franz Schubert sind nur einige davon. Die Meister der Klassik und ihr musikalisches Vermächtnis sind allgegenwärtig.
Am Abend mache ich einen Spaziergang in den Prunkstraßen (heutzutage Fußgängerzone) zwischen Hofburg, Staatsoper und Stephansdom und lasse den Wiener Flair auf mich wirken. Am Kohlmarkt und am Graben haben sich alle namenhaften Designer der Welt niedergelassen, hier kann man sein Geld verprassen – wie schon zu Sisis Zeiten. Damit die Touristen auch auf ihre Kosten kommen, stehen die Fiaker im Pferdeduft am Steffl bereit und bei Manner kann man sich mit Haselnussschnitten und Mozartkugeln eindecken.
Meine Recherche will nicht so recht in Fahrt kommen. Eigentlich möchte ich die Lehár-Villa besichtigen – Franz Lehár war der Operettenkönig dieser Zeit und hat Richard Tauber die schönsten Melodien in den Mund komponiert, zum Beispiel: „Gern hab ich die Frau’n geküsst“ aus Paganini, „Hab ein blaues Himmelbett“ und natürlich den Welterfolg (in zig Sprachen übersetzt) „Dein ist mein ganzes Herz“ aus Das Land des Lächelns. Aber eine alte Dame am Telefon sagt mir, dass es wegen Corona zurzeit keine Führungen gibt.
Persönlicher Einsatz ist angesagt, also überwinde ich meine Bittsteller-Scheu und frage zunächst an der Opernkassa und dann beim Pförtner im Bühneneingang der Wiener Staatsoper nach einer Kontaktmöglichkeit zu deren Archiv. Dass ich mich persönlich im Archiv umschaue, komme leider nicht infrage. Die Oper sei zurzeit eine Festung und wegen Corona komme niemand rein, außer man arbeitet dort. Aber der Pförtner schreibt mir Namen und Telefonnummer der Leiterin des Musikarchivs auf. Am Donnerstagmorgen rufe ich dort an. Nein, sie habe nur Noten, aber Herr Dr. Lang sei wohl der richtige Ansprechpartner. Mit ihm spreche ich, er ist freundlich und gibt mir seine E-Mail-Adresse, ich solle mein Anliegen schriftlich an ihn richten. Das mache ich zu Hause sofort. Bin gespannt, ob ich von dort Informationen erhalte – ich hätte gerne eine Übersicht, in welchen Bereichen Frauen an der Staatsoper in den 1920ern gearbeitet haben und ob z.B. die Gage für eine Sopranistin deutlich niedriger war, als für einen Tenor etc.
Aber es muss in Wien doch irgendeine Ausstellung, ein Museum geben, das mir Eindrücke über die Lebensart der gesuchten Epoche gibt. Ich versuche es im Theatermuseum (auf der Webseite brüsten sie sich mit Künstler-Memorabilia). Nein, zurzeit haben sie nur eine Puppenausstellung.
Ich versuche es beim Wiener Stadtmuseum – dort rühmen sie sich mit einer großen biografischen Theater-Sammlung. Nein, diese sei leider zurzeit geschlossen. Das Wien-Museum hat auch über die Stadt verteilt Komponisten-Wohnungen im Angebot (u.a. Mozart, Beethoven, Schubert), aber die lebten und wirkten alle vor der Epoche meines Interesses.
Es ist wie verhext. Wien zeigt mir seine prunkvollen Fassaden und Schmuckstücke aus der k.u.k. Monarchie, man kann Musiker in historischen Kostümen Mozart musizieren hören, im Fiaker ins Kaiserreich zurück traben, weiße Pferde spanische Hofreitschule vortänzeln sehen und im Kaffeehaus Sachertorte mit Melange genießen. Das Kaiserreich lebt ewig – die 1920er Jahre scheinen im Nebel des Vergessens verschwunden zu sein.
