Passen Autorin und Roman zusammen? Fiktive Autorenbiografien auf dem Buchmarkt

Muss ich mich als Autorin neu erfinden, um auf dem Buchmarkt erfolgreich zu sein?

Ja, lautet die Antwort aus meinen Erfahrungen der jüngsten Zeit. Mit meinen zwei historischen Romanen habe ich es trotz Agenturvertrag bisher nicht geschafft, einen Verlag zu finden.

Liegt es vielleicht an meinen Stoffen, die nicht in die aktuellen Trends und Schubladen der Verlage passen? Dieser Frage gehe ich im nächsten Beitrag noch nach.

Aber es gibt noch einen weiteren Faktor, der mir bei der Vorstellung meiner Manuskripte an literarische Agenturen vor Augen geführt worden ist: Die Figur des Autors/der Autorin muss perfekt zum Roman passen!

Diese erschreckende Erkenntnis habe ich kürzlich gemacht, als ich meiner (Ex-) Agentin (einer großen Mainstream-Agentur) drei meiner neuen Romanprojekt gepitched habe.

Eine Romanidee soll in der DDR der 60er Jahre spielen. Die Antwort der Agentin lautete:

Aus unterschiedlichen Gesprächen mit Lektoren zu DDR-Themen kam immer wieder ein ganz wichtiger Punkt zu Sprache: Man erwartet dafür vom Autor eine hohe „Mitsprache“-Kompetenz und Glaubwürdigkeit. Oder anders ausgedrückt: Man mag sich von einem West-Autor nicht die DDR erklären lassen. Ich weiß tatsächlich aus dem familiären Umfeld, dass dies nach wie vor  ein sehr heikles Thema zwischen ehemaligen Ostdeutschen und Westdeutschen ist.  Erst neulich fragte ein Verlag bei mir an, ob eine Autorin sich vorstellen könne, eine OST-WEST – Geschichte zu schreiben, und es wurde betont, es müsste eine Autorin mit Ost-Vergangenheit sein (aus vorgenannten Gründen). Daher würde ich zu diesem Projekt nicht raten können.“

Auch eine weitere Roman-Idee (drei Schwestern auf einem pfälzischen Landgestüt um 1814 im Stil von Jane Austen / Regency Romance) wurde von ihr mit dieser Begründung abgeschmettert:

Zu den Pferden: das ist sehr austauschbar, es fehlt das Besondere wie z.B. aus eigener Familiengeschichte inspiriert, weil Sie selbst leidenschaftliche Pferdenärrin sind. Es wirkt zu konstruiert, weil es nicht aus der eigenen Lebenswelt entspringt. Natürlich kann man sich an ein Pferdthema wagen, auch wenn man selbst keine Reiterin ist, aber dann sollte es dennoch etwas Neues / Besonderes sein.“

Wie ihr euch denken könnt, haben mich diese herben Absagen erst mal ziemlich herunter gezogen und meine Schreiblust und meinen Optimismus für einige Tage völlig abgetötet. Plötzlich habe ich bei jeder Idee für einen Roman sofort rote Stopp-Schilder vor mir gesehen und diese Stimme in meinem Kopf gehört: „Darüber darfst du nicht schreiben! Damit kennst du dich nicht aus!“

Solche Schreibverbote sind natürlich für jede Kreativität fatal und ich habe mich nach Kräften bemüht, diese Gedanken wieder aus meinem Kopf zu verbannen.

Trotzdem möchte ich dieser Hypothese von Identität zwischen Autor*in und Stoff näher auf den Grund gehen – zumal sie in der Agentur- und Verlagswelt offenbar gültig ist und gegen anstrebende Schriftsteller*innen verwendet wird.

Muss ich „kennen“ was ich schreibe? Muss ich „sein“ was ich schreibe?

Auf mein eigenes Beispiel bezogen: Muss ich selbst leidenschaftliche Reiterin sein, wenn ich über ein Pferdegestüt schreiben will? Muss ich aus der DDR stammen, wenn ich einen Roman über die DDR schreiben will?

Wenn ich diese Hypothese mal an einem Extrembeispiel versuche: Muss ich als Thriller-Autor*in selbst jemanden ermorden und mich im Zerstückeln von Leichen geübt haben? Das ist natürlich absurd.

Was die Sach- und Fachkenntnis angeht, so bin ich davon überzeugt, dass mir als Autorin hier die Mittel der Recherche zur Verfügung stehen. So habe ich mir z.B. für meinen Antarktis-Roman ein präzises Wissen darüber angeeignet, wie der Walfang in den 1930er Jahren abgelaufen ist und wie die Wale von den Fängern zerlegt wurden. Auch hinsichtlich anderer Berufsbilder, Länder und Sitten, die ich nicht aus eigener Erfahrung kenne, kann ich mir das Wissen durch Recherche und Interviews aneigenen (so habe ich z.B. drei junge Dirigentinnen für meinen Wien-Roman interviewt).

Schwieriger wird es jedoch mit meiner eigenen kulturellen Identität. Ich bin in Westdeutschland aufgewachsen. Das kann ich nicht ändern oder abstreifen.

Immer wieder wird dieses Thema in der Literaturwelt heiß diskutiert unter dem Begriff der kulturellen Aneignung. Problematisch scheint es zu sein, wenn eine Autorin aus einem „dominanten“ Kulturkreis die Geschichte einer „unterdrückten“ Kultur bzw. einer Minderheit schreibt. Hier wird (oft von eben dieser Minderheit) der Ruf laut, ihre Kultur werde von der anderen vereinnahmt und verfälscht dargestellt. Es besteht der Verdacht des Überstülpens fremder Werte über eine Minderheit im Stile eines literarischer Kolonialismus.

Vor nicht allzu langer Zeit ist um den Roman „American Dirt“ von Jeanine Cummins eine solche Debatte („cultural appropriation“) entbrannt: Darf eine Amerikanerin die Geschichte einer Mexikanerin schreiben?

Im Beitrag vom Deutschlandfunk „Kulturelle Aneignung und die Frage, wer zu hören ist“ vom 21.04.2020 heißt es:

Bei der Debatte um kulturelle Aneignung gehe es um Dominanz, sagt die Literaturkritikerin. „Es geht nicht darum, dass jede Autorin und jeder Autor nur über das schreiben darf, was er erlebt hat oder darum, dass Literatur nur etwas Allgemeingültiges erzählen darf. Es geht in der Debatte darum, welche Stimmen in dem Feld dominant sind. Und das sind immer noch weiße Autorinnen und Autoren. Sie sind diejenigen, die die Publikationsmöglichkeit bekommen.“

Ich kann dieser Argumentation insofern folgen, als dass es sicher wünschenswert wäre, wenn Autor*innen nicht-weißer Herkunft eine gleiche Repräsentanz auf dem Buchmarkt bekommen würden, wie weiße Autor*innen.

Aber ich halte es für fatal, einer Schriftstellerin vorzuschreiben, sie dürfe in ihren Romanen nur in ihrer eigenen kulturellen Herkunftswelt bleiben. Ich denke, dass gerade die Auseinandersetzung mit dem „Fremden“ für jedes Individuum (schreibend oder lesend) eine Erweiterung des eigenen Horizontes ist, Vorurteile abbaut und Toleranz und Verständnis für andersartige Kulturen und Menschen ermöglicht.

