Jonas Kaufmann begeistert in der Waldbühne mit ansteckender Lebensfreude und lässt das Publikum im Operetten-Walzer mittanzen

An diesem heißen Juliabend scheint halb Berlin in die Waldbühne gepilgert zu sein. Das imposante steinerne Rund ist gut gefüllt und die Klassikbegeisterten auf den Rängen werden bei über 30 Grad in der Sonne gebrutzelt, nur im Parkett direkt vor der Bühne hat sich schon ein wohltuender Schatten gebildet. Der Eisverkäufer bietet seine begehrte Erfrischung mit tenorhaftem Gesang an, was ihm Lacher und Applaus einbringt.

Das Publikum ist in bester Laune und freut sich auf den Startenor Jonas Kaufmann, der pünktlich um 19 Uhr die große Bühne betritt und das Publikum in den nächsten 3 Stunden in die schwelgerische Welt der italienischen Oper, der Wiener Operette und der Berliner Schlager aus den 1920er Jahren entführt.

Gleich zu Beginn begrüßt der sympathische Sänger sein Waldbühnen-Publikum und bittet um Nachsicht, dass er ob der Hitze auf Frack und Fliege verzichtet hat. Stattdessen trägt er einen dunkelblauen Anzug und ein weißes Hemd, das am Hals locker geöffnet ist, damit er gut Luft zum Singen bekommt.

Zum Einstieg bietet Kaufmann den „Prolog“ aus der Oper „Pagliacci“ von Ruggero Leoncavallo dar, eine Arie, die eigentlich für einen Bariton geschrieben ist, dem Tenor aber so gut gefällt, dass er sie trotzdem mit einer kenntnisreichen Interpretation zum Besten gibt. Gleich darauf versichert er jedoch, keinen Stimmfachwechsel in die Tiefe im Sinn zu haben und für den Rest des Abends in den Gefilden des Tenor-Repertoires zu bleiben.

Als nächstes präsentiert Kaufmann das von Enrico Caruso berühmt gemachte Verismo-Stück „Vesti la giubba“ aus derselben Oper, in der er das schmerzliche Seelenleben dieser Figur eindringlich hörbar macht.

Sodann kündigt der Star des Abends galant seine Gesangspartnerin, die amerikanische Sopranistin Rachel Willis-Sørensen an, die mit der Arie der Mimi aus „La Bohème“ den romantischen Teil des Konzerts einleitet. Im darauffolgenden Duett „O soave fanciulla“ können Tenor und Sopran ihre Stimmen in träumerischer Harmonie verschmelzen lassen. Ihr kräftiger und klarer Sopran mischt sich hier bestens mit dem samtigen Timbre des Tenors. Bei den Schlusstönen, die wie üblich als Abschied des Paares aus dem Bühnenhintergrund vernommen werden, kann man die Stimmen einmal ohne Mikrofonverstärkung hören, was eigentlich viel schöner und unmittelbarer klingt, als über die Boxen. Aber bei einer Open-Air-Veranstaltung gehört die technische Verstärkung eben dazu.

Dann bringt Kaufmann die bei Arien-Abenden oft stiefmütterlich behandelte Tenorarie „Non piangere Liu“ aus Puccinis „Turandot“ zu Gehör, die er mit weichen Tönen und viel Stimmschmelz gestaltet.

Als nächstes entführt das Rundfunk-Sinfonieorchester RSB unter der Leitung von Jochen Rieder (der trotz Hitze tapfer einen Frack trägt) in einem Intermezzo in die leidenschaftlichen Welten von Puccinis „Manon Lescaut“. Das Orchester spielt klangschön und harmonisch.

Vor der Pause nimmt sich Kaufmann noch das aufflammende Plädoyer („Improvviso“) des Dichters Andrea Chénier aus der gleichnamigen Oper vor, das ihn stimmlich sehr fordert und durch das er klug navigiert.

Nach der Pause geht es mit der „leichten Muse“ in Gestalt der Operette weiter. Kaufmann hat sein weißes Hemd gegen ein dunkelblaues getauscht und trägt nun sportliche Sneaker mit hellen Sohlen.

„Mit leichtem Schuhwerk wird der Weg einfacher“, scherzt der Tenor, der jedes Mal zwischen seinen Auftritten einen ziemlich langen Weg rund um das halbe Orchester in seine Erholungsstation hinter einem Sichtschutz zurücklegen muss – was er nun umso beschwingter tut.