Ich will meine bittere Enttäuschung mit einem Griesstrudel im Griensteidl (im 19. Jahrhundert ein Künstlertreffpunkt) an der Hofburg versüßen – aber ein Blick hinter die Fassade offenbart: Das Traditionshaus ist seit meinem letzten Besuch von einem Damenmodeladen verdrängt worden.
Was ist nur los? Wo finde ich Zeugnisse dieser Ära nach dem Zusammenbruch der Monarchie, die bewegten Jahre der ersten österreichischen Republik, der Inflation und Armut, dem Mut zum Neuanfang, dem Nachhängen der Monarchie? Welche Rolle haben die Künstler in dieser Zeit gespielt? Ich komme ihnen einfach nicht auf die Spur. Wien ist eine keusche Kurtisane, die sich hinter dem schönen Schleier der Vergangenheit verbirgt. Wien ist eine kapriziöse Künstlerin, die ihr Maske niemals absetzt.
Am Donnerstag unternehme ich einen weiteren Versuch: Das Haus der Geschichte Österreichs ab 1918 in der Hofburg scheint eine gute Anlaufstelle zu sein. Diese gigantische Anlage mit Heldenplatz hat schon Hitler 1938 mit winkenden Massen willkommen geheißen.
Heute steht dort immer noch ein mächtiges Reiterstandbild von Prinz Eugen (Feldherr für die Habsburger in den großen Türkenkriegen um 1700) – völlig unreflektiert und in heroischer Verklärung. Ich bin gespannt, wie Österreich in dem Museum mit seiner eigenen Geschichte umgeht. Die Ausstellung setzt sich durchaus selbstkritisch mit der Verstrickung in den Nationalsozialismus auseinander. Es gibt einen Zeitstrahl nach Dekaden von 1918 bis in die Gegenwart mit Werbeplaketen und viel Text zum Lesen. Ich fühle mich ziemlich überfordert angesichts dieser Informationsflut.
Im Bereich der 1920er Jahre schaue ich mich genauer um. Geldscheine und „Betteln und Hausieren Verboten“-Schilder weisen auf die Inflation und Armut hin. Über Künstler entdecke ich fast nichts. Für Frauen war die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg schwierig, denn sie wurden aus ihren Berufen von den heimkehrenden Soldaten oft wieder hinausgedrängt und endeten vielfach in der Prostitution. Der Körperkult mit Turnvereinen kam auf – auch Frauen machten Sport und sollten ihre Körper fit halten – hier kündigte sich schon nationalsozialistische Ideologie an.
Die Ausstellung endet mit Conchita Wurst als Barbiepuppe – sie ist offenbar die Symbolfigur Österreichs für Toleranz und Überwindung von Geschlechterklischees. Wie diese glamouröse Bartträgerin wohl in den 1920er Jahren von den Wiener aufgenommen worden wäre?
Resigniert sehe ich ein, dass ich dem Künstler-Wien der 1920er vor Ort nicht auf die Spur kommen kann. Damit ich diese Epoche wiederauferstehen lassen kann, muss ich wohl doch in Büchern suchen.
Am diesem Donnerstag tröstet mich aber ein anderes Highlight: Heute wird „Don Carlos“ an der Wiener Staatsoper gegeben. Pünktlich um 15 Uhr stehe ich wieder in der Stehplatzschlange (und sehe einige bekannte Gesichter vom Dienstag wieder), dieses Mal sind 30 Leute vor mir, nach eineinhalb Stunden habe ich meine Karte ergattert – dieses Mal in der Galerie.
Um 17:30 Uhr geht es los – über fünf Stunden Verdi in der französischen Urfassung – die Verdi nach der misslungenen Premiere in Paris 1867 gründlich überarbeitete. 1884 feierte Don Carlo dann seinen Durchbruch – auf vier Akte gekürzt und mit italienischem Libretto – das gesungen viel emotionaler klingt. Hier ein schönes Beispiel des berühmten Freundschafts- und Freiheitsschwurs zwischen Carlos und Rodrigue – wie auch in Schillers literarischen Vorlage.