Umgekehrt würde ein Rückzug und eine Beschränkung auf den eigenen bekannten Kulturraum eine gedankliche Verarmung bedeuten – es führt zu Engstirnigkeit und Intoleranz.

Was ich allerdings auch feststellen kann, wenn ich mir die populäre Frauenliteratur ansehe: Es gibt ein breites Segment von „exotischen“ Frauenromanen, die alle nach demselben Strickmuster funktionieren: Eine weiße Frau aus Europa (meist Engländerin) kommt in ein „exotisches“ Land (Indien, Orient, Afrika, Australien, Neuseeland) und führt dort irgendeine Plantage (meistens wird Tee angebaut, manchmal auch Schafe gezüchtet). Die weiße Frau lernt die dortigen Bräuche kennen (nicht selten pflegen die „Eingeborenen“ menschenunwürdige Rituale, die aus Sicht der moralisch überlegenen Christen abgeschafft gehören) und findet Erfüllung mit einem heißblütigen „exotischen“ (= erotischen) Mann – der natürlich auch ein Klischee aus einer Frauenphantasie ist.

Fast immer spielen diese Romane auch in der Kolonialzeit, geben also die historischen Begebenheiten insofern korrekt wieder – aber dabei voller Klischees und aus westlicher Sicht. Hierbei wird das koloniale Verständnis in romantisierter und unkritischer Weise fortgeschrieben und für moderne Frauen in den Köpfen neu verankert.

Ich verspüre keinerlei Bedürfnis, selbst einen Roman nach diesem fragwürdigen und überholten Muster zu schreiben.

Aber passt dieses Tabu der kulturellen Aneignung auch auf die deutsch-deutsche Geschichte?

Laut der Agentin: ja. Gehen viele Menschen 30 Jahre nach der Wiedervereinigung immer noch von einem Über-Unter-Ordnungsverhältnis zwischen West- und Ostdeutschland aus? Offenbar wird auf dem Buchmarkt davon ausgegangen.

Ich finde das erschreckend und weigere mich, das zu akzeptieren. Wenn ich also irgendwann meinen Ost-Berlin-Roman schreibe, dann werde ich dafür genauso gewissenhaft recherchieren, wie für jeden anderen historischen Roman – ob Schauplatz und Figuren sich in Westdeutschland, Ostdeutschland oder sonst wo auf der Welt befinden, macht für mich keinen Unterschied!

Ich bin sogar der Meinung, dass gerade die Distanz zu der Gesellschaft und Kultur den Blick schärfen kann, als Beobachterin sehe und verstehe ich mehr, als wenn ich selbst mitten drinnen bin.

Sehr gute Beispiele hierfür sind der Roman „Was vom Tage übrig blieb“ („The Remains of the Day“) von Kazuo Ishiguro und der Film „Sense and Sensibility“ vom Chinesen Ang Lee – beides Werke, die ich sehr beeindruckend und gelungen finde.

Im Fall von Kazuo Ishiguro hat seine japanische Herkunft sicherlich dazu beigetragen, dass er die britische Gesellschaft mit besonders scharfen Augen und feinem Gespür für deren Eigenheiten wahrgenommen hat. In beiden Fällen gehören Autor und Regisseur nicht (originär) dem englischen Kulturkreis an und haben gerade deswegen ein hoch sensibles Porträt dieser Gesellschaft gezeichnet.

Trotz all meiner Überlegungen: Der Fakt bleibt, dass der Buchmarkt (angefangen bei den Literaturagent*innen) diese ideale Autor*innenfigur verlangt.

Was ist also der Ausweg aus diesem Dilemma, wenn ich über den Tellerrand blicken möchte und mich beim Schreiben nicht auf meine eigene kleine Erfahrungswelt beschränken will?

Ich schreiben nicht das Buch, das zu mir passt, sondern die Autorenbiografie, die zu meinem Roman passt!

So machen es die Verlage scheinbar ohnehin: Anders kann ich mir nicht vorstellen, dass die Vita der Autor*innen immer so haargenau auf den Romaninhalt passt. Da hat jemand genau das passende Hobby oder Beruf, lebt oder bereist ständig den Schauplatz – zu viele Zufälle, um wirklich wahr zu sein.

Manche Verlage gehen sogar soweit, die Figur des Autors komplett zu erfinden. Das fängt schon beim Pseudonym an: Ein klangvoller Name muss her, der Assoziationen weckt, die zum jeweiligen Buchgenre passen.

Aber manche gehen noch weiter. So wie die Lektorin und Verlegerin Daniela Thiele, die für ihren Erfolgsroman „Das Lächeln der Frauen“ den Autor Nicolas Barreau in einem genialen Marketing-Schachzug erfand. Eine Biografie (junger Franzose) passt zum Setting von Paris, dazu noch ein attraktives Bild aus einer Datenbank: Fertig gebacken ist ein Autor, der Frauenherzen höher schlagen lässt.

Ich weiß noch, dass mir dieser Roman gut gefallen hat und ich gedacht habe: Erstaunlich, dass so ein junger Mann solch ein Frauenversteher ist. Mir kam die Sache damals schon nicht ganz koscher vor, ich hatte den Verdacht, dass ein Deutscher sich als Franzose ausgibt, weil im Roman die totale Touristen-Sicht auf Paris serviert wurde. Dass aber in Wahrheit eine Frau dahinter steckt, hätte ich mir damals nicht träumen lassen.

Das Täuschungsmanöver blieb nicht unentdeckt, was aber dem Erfolg von „Nicolas Barreau“ keinen Abbruch getan hat – seine Romane verkaufen sich nach wie vor bestens.

Was lerne ich also aus alledem: Ich werde auch in Zukunft darüber schreiben, was mich anzieht und fasziniert und wofür ich brenne. Egal, ob meine Herkunft und Biografie zum Stoff und den Figuren passt. Ich muss mich als Autorin einfach gleich mit neu erfinden.

Schlussakkord für meinen Wien-Roman

Was hat meine Romanheldin Johanna/Jo als Dirigent in Wien in den letzten 64 Tagen nicht alles gekämpft, gelitten, geliebt und gewonnen? Dienstagnacht habe ich ihr letztes Kapitel geschrieben und gestern noch meinen Merkzettel abgearbeitet und punktuell inhaltliche Ergänzungen gemacht. Heute ist Jos Geschichte zu Ende erzählt – mein Herzensprojekt aus der Opernwelt in der ersten Fassung abgeschlossen.

Meine Anspannung will aber partout nicht von mir abfallen. Zur Belohnung für meine täglichen Anstrengungen seit dem 1. November 2020 wollte ich mir am Mittwoch ein Stück Sachertorte gönnen – mein Lieblingskuchen, den auch Jo in Wien gerne verspeist hat – aber in keiner der 4 Bäckereien in Karlshorst war ein solches aufzutreiben. Also musste ich mit Käsekuchen vom Blech Vorlieb nehmen – eine klebrig-süße Enttäuschung. Entweder muss ich mir selbst eine Sachertorte backen oder schnellstmöglich wieder nach Wien reisen (aber erst, wenn in der Oper wieder der Vorhang aufgeht).