Leicht und süffig wird nun auch Kaufmanns Gesang. Die bekannten Stücke von Operettenkönig Franz Lehár wie „Freunde, das leben ist lebenswert“ und das Duett „Wiener Blut“ mit Willis-Sørensen versprühen jede Menge Lebensfreude und Koketterie.

Der Tenor ist bestens gelaunt und zu Späßen aufgelegt. Bei der instrumentalen Polka „Leichtes Blut“ (Johann Strauß, Sohn) tanzt er verspielt hinter seinen Wandschirm. Auch durch seine spontanen Zwischenmoderationen wirkt der Klassikstar sehr nahbar und gewinnt alle Sympathien des Publikums.

Voll ausspielen kann der Tenor – der mit seinen fast 54 Jahren und leicht ergrauter Lockenpracht immer noch verdammt gut aussieht – seine stimmlichen Verführungskünste und seinen unvergleichlichen Charme in „Treu sein, das liegt mir nicht“ (aus der Operette „Eine Nacht in Venedig“), im Film-Chanson „Ich küsse Ihre Hand, Madame“ von Ralph Erwin und im gesäuselten „Hab ein blaues Himmelbett“ aus der Operette „Frasquita“ von Lehár.

Die Sopranistin sorgt mit dem Vilja-Lied aus der „Lustigen Witwe“ für gute Stimmung und im anschließenden Duett „Lippen schweigen“ wird es wieder romantisch. Man spürt, dass Kaufmann und Willis-Sørensen sich gut leiden können und auf der Bühne schon ein eingespieltes Team sind.

Inzwischen ist die Sonne hinter den Baumwipfeln verschwunden, von Sternenhimmel zwar noch keine Spur, doch das sommerliche Abendrot sorgt für eine magische Atmosphäre in der Waldbühne. Zur Naturkulisse gehören auch die majestätisch vorüberziehenden Reiher am Himmel, die manchmal ihre Ruf unter den Orchesterklang mischen, und leider auch unzählige Insekten, die nach Sonnenuntergang durch die Luft schwirren.

Beim Schmachtfetzen „Dein ist mein ganzes Herz“ (aus „Das Land des Lächelns“) muss der Tenor eine lästige Mücke zwischen seinen Händen erschlagen, die drohte, ihm in den Mund zu fliegen, was für einige Lacher sorgt.

Tenor und Sopran beglücken ihr Publikum mit sechs Zugaben, darunter natürlich das Tenorglanzstück „Nessun Dorma“ von Puccini, was wie zu erwarten mit frenetischem Jubel und Standing Ovations belohnt wird.

Beim den weiteren Operetten-Zugaben wird mitgesungen und geschunkelt. Nicht nur Kaufmann und Willis-Sørensen fegen in einen ausgelassenen Wiener Walzer über die Bühne, sondern auch einige Paare aus dem Publikum schwingen in dem Kreis um das Parkett herum das Tanzbein.

Zum Abschied singen Tenor und Sopran noch gemeinsam die nostalgische Canzone „Non ti scordar di me“- Vergiss mich nicht (von De Curtis). Ja, es war wirklich ein unvergesslicher Konzertabend. Während die Menschenmassen mit einem seligen Lächeln auf den Lippen den Ausgängen entgegenströmen, summen sie vor sich hin. Die sehnsuchtsvollen bis amüsanten Melodien und Eindrücke werden sicher noch eine Weile wohlig nachhallen.

Im blauen Himmelbett mit Jonas Kaufmann beim Rheingau Musik Festival in Wiesbaden

Wiesbaden, 21.08.2022

An diesem idyllischen Sommerabend erwartete die Klassikbegeisterten eines der Highlights des diesjährigen Rheingau Musik Festivals: Startenor Jonas Kaufmann entführte das Publikum im Kurpark Wiesbaden in die schwelgerische Welt der italienischen Oper und der Wiener Operette.

Schöne Atmosphäre für die nahezu ausverkaufte Gala im Kurpark Wiesbaden. Foto: UG
Jonas Kaufmann. Foto: Ansgar Klostermann

Zum Einstieg überraschte Kaufmann, festlich im Frack gekleidet, mit dem „Prolog“ aus der Oper von „Pagliacci“ von Ruggero Leoncavallo, einer Arie, die eigentlich für einen Bariton geschrieben ist. Trotz seines baritonalen Timbres fehlte es dem Tenor hier in den tiefen Lagen an Fülle und er konnte seine stimmlichen Stärken in diesem Stück nicht zur Geltung bringen, was auch mit ziemlich verhaltenem Applaus quittiert wurde. Im Anschluss trat der Star des Abends ans Mikrofon und entschuldigt sich fast schon für seinen Ausflug ins Bariton-Repertoire, aber diese Arie begeistere ihn so sehr, dass er nicht habe widerstehen können, sie auf der Bühne darzubieten. Kaufmann versprach aber, für den Rest des Abends in den Gefilden des Tenor-Repertoires zu bleiben.