Es könnte so schön sein, wenn der Regisseur sich nicht nach Kräften bemüht hätte, die Figuren ins Lächerliche zu ziehen. Immerhin begeistert mich wieder Jonas Kaufmann in der Titelpartie.
In den zwei langen Pausen flaniere ich in den Prunkräumen (an jeder Tür stehen Desinfektionsspender und es herrscht natürlich Maskenpflicht und Abstandsgebot).
Während der Aufführung bekomme ich wieder einen Eindruck vom heiligen Ernst, mit dem die Zuschauerinnen und Zuschauer dem Opernereignis beiwohnen – es ist wie ein kirchliches Ritual, das Publikum kennt die Regeln und muss sie einhalten – unter dem wachsamen Blick der Platzpolizei (wehe jemand verlässt seinen zugewiesenen Sitzplatz, dann wird man sofort verhaftet und abgeführt – auch schon vor Corona) und der gegenseitigen Erziehung zu bester Manier – da gehört das „SSSSCHT“-Zischen noch zu den dezenten Methoden. Meine Sitznachbarin (immer mit einem freien Stuhl dazwischen) fängt einen Kleinkrieg mit dem alten Ehepaar hinter sich an, die Greisin hinten will auf den tiefen Untertitelmonitor an der Armstütze der Despotin schauen, die es ihr verbietet („Ihr Monitor ist da oben!“) und extra ihren Schal darüber hängt. Im Dunkeln kommt es zu Handgreiflichkeiten zwischen den älteren Damen.
In der Pause holt die Bevormundete eine Platzanweiserin zur Hilfe, die hilflos über ihre Maske schaut und sagt, sie könne die Despotin nicht zur Raison bringen. Dann kommt ein durchsetzungsstärkerer Kollege hinzu und fordert die Regelpocherin auf, ihre Maske aufzusetzen (sie trägt nur einen Schal halb über dem Mund), sie weigert sich zickig, hinterfragt die Regel („Jetzt geht das Licht aus, da darf ich meine Maske absetzen“), der Platzanweiser will seine Macht ausspielen und fordert sie auf, ihre Karte vorzuzeigen (reine Schikane), die Frau weigert sich, jetzt kommt der Dirigent herein, gleich beginnt die Vorstellung. Um einen Tumult zu vermeiden, zieht sich der Platzanweiser zerknirscht zurück. Die dreiste Dame hat gewonnen und sich erfolgreich mit jedem in ihrer Umgebung angelegt. Sie ruft laut „Buh“ und „Bravo“ in die Stille des vollen Saals (mit 1.250 Plätzen ausverkauft) – was eigentlich gute Tradition und Vorrecht der Kenner auf den Stehplätzen ist, aber in Corona-Zeiten eigentlich unterlassen werden soll, wegen Spucke und Aerosol. „Die will immer auffallen“, flüstert das alte Ehepaar von hinten und wir tauschen vielsagende Blicke aus, es hat sich eine stumme Allianz aus den Beobachtern und Verlierern des Schlagabtauschs gebildet.
Am Freitag steht meine Abreise um 22 Uhr mit dem Nachzug an. Den Tag will ich mir eigentlich mit einem Museumsbesuch (Kunst aus dem 20. Jahrhundert) verschönern, aber schon morgens beim Haarewaschen überkommt mich ein Schwindelanfall – von den heftigen Schmerzen im rechten Arm, die mich seit gestern morgen plagen. Es scheint eine Muskelüberlastung vom Koffertragen auf der Hinreise zu sein. Jede Bewegung des Arms jagt mir Schmerzen wie Messerstiche durch den Körper. Wie soll ich so den Tag herum bringen geschweige denn meinen Koffer zum Bahnhof schleppen und die lange Nacht auf der harten Liege ausharren? Ich beschließe, in die Notaufnahme eines Krankenhauses zu gehen in der Hoffnung auf eine Schmerz stillende Spritze. Vorher bringe ich mühevoll (mit Links) meinen Koffer in ein Schließfach am Hauptbahnhof und schlängele mich gegen 13 Uhr zwischen Notarztwagen zum Aufnahmeraum vom Rudolfstift. Die diensthabende Ärztin bietet mir ein Schmerzmittel per Tropf an. Okay. Ich werde in ein Vorzimmer mit Liegestühlen geführt, eine armer Tropf mit Rückenschmerzen hängt schon am Tropf. Ich dann auch. Nach 10 Minuten bekomme ich einen Kreislaufkollaps – ich alarmiere meinen Sitznachbarn, der nach Hilfe ruft, bevor ich wegkippe. Viele Stimmen um mich herum, ich werden im Stuhl flach gelegt und unter Aufregung („Kollaps“-Rufe) in den Notfallraum gefahren, dort sprechen sie über mich und ich soll auch etwas sagen (ob ich heute schon gegessen und getrunken habe), schaffe das aber nicht. Man misst meinen Blutdruck (extrem niedrig) und nimmt eine Blutprobe. Ich bekomme einen zweiten Tropf mit Flüssigkeit. Nach einigen langen Minuten bin ich wieder ansprechbar.