Traum
Wirklichkeit

In meinem Roman „Die Dirigentin im Herrenrock“ gibt es natürlich nicht nur Kaffeehausidylle im Dreivierteltakt, sondern im Mittelpunkt steht eine starke Frau, die für ihren Traum kämpft, Dirigentin in dieser Männerwelt der klassischen Musik zu werden, entgegen aller gesellschaftlichen Konventionen – dabei kommt ihr die Liebe in den Weg und es entwickelt sich ganz große Gefühlsoper.

Das Schicksal meiner Heldin hat im Laufe des Schreibens einen wahren Wellenritt vollführt – immer, wenn sie gerade einen kleinen Höhepunkt erklommen hat, habe ich ihr einen Stock in die Speichen geworfen, sie ist gestürzt und musste sich geschunden wieder aufrappeln und von neuem den Berg hinauf klettern.

Ouvertüre:

Eine begabte junge Frau aus Norddeutschland, so groß wie ein Leuchtturm, zieht an einem grauen Novembertag im Jahr 1925 in die alte Kaiserstadt ein, um als Dirigentin am berühmtesten Opernhaus Europas Fuß zu fassen. Dort wird sie jedoch als Frau rigoros abgewiesen. Entschlossen schnürt sie sich die Brust ein und versucht es am nächsten Tag erneut – als Mann verkleidet – und wird prompt als Dirigent (auf einer Assistentenstellen) engagiert.

Erster Akt:

Ihre Karriere nimmt Fahrt auf und sie begeistert die kritischen Musiker und das Wiener Publikum mit ihrem Können, aber gleichzeitig verliebt sie sich in ihren brasilianischen Dirigenten-Kollegen Martin Breuer, der verheiratet ist. Obwohl alles dagegen spricht, stürzt sie sich in eine leidenschaftliche Liebesnacht mit ihm. Am nächsten Tag lässt sie ihn abblitzten und will ihre weiblichen Neigungen zukünftig besser unterdrücken. Als sie wenige Wochen später erschrocken feststellt, dass sie schwanger ist, fangen ihre Probleme erst richtig an. Sie ist hin und her gerissen, ob sie das Kind bekommen soll. Sie bekommt den gesellschaftlichen Druck zu spüren, als ihre Vermieterin sie zu einer „Engelmacherin“ schickt und in Aussicht stellt, sie hinauszuwerfen, falls sie als ledige Frau ihr Kind zur Welt bringen sollte. Jo entscheidet sich trotzdem für ihr Baby und sucht händeringend nach einem Ausweg, der nur darin bestehen kann, passende Pflegeeltern für ihr Kind zu finden.

In dieser Phase wird sie von der Salonièren Eugenie Schwarzwald, der Schulleiterin einer Mädchen-Schule, eingeladen und lernt in deren Salon einige selbständige Frauen kennen, u.a. Anna Freud, die sich als Psychoanalytikerin mühsam aus dem großen Schatten ihres Vaters zu befreien versucht.

Dritter und Vierter Akt:

Es folgen viele dramatische Szenen, etwa, wenn Jo beim Dirigieren beinahe eine Fehlgeburt erleidet, wenn sie kurz darauf Martin endlich gesteht, dass sie sein Kind erwartet, die Niederkunft und ihr schmerzlicher Abschied von ihrer neugeborenen Tochter.

Fünfter Akt:

Zum Ende ihrer Reise muss Jo sich aus dem Korsett, in das sie sie selbst eingeschnürt hat, wieder befreien – sie muss sich ihre Weiblichkeit und Mutterschaft zurückerobern. Im Finale zieht sie aus, um ihr Kind und den Mann, den sie liebt, zurück zu gewinnen.

Ich muss gestehen, dass ich zu Beginn meiner Schreibreise ein anderes Ende vor Augen hatte – ein realistisches, in dem meiner Heldin vieles versagt bleibt, in der sie sich zwischen Karriere und privatem Glück entscheiden muss. Aber nachdem ich sie über 400 Seiten und fast 4 Handlungsjahre lang habe leiden lassen, habe ich ihr schließlich doch ein fast vollständiges Happy End gegönnt. Ich hoffe, meinen Leser*innen danken mir das.

Wiener Opernstars aus den 1920er Jahren und Zeitkolorit

Die Geschichte von Jo ist natürlich eingebettet in viele historische Details – insbesondere das Aufführungsgeschehen an der Wiener Oper habe ich gründlich recherchiert. Viele meiner Lieblingsopern lasse ich vorkommen und ihre Inhalte spiegeln oft das dramatische Geschehen auf der Erzählebene. Die schillernden Gesangsstars dieser Zeit wie Lotte Lehmann, Maria Jeritza, Jan Kiepura und Richard Tauber haben alle ihren Auftritt, natürlich auch Richard Strauss, der als Komponist und Operndirektor diese Zeit geprägt hat.

Maria Jeritza
Lotte Lehmann und Jan Kiepura

Als beruflicher Gegenspieler fungiert Jos herrischer Kollege Robert Heger, ein historischer Dirigent aus dieser Zeit (der sich später den Nazis zugewendet hat). In Liebesdingen ist die Ehefrau von Martin ihre Antagonistin. Zusätzliche Hürden im Streben meiner Heldin nach Glück und Erfolg stellen die gesellschaftlichen Konventionen und Vorurteile gegenüber Frauen dar.

Meine Erzählung in die 1920er Jahre einzufügen, erschien mir nicht allzu schwer. Aber die Details haben sich hin und wieder als Stolpersteine bemerkbar gemacht: So habe ich im Schreibeifer moderne Dinge wie Kühlschränke und Türklingeln mit Gegensprechanlage eingebaut. Zum Glück habe ich mir dann selbst auf die Finger geklopft und schnell Wikipedia konsultiert. Hinsichtlich der historischen Korrektheit gibt es also einiges zu beachten. Ich hoffe, ich habe keine Klopper mehr drinnen.

Sehr genüsslich habe ich Wienerische Redensarten eingebaut. Dafür werde ich ein kleines Wörterbuch in den Anhang des Romans stellen. Jetzt werde ich mich mal ins Gwand haun und einen Mulatschak zur Fertigstellung meines Werks feiern. Baba.

Meine Schreibnächte

Was meinen Schreibprozess angeht, so bin ich bei meinem vierten Roman wirklich gut in Schwung gekommen und hatte keine Durchhänger, wie im letzten Jahr bei meinem Antarktis-Roman. Ich habe das Gefühl, mich in diesem Stoff richtig freigeschrieben zu haben – was zum einen daran liegt, dass ich für die Opernwelt total brenne und es mir beim Schreiben immense Freude bereitet hat, darin zu schwelgen. Aber auch die Freiheit bei der Figurenentwicklung hat mich beflügelt, denn bei Johanna und Martin habe ich mich nicht durch eine historische Vorlage einengen lassen.

Ich habe einen guten Arbeitsrhythmus gefunden: Eine Abendschicht von 1 ½ bis 2 Stunden im Zeitfenster von 19 bis 22 Uhr und eine Nachtschicht von nochmals 1 ½ bis 2 Stunden in der Zeit zwischen 23 und 2 Uhr nachts. Ich kann am besten arbeiten, wenn es draußen dunkel ist, die Welt in Schlaf versinkt und mich nichts mehr ablenken kann – am Tage muss ich Einkäufe erledigen, will das Tageslicht zum Spazierengehen nutzen usw.