Als nächstes präsentierte er das von Enrico Caruso berühmt gemachte Verismo-Stück „Vesti la giubba“ aus der selben Oper. Es ist der verzweifelte Seelenschrei des Clowns Canio, der sich das Lachen aufschminken muss und dem gleichzeitig das Herz vor Liebeskummer bricht. Kaufmann hat diese Rolle bereits bei den Salzburger Osterfestspielen 2015 sehr überzeugend und herzzerreißend dargeboten und hätte sie im Juli diesen Jahres wieder gespielt und zwar am Royal Opera House in London, wenn er nicht wegen seiner zweiten Corona-Erkrankung hätte absagen müssen. Am heutigen Abend scheint Kaufmann das alles nachholen zu wollen. Allerdings ist diese emotionale Tour de Force am Anfang des Programms sowohl für den Sänger, als auch für das Publikum ein ziemlicher Kaltstart und die Wucht des Gefühls mag nicht so recht entstehen, weil der Kontext der Oper fehlt.

Foto: Ansgar Klostermann

Kaufmann setzte seine Moderation fort und kündigte die nächsten Stücke von Giacomo Puccini an. Dass der Tenor gleichzeitig die Rolle des Conferenciers übernahm, schien eine spontane Entscheidung des Sängers zu sein, jedenfalls sprach er frei und las keinen vorformulierten Text ab. Beim ersten Open-Air-Sommerkonzert in diesem Format im Kloster Benediktbeuern hatte es geregnet und das Publikum war zudem nicht mit Programmzetteln ausgestattete gewesen, so dass Kaufmann auf seine flexible und freundliche Art dort die Moderation übernommen und den Abend ein Stück weit gerettet hatte. Anscheinend hat er gefallen an dieser Rolle gefunden, denn obwohl heute Programmzettel vorhanden waren, führte er mit seinen spontanen, die Stücke und Komponisten musikalisch einordnenden Ansagen durch den ganzen Abend, was ihn sehr nahbar machte – und auch fehlbar zeigte, denn hier und da verhaspelte und verbesserte er sich und merkte selbst an, dass die Moderation „nicht sein eigentlicher Beruf“ sei. Seine persönliche Ansprache ans Publikum brachte Kaufmann viele Sympathiepunkte ein, aber vielleicht nahm sie ihm auch ein wenig die Aura des unerreichbaren Stars.

Kaufmann kündigte galant seine Gesangspartnerin, die amerikanische Sopranistin Rachel Willis-Sørensen an, die mit der Arie der Mimi aus „La Bohème“ den romantischen Teil des Konzerts einleitete. Im darauffolgenden Duett „O soave fanciulla“ konnten Tenor und Sopran ihre Stimmen in träumerischer Harmonie verschmelzen lassen. Ihr kräftiger und klarer Sopran mischte sich hier bestens mit dem samtigen Timbre des Tenors.

Foto: Ansgar Klostermann

Dann brachte Kaufmann die stiefmütterlich behandelte Tenorarie „Non piangere Liu“ aus Puccinis „Turandot“ zu Gehör, die er mit weichen Tönen und viel Stimmschmelz gestaltete. Zuvor stellte er dem Publikum jedoch augenzwinkernd – „darüber können wir später noch verhandeln“ – in Aussicht, dass sie später noch in den Genuss von DER Tenorarie aus dieser Oper kommen würden, deren Namen nicht genannt werden muss.

Vor der Pause gab Kaufmann noch das aufflammende Plädoyer des Dichters Andrea Chénier aus der gleichnamigen Oper zum besten, was ihm einiges an Stimmkraft abverlangte.