Den Nachmittag verbringe ich im Ruheraum des Hospitals auf meinem Liegestuhl und zittere vor mich hin. Eine Krankenschwester sieht ab und zu freundlich nach mir – hier sprechen alle Ärzte und Pfleger mit osteuropäischem Akzent – das ist auch so eine Wiener Besonderheit und kommt noch aus der k.u.k.-Zeit – es gibt viele Zuwanderer aus Tschechien, Ungarn und Rumänien. Um 17 Uhr fühle ich mich einigermaßen stabil, obwohl ich mich vor der langen Rückfahrt und meinem unzuverlässigen Körper fürchte. Ich bekomme Entlassungspapiere und einige Paracetamol-Tabletten (das Mittel aus dem Tropf zeigt keine durchschlagende schmerzstillende Wirkung) und auf meinen Wunsch auch Beruhigungstabletten, damit ich die Bahnfahrt durchstehen. Noch 5 Stunden bis zur Zugabfahrt und ich bin heimatlos.
Mir ist nach Natur und frischer Luft, also fahre ich in den Prater – den ich noch nicht kenne. Vom Riesenrad aus spaziere ich im Park umher und entlang der Hauptallee, die mit über 4 Kilometern die längste Kastanienallee Europas ist. Ich sammle zwei Kastanien als Souvenirs auf.
Hier färbt sich das Laub der Bäume schon herbstlich bunt, aber mir summt „Im Prater blüh’n wieder die Bäume“ im Ohr herum – eine Wiener Schnulze von Robert Stolz – der mir sogar als steinernes Monument begegnet.
Ich denke darüber nach, wie es wohl für eine Dirigentin sein muss, wenn sie ihren Arm nicht mehr bewegen kann. Dann kann sie ihren Beruf nicht mehr ausüben. Ich muss meine Schmerzen einfach als lebensnahe Recherche betrachten.
Als es dunkel wird, fahre ich zurück ins Zentrum und kehre in meinem Lieblingskaffeehaus Diglas ein (das es zum Glück noch gibt) und lasse mir dort eine warme Kürbissuppe schmecken. Der Kellner hat einen durchsichtigen Plastik-Mundschutz und fragt mich beim Bezahlen: „Brauchen Sie ein Lächeln?“ – was ich gerne annehme, aber eigentlich hat er „Rechnung“ gesagt.
Gegen 21 Uhr mache ich mich auf den Weg zum Hauptbahnhof, gehe zum Abschied noch an meiner alten Bekannten der Staatsoper vorbei, die monumental und divenhaft ihr Geheimnis hütet. Um 22 Uhr fährt der Zug aus. Ich habe ein Abteil für mich alleine und falle auf der schmalen Liege sogar für einige Stunden in einen tiefen Schlaf – dank der Medikamente.
Mein rechter Arm hat sich immer noch nicht erholt und ich tippe diese Zeilen unter Schmerzen – aber das gehört zum Autorinnen-Leben wohl dazu.
Das war also meine Recherchereise – mit vielen Eindrücken und auch einer Portion Drama.