Die späten Morgenstunden sind quasi mein Feierabend, in denen ich mich ausruhe. Ab Nachmittag fängt mein Motor dann so langsam zu laufen an – ich bereite das Geschriebene vom Vorabend gedanklich nach und überlege, wie es in der Nacht weitergehen soll. So komme ich auf ein reines Schreibpensum von 3 bis 4 Stunden pro Tag. Die Erholungsphasen am Tag und zwischen den beiden Schreibeinheiten sind notwendig, damit sich die Inspiration und Schaffenskraft wieder aufladen kann.

Da ich irgendwie ein Statistik-Typ bin, trage ich meine Uhrzeiten und den Worcount täglich in eine Tabelle ein.

 

Hier mein Roman-Werk in Zahlen:

114.200 Wörter

484 Normseiten

64 Schreibtage (vom 1. November 2020 bis 13. Januar 2021, mit einer Woche Weihnachtsferien)

1.800 Wörter pro Tag im Durchschnitt

3.006 Rekord-Wörteranzahl an einem Tag

Wie geht es nun weiter? Heute ist Ruhetag. Ab Freitag beginne ich mit dem Korrekturlesen des Manuskripts. Wenn ich damit durch bin (Ende Januar) entlasse ich mein Werk mit viel Spannung an meine Testleserinnen (zwei habe ich schon, wer sonst noch gerne möchte, bitte bei mir melden) und freue mich auf deren Feedback. Aufbauend darauf geht es dann in die nächste Überarbeitungsrunde. Im Frühling schwimme ich also glücklich weiter auf der Opern-Welle.

Tag 22 in NaNoWriMo – mein erstes Mal – eine Sexszene schreiben

Am Sonntag ist es soweit – meine Dirigentin Jo und ihr brasilianischer Kollege haben ihren ersten Kuss gelandet und nun geht es ins Bett. Aber wie schreibe ich eine Sexszene. Das ist absolut neu für mich. Ich weiß, dass ich als Leserin solche Szenen eigentlich ganz gerne habe, aber unterschiedlich gut gelungen finde. Bei Stephen King zum Beispiel geht es immer ziemlich deftig zu, in Frauenromanen romantisch bis kitschig, die „Kamera“ hat meistens einen rosa-rot Filter drauf und faded aus, wenn es konkret wird.

Ich suche im Internet nach Artikel „wie schreibe ich eine gute Sexszene“ und stoße zunächst auf die Seite der britischen Zeitung „The Guardian“: Deren Literaturkritiker vergeben jedes Jahr „Britain’s most dreaded literary prize“ – nämlich einen Preis für die schlechteste Sexszene („outstandingly awful sexual scene“) in der Literatur. Unter Schriftstellern ist das Schreiben einer erotischen Szene nämlich nicht ohne Grund gefürchtet, denn das ist die Kür mit Dreifach-Axel auf sehr glattem Eis und man kann böse auf dem Hintern landen. In diesem Artikel sind auch wunderbare Zitate von preiswürdig peinlichen Beschreibungen zu finden – sehr lesenswert.

Damit wächst mein Respekt vor meiner Aufgabe umso mehr. Aber ich will es trotzdem wagen. Zum Glück finde ich noch einen hilfreichen Ratgeber-Artikel. Hier lerne ich, dass es bei einer gut geschriebenen Sexszene auf drei Dinge ankommt: 1. wechselseitiges Agieren, 2. die Balance physischer und psychischer Darstellung und 3. das Vokabular.

In meiner Bettszene beschreibe ich das Geschehen aus der weiblichen Sicht von Jo, aber ich werde nun darauf achten, auch den Mann im Wechsel vorkommen zu lassen. Wie bei einem Tanz: beide Partner vollführen ihre Bewegungen in Reaktion aufeinander, es gibt ein harmonisches Zusammenspiel der Körper. Nicht einer ist der Alleintänzer und der andere die passive Puppe.

Meinen besonderen Fokus werde ich auch auf die emotionale und psychologische Komponente legen und die Liebesnacht in den dramaturgischen Bogen der Handlung einbetten (ins Himmelbett natürlich). Als Leserin soll man nachempfinden können, warum Jo ihre eigenen Regeln bricht (Karriere statt Beziehung), warum sie sich hinreißen lässt, was es für sie bedeutet, ihre Männerverkleidung abzulegen und wieder Frau sein zu dürfen und schließlich warum sie im Nachklang wieder einen Riegel vorschiebt und das Liebespaar nicht ins Happy End einläuft, sondern die Komplikationen und die Gefühlsturbulenzen jetzt erst so richtig losgehen.

Dann stellt sich die Frage des Vokabulars. Es gibt ja eine erstaunliche Bandbreite von Ausdrücken für die weiblichen und männlichen Körperteile, von vulgär, derb über medizinisch, neutral, verniedlichend und metaphorisch. Entscheidend für mich ist, dass ich die Sprache von meiner Protagonistin finde, denn aus ihrer Sicht ist die Szene schließlich beschrieben – also müssen die Vokabeln zu ihrem sonstigen Sprachduktus passen. Ich kann also auf einige musikalische Vergleiche und Metaphern zurückgreifen, aber abgesehen davon hat sie eine nordische Klarheit in ihrer Sprache und nennt die Dinge eher sachlich beim Namen. Also wird es die „Paradiespforte“ in meinem Text nicht geben, auch will hier kein „purpur behelmten Krieger ins gelobte Land“ – wie Bodo Wartke in seinem genialen Lied „Mir fehlen die Worte“ zu diesem Thema vorschlägt.

Ich mache mich also mit Feuereifer ans Schreiben meiner Sexszene – und es macht mir unglaublich viel Spaß. Ich schreibe zwar etwas langsamer als sonst, weil ich öfters über die beste Wortwahl nachdenke – wie zum Beispiel soll sich das Brusthaar von Martin für Jo anfühlen? „flauschig“? Hm. Das klingt nach einem Küken. Ich hole mir Hilfe im Synonym-Wörterbuch und entscheide mich für „wollig“. Insgesamt geht es mir erstaunlich leicht von der Hand.

Nun ist das Werk vollbracht – die Szene dauert ganze 6 Seiten an – und ich bin zufrieden.

Ich bin sehr gespannt, ob und wie meinen zukünftigen Testleserinnen diese Sexszene gefällt – sicherlich kann man nicht jeden Geschmack treffen. Ihr könnt euch jetzt schon darauf freuen – ab Seite 163 geht es los.

Übrigens liege ich gut im Wordcount, schreibe jeden Abend und jede Nacht meine dreieinhalb Stunden und habe ein kleines Wörterpolster aufgebaut. Ich liege gut in der Zielkurve, nun kommt der lange Endspurt. Bin zuversichtlich.

Halbzeit im NaNoWriMo – Kurzhaarschnitt und Korsett für die Dirigentin

Heute ist Halbzeit und ich habe die magische Marke von 25.000 Wörtern (111 Normseiten) gestern um kurz nach 1 Uhr nachts überschrieben. Ich habe im Schreiben meinen guten Rhythmus gefunden (eine Abendschicht und eine Nachtschicht von je 1 ½ Stunden) und schaffe meinen täglichen Wordcount.