Nach der Pause – Kaufmann trug nun ein dunkelblaues Jacket auf weißem Hemd und leger offenstehendem Kragen – ging es mit der „leichten Muse“ in Gestalt der Operette weiter, die, so Kaufmann, alles andere als leicht zu singen sei, die Kunst liege darin, es leicht und süffig klingen zu lassen. Dass er diese Kunst beherrscht, zeigte der Tenor dann in den bekannten Stücken von Operettenkönig Franz Lehár wie „Dein ist mein ganzes Herz“ und im Duett „Wiener Blut“ mit Willis-Sørensen, die zusammen einen kleinen Walzer auf die Bühne legten. Inzwischen war auch das Publikum ganz in der Atmosphäre der Sommernacht unter freiem Himmel angekommen und applaudierte begeistert.

Foto: Ansgar Klostermann

Seine stimmlichen Verführungskünste und seinen unvergleichlichen Charme konnte Kaufmann in „Hab ein blaues Himmelbett“ aus der Operette „Frasquita“ von Lehár und im Chanson „Ich küsse Ihre Hand, Madame“ von Ralph Erwin ausspielen. In seinem balsamischen Gesang kommen die große Farbpalette seiner Stimme sowie seine Gestaltungskunst bestens zur Geltung, die der vielseitige Tenor auch als gefragter Liedsänger immer wieder vorführt.

Das WDR Funkhausorchester unter der Leitung von Jochen Rieder, den Kaufmann sich seit vielen Jahren für seine Konzert-Tourneen an die Seite holt, in der Orchestermuschel begleitete den Startenor gefällig und schwungvoll.

Kaufmann beglückte sein Publikum mit vier Zugaben, darunter natürlich das Tenorglanzstück „Nessun Dorma“ von Puccini, was wie zu erwarten mit frenetischem Jubel und Standing Ovations belohnt wurde. Ausklingen ließ der Tenor den Abend mit dem sehnsuchtsvollen „Wien, du Stadt meiner Träume“ von Rudolf Sieczynskis.

So strömten die Massen am Ende dieses Abends mit einem Lächeln auf dem Gesicht dem Ausgang entgegen und kaum jemand merkte, dass der Star-Tenor selbst sich unter ihnen einen Weg von der Bühne zurück in seine Garderobe im Kurhaus bahnen musste.

 

Ausblick auf weitere Klassik-Highlights

Jonas Kaufmann wird im nächsten Mai in die Region zurückkehren und am 21.05.2023 ein Konzert in der Alten Oper Frankfurt geben. Wer nicht solange warten möchte, kann den Tenor in den nächsten Monaten an den Opernhäusern München, Zürich und Wien im italienischen Repertoire erleben. Auf seiner Homepage kann man seinen vollen Terminplan einsehen.

Das Titelbild stammt ebenfalls vom Fotografen Ansgar Klostermann, zur Verfügung gestellt vom Rheingau Musik Festival.

Foto: UG

Die Bühne brennt – endlich wieder Oper

Nach monatelanger Darbenszeit ist es am Samstag endlich soweit: Ich gehe in die Oper!

Aber ganz so wie früher ist es noch nicht, denn es gilt, einige Vorkehrungen zu treffen. So wandere ich gegen Mittag in sengender Hitze  zum Tierpark und lass mir in einer miefigen Turnhalle in der Nase herumstochern und halte 20 Minuten später ein Stück Papier mit dem Zauberwort: „NEGATIV“ in der Hand.

Am frühen Abend also ziehe ich einen Rock an, der bestens zu meiner Knallbonbon-Feierstimmung passt und mache mich auf den Weg. Die Staatsoper unter den Linden begrüßt mich sanft rosé. Beim Einlass jedoch überkommt mich das typische Flughafen-Unwohlgefühl bei der Kontrolle – ich weiß, ich habe alle Papiere und nichts zu verbergen, aber irgendwie fürchte ich trotzdem, ich würde der Kontrolle nicht standhalten. Der Scanner tut sich auch schwer mit meinem Ticket, aber nach fünf Versuchen und Hellerschalten meines Displays darf ich dann doch in die heiligen Hallen eintreten.

Nun sitze ich auf einem dicken Polster im lückenhaft (gemäß Vorschrift) besetzten Auditorium und die Vorfreude steigt.

Ich sehe „La Fanciulla del West“ von Puccini (1910). Der Büffel auf der Bühne soll das Publikum offenbar schon auf den Wilden Westen einstimmen. Das Orchester spielt sich ein und ich entdecke schon Antonio Pappano am Pult – er ist einer meiner Lieblingsdirigenten, den ich schon öfters im Royal Opera House in London erlebt habe, wo er der musikalische Direktor ist.