Aber ach, die zweite Woche bringt so manche Sorgen, wie ich die Geschichte entwickeln soll. Die Figuren sind eingeführt, die Szenerie ist aufgebaut – und nun muss der Handlungsbogen nach oben gehen und auf einen dramatischen Höhepunkt zusteuern. Aber worin genau soll dieser bestehen? Es genügt nicht, dass meine Dirigentin immer wieder mit dem fiesen Kapellmeister Heger zusammenprallt und immer wieder knapp einer Entlarvung entkommt – das wiederholt sich zu sehr. Auch meine vielen Anekdoten und Details zu Angewohnheiten der Sänger, kleinen Bühnen-Pannen, Klatsch und Tratsch, die ich aus meinem tollen Opern-Buch habe, und Schwelgen in der Musik bilden zwar eine gute Würze, sind aber nicht handlungstragend.

Am Mittwoch habe ich ein langes Telefonat mit meiner Literaturagentin (meinen Antarktis-Roman hat sie einem Dutzend Verlage auf der Frankfurter Buchmesse vorgestellt, nun heißt es Geduld haben, es liegen noch keine Rückmeldungen vor, auch wenn die Lektoren vor Ort wohl positiv auf ihren Pitch reagiert haben). Sie fragt mich nach meinem neuen Romanprojekt und ich erzähle es ihr. Sie findet zwar das Thema „Frau in einer Männerdomäne“ gut und auch Wien als Sehnsuchtsort, fragt dann aber: „Wo ist der Höhepunkt? Warum und wie scheitert sie?“

Damit hat sie natürlich den Finger in die Wunde gelegt – ich weiß es noch nicht so richtig. Dann äußert sie eine grundsätzliche Skepsis: Aus Erfahrung weiß sie, dass Lektoren beim Thema Musik und Film in Romanen zurückhaltend seien, erst recht klassische Musik wäre nicht massentauglich und hat den Ruf, nur für ein intellektuelles Publikum zu sein. Es könnte also sein, dass ich mein Werk in hunderten Stunden harter Arbeit schreibe und die Verlage es dann nicht mal mit der Kneifzange anfassen. Ich halte dem entgegen, dass ich für meinen Stoff brenne und diesen Roman auf jeden Fall schreiben werde, auch wenn er vielleicht erst mal (oder für immer) in der Schublade landet. Meine Agentin betont, sie wolle mein Feuer auf keinen Fall löschen und ich solle weiterschreiben.

Am Mittwochabend und Donnerstag bin ich dann doch ziemlich deprimiert, raffe mich trotzdem zum Weiterschreiben auf. Ich hoffe einfach, dass sich doch eine Leserschaft für meinen Roman – auch für die von mir so geliebte Opernwelt – begeistern wird und meine geschriebene Stimme nicht vor leeren Rängen verhallt.

Gleichzeitig überlege ich intensiv, wo das Drama für meine Figur herkommen könnte und wie ihre Heldenreise genau aussehen könnte. Dann kommt mir eine Erleuchtung: „Madame Butterfly!“ Danke Puccini! Eine Liebesgeschichte wollte ich sowieso einflechten (inklusive erotischer Liebesszene – bin sehr gespannt, ob ich das hinbekomme, habe so etwas noch nie zu Papier gebracht), aber nun wird sie auch schwanger werden und dann steht sie vor der Entscheidung: Kind oder Karriere. Mehr verrate ich nicht.

Habe nun jedenfalls die dramatische Entwicklung der Geschichte besser vor Augen und habe wieder Freude am Fantasieren und Schreiben.

 

Schon 7 Tage im NaNoWriMo mit meiner Dirigentin in Wien

Es ist eine dunkle und stürmische Nacht im November – und schon wieder sitze ich Nacht für Nacht vor dem blauen Licht meines Bildschirms bis die Glocken zwölf Mal schlagen – zur Geisterstunde werden meine Schreibgeister erst so richtig munter. Seit 7 Tagen stelle ich mich zum 4. Mal in Folge dem NaNoWriMo – der Challenge, jeden Tag mindestens 1.667 Wörter meines Romans zu schreiben, bis ich am 30. November die Ziellinie von 50.000 Wörter überschreibe – mit dieser Länge darf sich ein Text mit gutem Gewissen Roman nennen. Dass an diesem Rohentwurf noch einiges zu überarbeiten und zu schleifen sein wird, versteht sich. Aber das Textfundament ist damit gelegt.

Mein Romanprojekt in diesem Jahr heißt: „Die Dirigentin im Herrenrock“. Meine Protagonistin kommt am 1. November 1925 nach Wien und will sich an der Oper als Assistentin des Kapellmeisters bewerben – aber alleine der Umstand, dass sie eine Frau ist, verwehrt ihr jede Chance. Also verwandelt sie sich in einen Mann und siehe da – sie darf dirigieren. Aber kann und will sie diese Maskerade aufrecht erhalten?

Von meiner Recherche-Reise nach Wien Anfang Oktober habe ich euch schon erzählt. In der Zwischenzeit habe ich drei junge Dirigentinnen via Skype interviewed – die mir auf Anfrage der Dozent des Masterstudiengangs für Orchesterdirigieren an der Universität der Künste Berlin freundlicherweise vermittelt hat. Von diesen beeindruckenden jungen Frauen habe ich einiges über die individuellen und oft verschlungenen Wege einer Musikerin hin zur Dirigentin erfahren und welche Herausforderungen einer Frau in diesem Beruf begegnen und welche Eigenschaften sie mitbringen sollte, um zu reüssieren. Außerdem habe ich einige Dokumentationen angeschaut, z.B. über den Solti-Dirigentenwettbewerb 2015 in Frankfurt und über die großen Rivalen Furtwängler und Toscanini in den 1920er bis 40er Jahre. Zudem habe ich noch 2 hochinteressante Bücher über die Wiener Oper und Frauen in Salon und Kaffeehaus im Wien der 1920er Jahre entdeckt – die ich noch nicht ganz gelesen habe (hatte in den letzten Oktoberwochen eine faule Phase – aber Relaxen vor dem Schreib-Marathon ist wohl auch wichtig), aus denen ich noch viel Honig für meinen Roman saugen kann.

Als ich letzten Sonntagabend (1. November 2020) vor meinem Computer sitze, fühle ich mich trotz meiner Recherche ziemlich unvorbereitet, habe zwar eine Vision und eine Idee davon, was ich ausdrücken möchte, aber von einem Plot oder Storyboard bin ich weit entfernt. Ich weiß noch nicht einmal, wie meine Heldin Johanna (der Name ist mir zugeflogen, auch eine Homage an die junge Dirigentin Joana Mallwitz, die aktuell die Flagge der neuen Generation von Dirigentinnen hoch hält) mit Nachnamen heißen soll und wie ihre Vorgeschichte ist. Eigentlich gehört es zur Vorarbeit eines Romans, für jede Figur eine Biografie zu entwerfen. Aber ich bin keine große Planerin, sondern lasse mich beim Schreiben treiben und die Figuren und ihre Entwicklung unter meinen Händen während des Tippens entstehen. Mir gefällt diese Arbeitsweise, ich gehe auf Entdeckungsreise in meine Fantasie und überrasche mich selbst, anstatt einen vorgefertigten Plan abzuarbeiten.

Tatsächlich habe ich es Tag für Tag geschafft, meine Figuren zu formen und für ihren Weg in der Geschichte in Stellung zu bringen. In den ersten 3 Kapiteln – die ihr zum Abschluss auszugsweise als Leseprobe findet – bin ich also auf Spurensuche nach meiner Hauptfigur gegangen.

Auch einen wichtigen Gegenspieler habe ich gefunden: den (hist.) Dirgenten Robert Heger, dessen Assistentin Johanna wird. Er ist ein ziemlicher Kotzbrocken (später auch ein Nazi), der von der natürlichen Überlegenheit von Männern gegenüber Frauen überzeugt ist und Johanna bei ihrer ersten Bewerbung abblitzen lässt.

Was meinen Schreibprozess angeht, so bin ich (leider) die totale Aufschieberin – den ganzen Tag über mache ich einen weiten Bogen um meine Schreibdokumente – gehe spazieren, schaue meine Lieblings-Opern-Videos an und esse Lebkuchen dazu. Erst wenn es dunkel ist und es keine Ausreden mehr gibt, setze ich mich gegen 19 Uhr an meinen Schreibtisch und lege meine erste Schreib-Session ein. Meistens schaffe ich in 1 – 1 ½ Stunden ca. 900 Wörter. Dann mache ich eine Pause. Gegen 22 oder 23 Uhr raffe ich mich dann zur zweiten Runde auf und komme meist gut in Schwung, so dass ich die fehlenden 800 Wörter bis zur magischen Zwischenlinie schaffe – gegen 1 Uhr nachts mache ich dann aufgekratzt den Computer aus und gehe noch ein Stündchen in den nebelig-verlassenen Straßen meiner Wohnsiedlung spazieren und sage den Füchsen gute Nacht.

Meine Bilanz der ersten 7 Tage: 12.551 Wörter (57 Normseiten). Meine Statistik sieht also zurzeit gut aus – bin voll im Soll. Ich hoffe, das geht so weiter.

 

Wien – eine Diva lässt ihre roten Samthüllen nicht fallen

Mein neues Romanprojekt schimmert schon verheißungsvoll am Horizont – meine Protagonistin soll die Wiener Staatsoper in den 1920er Jahren sein. In ihren prunkvollen Mauern, zwischen Sternenstaub und Bühnenstaub zum vielstimmigen Klang des Orchesters soll sich mein Figurenreigen auffächern. Ein Mikrokosmos der Gesellschaft – von kapriziösen Gesangsstars, über Highsociety in den Logen und Bravo- und Buh-Rufern auf den Stehplätzen bis zu den rauen Bühnenarbeitern auf dem Schnürboden trifft hier alles zusammen für das Gesamtkunstwerk und Erlebnis Oper. Als langjährige Opern-Enthusiastin habe ich richtig Lust auf dieses Thema und kenne mich auch ganz gut aus – aber hauptsächlich in der Gegenwart.

Die Grande Dame unter den Opernhäusern

Ich mache mich also auf eine Recherche-Reise in die Vergangenheit auf der Suche nach einer historischen Künstlerin (zunächst schwebt mir eine Prima Donna vor) – die ich in den Mittelpunkt meiner Geschichte stellen kann. Ich surfe im world wide web, aber die richtig Großen dieser Zeit waren alles Männer.

Eine der Glanzgestalten dieser Zeit war Richard Tauber. Ich bestelle seine Biografie und lese eifrig darin: Er war der deutsche Caruso mit der goldenen Stimme, ein Pop-Star seiner Zeit mit unzähligen Schallplattenaufnahmen. Er pendelte zwischen Wien und Berlin, wurde in den 1930ern als Halbjude von den Nazis vertrieben und starb 1948 verarmt im Exil in London. Er war ein großzügiger Lebemann mit einer schrecklichen 1. Ehefrau (Sopran / Soubrette), die ihn erpresst und ausgenommen hat: Carlotta Vanconti – sie eignet sich definitiv nicht als Heldin für meinen Roman – höchstens als Gegenspielerin.

Mein Lesestoff zur Einstimmung: Tauber Biografie und Opern-Anekdoten

Irgendwie komme ich dann auf Dirigenten – und stelle fest, dass Frauen damals wie heute eine absolute Ausnahmeerscheinung in diesem Metier sind. Der Funke springt über und ich verfolge diese Fährte weiter, finde Anekdoten zu den wenigen Dirigentinnen, die in den 1920er Jahren an der Berliner Philharmonie den Taktstock geschwungen haben. Aber in Wien? Nulla! Die Australierin Simone Young war die erste Frau am Pult der Wiener Staatsoper – dieses Debüt fand im 21. Jahrhundert statt. Ich stoße auf Joana Mallwitz, die bei den Salzburger Festspielen dieses Jahr (2020!) die erste Frau ist, die mit „Così fan tutte“ dort eine Oper dirigieren darf.

Welche Erkenntnis ziehe ich daraus: Eine Dirigentin hätte in den 1920er Jahren niemals das Pult des Staatsopernorchesters betreten dürfen. Ich habe eine Eingebung: Sie müsste sich als Mann verkleiden! Meine Protagonistin ist geboren. Ich knüpfe an die literarische Tradition von Shakespeare an und lasse eine Frau in Männerkleidung Furore machen. Amouröse Verwicklungen inklusive. Da denke ich sofort an einen Mentor (natürlich auch ein Dirigent), in den sie sich verliebt, aber sich nicht als Frau offenbaren darf. Und ein machtgieriger Konkurrent kommt ihrer Maskerade auf die Schliche und erpresst sie. Die Travestie bietet jede Menge Möglichkeiten für Verwicklungen und spannungsreiche Konflikte und sogar Komik.

Nun steht meine Reise nach Wien an – zum einen freue ich mich darauf, endlich wieder in Live-Operngenuss zu kommen – zum anderen bin ich begierig darauf, für meinen Roman zu recherchieren. Ich will das Wien der 1920er Jahre hautnah kennenlernen.

Im Vorfeld schreibe ich eine E-Mail an die Info-Seite der Wiener Staatsoper mit Bitte um Kontakt zum Archivar, da mir viele Fragen zu Frauen an diesem Arbeitsplatz auf den Lippen brennen. Ich erhalte keine Antwort. Auch an ein Wiener Musik-Archiv schreibe ich eine Anfrage, aber meine Mail kommt als unzustellbar zurück. Die digitalen Wege führen ins Leere. Bin gespannt, was ich vor Ort herausfinden kann.

Am Montagabend steige ich in den „Nightjet“ nach Wien (12 Stunden Fahrt). Ich teile das Abteil mit zwei jungen Frauen, mache es mir oben auf dem Bett so gut es geht gemütlich und lese in der Tauber-Biografie. Hier kommt gut zum Ausdruck, welch hohen Stellenwert und gesellschaftliche Anerkennung Opern- und Operettensängern in dieser Zeit hatten (es gab nicht so viele multimediale Alternativen wie heutzutage), auch das Publikum ging mit großer Leidenschaft in die Vorstellungen, jeder redete darüber. Auch zu den Gagen und anderen Details werde ich hier fündig.

Nach einer holprigen Fahrt durch Tschechien und wenig Schlaf auf meiner schmalen harten Liege, reißt der Zugbegleiter morgens um 6 Uhr die Abteiltür auf und serviert mir Pfefferminztee (die trockenen weißen Brötchen verschmähe ich). So gestärkt steige ich um 7 Uhr aus dem Zug. WIEN – hier bin ich.