Ich lasse meinen Blick über die Ränge gleiten und sehe mich gleich mit einer Gewissensfrage konfrontiert: Fast alle Besucher haben ihre Masken abgelegt, sobald sie auf ihrem Platz sitzen. In der E-Mail des Hauses mit Corona-Hinweisen stand doch, man müsse seine Maske auch während der Vorstellung tragen. Aber schließlich ist jeder hier im Saal negativ getestet, wir sitzen alle auf Abstand, die hochleistungsfähige Belüftung ist im Einsatz, die Inzidenzwerte ganz weit unten – in einem Akt bedächtiger Sorglosigkeit streife ich also auch meine Maske ab und hänge sie über den Ellbogen wie es inzwischen zur selbstverständlichen Mode geworden ist.

Das Saallicht geht aus und die bombastischen Klänge von Puccini erfüllen den Raum. Wie wunderbar diese Musik klingt, wie plastisch der Klang im Raum, ich kann  jede Instrumentengruppe einzeln hören – damit kann kein Livestream und keine Opern-DVD mithalten – auf die ich in den letzten Monaten so oft zurückgreifen musste.

Der kräftige Männerchor lässt das raue Leben der Goldgräber in Kalifornien  lebendig werden und schließlich erscheint unter bebendem Blechbläsereinsatz  das „goldene Mädchen“ Minni auf dem Dach ihrer Schenke. Die Sopranistin Anja Kampe hat eine klangschöne und volle Stimme und verkörpert das herzliche Mädchen sympathisch und glaubhaft. Der Tenor Marcelo Álvares überzeugt mich leider nicht mit seiner „tenorigen“ Darstellung: Seine schauspielerischen Mittel sind sehr begrenzt, er schreitet treuherzig umher und konzentriert sich auf seine Glanztöne, für die er immer in die Knie geht, um sie dann mit ganzem Körpereinsatz in die Höhe zu stemmen – ich sehe einen Tenor bei der Arbeit und keinen charmanten Ganoven Dick Johnson. Immerhin kommen dann im zweiten und dritten Akt die kurzen Arien, auf die ich die ganze Zeit warte („Ch’ella mi creda“ – hier in meiner Lieblingsinterpretation von Jonas Kaufmann).

Leider kann diese Oper musikalisch und von der Dramatik nicht mithalten mit den drei besten Opern von Puccini (La Bohème, Tosca, Madama Butterfly). Aber ich will nicht meckern, sondern freue mich an dem unvergleichlichen Live-Erlebnis.

Auf der Bühne wird im Finale alles abgefeuert, was das Theaterarsenal zu bieten hat: Gewehrsalven, Rauch und sogar zwei Männer in Flammen taumeln über die Bühne – wenn es jetzt noch eine Klopperei geben würde und jemand eine Flasche über den Schädel zerschlagen bekäme, wäre ich wirklich bei den Karl-May-Festspielen angekommen. Die vordergründige Inszenierung stammt übrigens von Lydia Steier.

Das Publikum applaudiert anhaltend voller Dankbarkeit. Ich gehe beschwingt von dem Musikgenuss über die Museumsinsel zur S-Bahn – hier sind Wiesen und Biergärten in dieser warmen Sommernacht voller Menschen, die einem Massenerlebnis anderer Art frönen. So wie diese Leute über ein Tor jubeln, so jubiliere ich, endlich wieder diese Magie im Opernhaus spüren zu dürfen.

Und wie das bei Süchtigen so ist, brauche ich natürlich sofort den nächsten Trip. Am Montag durchlaufe ich erneut das obligatorische Testprogramm und finde mich wieder in meinem zweiten Wohnzimmer ein.

Dieses Mal höre ich Kompositionen von Peter I. Tschaikowsky: Zuerst das KLAVIERKONZERT NR. 2  G-DUR OP. 44 – hier gefallen mir die Soli vom Cello am besten, das Piano ist nicht mein Lieblingsinstrument – und nach der Pause eine sehr lebhafte ORCHESTERSUITE NR. 3 G-DUR OP. 55. Antonio Pappano dirigiert wieder mit viele Esprit und Leidenschaft und ich lasse mich von der wunderbaren Musik in Phantasiewelten tragen.

Zum Abschied bekomme ich eine Goldmünze und einen Aufkleber von meinem Gastgeber überreicht.

Da fühle ich mich doch gleich eingeladen, am Samstag wiederzukommen – zum konzertanten „Freischütz“ von Carl Maria von Weber. Ich nehme alles mit, was ich vor der Sommerpause kriegen kann.

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