Palmen vor der Karlskirche

Eine halbe Stunde später komme ich in die Wohnung (sehr zentral an der Karlskirche – nur ein U-Bahn-Tunnel entfernt von der Wiener Staatsoper) meines Airbnb-Gastgebers Christoph – ein Gamben-Spieler (das ist ein historisches Streichinstrument), wie mir das Plakat an der Zimmertür verrät – wie könnte es in dieser Klassik-Hochburg anders sein. In der gemütlichen Altbauwohnung lege ich mich erst mal ein Stündchen ins Bett und starte dann in den Besichtigungstag.

Ich spaziere zuerst zur Staatsoper – diese ausladende Diva, die sich halb versunken als „Erstes Haus am Ring“ seit 1869 breit macht (so dass sie nie komplett auf ein Foto passt), zeigt mir ihr altehrwürdiges Gesicht. Ich war in früheren Jahren schon einige Male hier und habe ein wohliges Wiedersehensgefühl. Im Opernshop unter den Arcaden stöbere ich nach Büchern über die Geschichte des Hause – blättere durch einige und mache Fotos.

Das Highlight des Tages ist der Liederabend von Jonas Kaufmann. Zweieinhalb Stunden vor Beginn stelle ich mich im kalten Wind in die Schlange für die Stehplätze. Dieses Ritual zieht seit 150 Jahren die echten Opernliebhaber an, die hier bei jedem Wetter stundenlang ausharren, um für wenig Geld (3 Euro, es gibt über 500 Stehplätze, in Corona-Zeiten nur noch 156 mit Stuhl für je 10 Euro und auf Abstand) auf den klangschönsten Plätzen ihren Lieblingssängern und Stücken zu lauschen.

Mein standhafter Einsatz wird belohnt und nach einer Stunde halte ich glücklich meine Karte in der Hand (sogar im Parkett).

Das Konzert beginnt um 20 Uhr und ist wunderbar gefühlvoll und nuanciert. Jonas Kaufmann präsentiert mit seinem langjährigen Klavierbegleiter Helmut Deutsch eine Highlights-Zusammenstellung des Liedrepertoires mit teilweise volksliedhaften Stücken (Ännchen von Tharau, Der Mai ist gekommen) und Klassikern des Kunstlieds von Schubert, Schumann, Mozart, Mahler, Strauss und vielen mehr. Eines meiner Favoriten: Die Forelle von Schubert.

Bild von instagram von Jonas Kaufmann

Am Mittwoch besuche ich das Ernst-Fuchs-Museum in der Otto-Wagner-Villa (um 1900 im Jugendstil erbaut) – dort trafen sich die Künstler und gesellschaftliche Elite zum Fin de siècle.

Original Arbeitszimmer von Otto Wagner

In den 1970er Jahren kaufte und sanierte der Maler Ernst Fuchs die Villa. Hier hängen nun seine farbenprächtigen Gemälde im Stil des phantastischen Realismus und jede Menge weiblicher Formen wie im Barock – ganz schön kunstvoller Kitsch. Für meine Roman-Recherche passt diese Epoche zwar nicht, aber vielleicht kann ich mal eine Party-Szene in solch einer Villa spielen lassen.

Sphinx
Opulentes Schlaflager in Muschelform
Farbenprächtige Mosaike am Brunnen

Nach einer Pause in meiner Wohnung – mit Lachsbrötchen und Kuchen – zieht es mich in den nahen Stadtpark. Mein Weg führt mich vorbei am Konzerthaus und am Musikverein (mit seinem berühmten Goldenen Saal) – keine andere Stadt der Welt hat so viele Konzertsäle und bietet täglich ein solch hochkarätiges Defilee an klassischer Musik.

Im Park wandele ich auf idyllischen Wegen zwischen Wiesen und Schwanenteich, an jeder Ecke ragt eine Statue eines Komponisten auf: Johann Strauss in Gold mit Geige, Franz Lehár und Franz Schubert sind nur einige davon. Die Meister der Klassik und ihr musikalisches Vermächtnis sind allgegenwärtig.

Am Abend mache ich einen Spaziergang in den Prunkstraßen (heutzutage Fußgängerzone) zwischen Hofburg, Staatsoper und Stephansdom und lasse den Wiener Flair auf mich wirken. Am Kohlmarkt und am Graben haben sich alle namenhaften Designer der Welt niedergelassen, hier kann man sein Geld verprassen – wie schon zu Sisis Zeiten. Damit die Touristen auch auf ihre Kosten kommen, stehen die Fiaker im Pferdeduft am Steffl bereit und bei Manner kann man sich mit Haselnussschnitten und Mozartkugeln eindecken.

Meine Recherche will nicht so recht in Fahrt kommen. Eigentlich möchte ich die Lehár-Villa besichtigen – Franz Lehár war der Operettenkönig dieser Zeit und hat Richard Tauber die schönsten Melodien in den Mund komponiert, zum Beispiel: „Gern hab ich die Frau’n geküsst“ aus Paganini, „Hab ein blaues Himmelbett“ und natürlich den Welterfolg (in zig Sprachen übersetzt) „Dein ist mein ganzes Herz“ aus Das Land des Lächelns. Aber eine alte Dame am Telefon sagt mir, dass es wegen Corona zurzeit keine Führungen gibt.

Anlieferung von Kulissen – mit Grüßen von Hamlet

Persönlicher Einsatz ist angesagt, also überwinde ich meine Bittsteller-Scheu und frage zunächst an der Opernkassa und dann beim Pförtner im Bühneneingang der Wiener Staatsoper nach einer Kontaktmöglichkeit zu deren Archiv. Dass ich mich persönlich im Archiv umschaue, komme leider nicht infrage. Die Oper sei zurzeit eine Festung und wegen Corona komme niemand rein, außer man arbeitet dort. Aber der Pförtner schreibt mir Namen und Telefonnummer der Leiterin des Musikarchivs auf. Am Donnerstagmorgen rufe ich dort an. Nein, sie habe nur Noten, aber Herr Dr. Lang sei wohl der richtige Ansprechpartner. Mit ihm spreche ich, er ist freundlich und gibt mir seine E-Mail-Adresse, ich solle mein Anliegen schriftlich an ihn richten. Das mache ich zu Hause sofort. Bin gespannt, ob ich von dort Informationen erhalte – ich hätte gerne eine Übersicht, in welchen Bereichen Frauen an der Staatsoper in den 1920ern gearbeitet haben und ob z.B. die Gage für eine Sopranistin deutlich niedriger war, als für einen Tenor etc.

Aber es muss in Wien doch irgendeine Ausstellung, ein Museum geben, das mir Eindrücke über die Lebensart der gesuchten Epoche gibt. Ich versuche es im Theatermuseum (auf der Webseite brüsten sie sich mit Künstler-Memorabilia). Nein, zurzeit haben sie nur eine Puppenausstellung.

Ich versuche es beim Wiener Stadtmuseum – dort rühmen sie sich mit einer großen biografischen Theater-Sammlung. Nein, diese sei leider zurzeit geschlossen. Das Wien-Museum hat auch über die Stadt verteilt Komponisten-Wohnungen im Angebot (u.a. Mozart, Beethoven, Schubert), aber die lebten und wirkten alle vor der Epoche meines Interesses.

Es ist wie verhext. Wien zeigt mir seine prunkvollen Fassaden und Schmuckstücke aus der k.u.k. Monarchie, man kann Musiker in historischen Kostümen Mozart musizieren hören, im Fiaker ins Kaiserreich zurück traben, weiße Pferde spanische Hofreitschule vortänzeln sehen und im Kaffeehaus Sachertorte mit Melange genießen. Das Kaiserreich lebt ewig – die 1920er Jahre scheinen im Nebel des Vergessens verschwunden zu sein.

Ich will meine bittere Enttäuschung mit einem Griesstrudel im Griensteidl (im 19. Jahrhundert ein Künstlertreffpunkt) an der Hofburg versüßen – aber ein Blick hinter die Fassade offenbart: Das Traditionshaus ist seit meinem letzten Besuch von einem Damenmodeladen verdrängt worden.

Was ist nur los? Wo finde ich Zeugnisse dieser Ära nach dem Zusammenbruch der Monarchie, die bewegten Jahre der ersten österreichischen Republik, der Inflation und Armut, dem Mut zum Neuanfang, dem Nachhängen der Monarchie? Welche Rolle haben die Künstler in dieser Zeit gespielt? Ich komme ihnen einfach nicht auf die Spur. Wien ist eine keusche Kurtisane, die sich hinter dem schönen Schleier der Vergangenheit verbirgt. Wien ist eine kapriziöse Künstlerin, die ihr Maske niemals absetzt.

Am Donnerstag unternehme ich einen weiteren Versuch: Das Haus der Geschichte Österreichs ab 1918 in der Hofburg scheint eine gute Anlaufstelle zu sein. Diese gigantische Anlage mit Heldenplatz hat schon Hitler 1938 mit winkenden Massen willkommen geheißen.

Heute steht dort immer noch ein mächtiges Reiterstandbild von Prinz Eugen (Feldherr für die Habsburger in den großen Türkenkriegen um 1700) – völlig unreflektiert und in heroischer Verklärung. Ich bin gespannt, wie Österreich in dem Museum mit seiner eigenen Geschichte umgeht. Die Ausstellung setzt sich durchaus selbstkritisch mit der Verstrickung in den Nationalsozialismus auseinander. Es gibt einen Zeitstrahl nach Dekaden von 1918 bis in die Gegenwart mit Werbeplaketen und viel Text zum Lesen. Ich fühle mich ziemlich überfordert angesichts dieser Informationsflut.

Im Bereich der 1920er Jahre schaue ich mich genauer um. Geldscheine und „Betteln und Hausieren Verboten“-Schilder weisen auf die Inflation und Armut hin. Über Künstler entdecke ich fast nichts. Für Frauen war die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg schwierig, denn sie wurden aus ihren Berufen von den heimkehrenden Soldaten oft wieder hinausgedrängt und endeten vielfach in der Prostitution. Der Körperkult mit Turnvereinen kam auf – auch Frauen machten Sport und sollten ihre Körper fit halten – hier kündigte sich schon nationalsozialistische Ideologie an.

Die Ausstellung endet mit Conchita Wurst als Barbiepuppe – sie ist offenbar die Symbolfigur Österreichs für Toleranz und Überwindung von Geschlechterklischees. Wie diese glamouröse Bartträgerin wohl in den 1920er Jahren von den Wiener aufgenommen worden wäre?

Resigniert sehe ich ein, dass ich dem Künstler-Wien der 1920er vor Ort nicht auf die Spur kommen kann. Damit ich diese Epoche wiederauferstehen lassen kann, muss ich wohl doch in Büchern suchen.

Am diesem Donnerstag tröstet mich aber ein anderes Highlight: Heute wird „Don Carlos“ an der Wiener Staatsoper gegeben. Pünktlich um 15 Uhr stehe ich wieder in der Stehplatzschlange (und sehe einige bekannte Gesichter vom Dienstag wieder), dieses Mal sind 30 Leute vor mir, nach eineinhalb Stunden habe ich meine Karte ergattert – dieses Mal in der Galerie.

Um 17:30 Uhr geht es los – über fünf Stunden Verdi in der französischen Urfassung – die Verdi nach der misslungenen Premiere in Paris 1867 gründlich überarbeitete. 1884 feierte Don Carlo dann seinen Durchbruch – auf vier Akte gekürzt und mit italienischem Libretto – das gesungen viel emotionaler klingt. Hier ein schönes Beispiel des berühmten Freundschafts- und Freiheitsschwurs zwischen Carlos und Rodrigue – wie auch in Schillers literarischen Vorlage.

Bild der Wiener Staatsoper (fb)

Es könnte so schön sein, wenn der Regisseur sich nicht nach Kräften bemüht hätte, die Figuren ins Lächerliche zu ziehen. Immerhin begeistert mich wieder Jonas Kaufmann in der Titelpartie.

In den zwei langen Pausen flaniere ich in den Prunkräumen (an jeder Tür stehen Desinfektionsspender und es herrscht natürlich Maskenpflicht und Abstandsgebot).

Während der Aufführung bekomme ich wieder einen Eindruck vom heiligen Ernst, mit dem die Zuschauerinnen und Zuschauer dem Opernereignis beiwohnen – es ist wie ein kirchliches Ritual, das Publikum kennt die Regeln und muss sie einhalten – unter dem wachsamen Blick der Platzpolizei (wehe jemand verlässt seinen zugewiesenen Sitzplatz, dann wird man sofort verhaftet und abgeführt – auch schon vor Corona) und der gegenseitigen Erziehung zu bester Manier – da gehört das „SSSSCHT“-Zischen noch zu den dezenten Methoden. Meine Sitznachbarin (immer mit einem freien Stuhl dazwischen) fängt einen Kleinkrieg mit dem alten Ehepaar hinter sich an, die Greisin hinten will auf den tiefen Untertitelmonitor an der Armstütze der Despotin schauen, die es ihr verbietet („Ihr Monitor ist da oben!“) und extra ihren Schal darüber hängt. Im Dunkeln kommt es zu Handgreiflichkeiten zwischen den älteren Damen.

In der Pause holt die Bevormundete eine Platzanweiserin zur Hilfe, die hilflos über ihre Maske schaut und sagt, sie könne die Despotin nicht zur Raison bringen. Dann kommt ein durchsetzungsstärkerer Kollege hinzu und fordert die Regelpocherin auf, ihre Maske aufzusetzen (sie trägt nur einen Schal halb über dem Mund), sie weigert sich zickig, hinterfragt die Regel („Jetzt geht das Licht aus, da darf ich meine Maske absetzen“), der Platzanweiser will seine Macht ausspielen und fordert sie auf, ihre Karte vorzuzeigen (reine Schikane), die Frau weigert sich, jetzt kommt der Dirigent herein, gleich beginnt die Vorstellung. Um einen Tumult zu vermeiden, zieht sich der Platzanweiser zerknirscht zurück. Die dreiste Dame hat gewonnen und sich erfolgreich mit jedem in ihrer Umgebung angelegt. Sie ruft laut „Buh“ und „Bravo“ in die Stille des vollen Saals (mit 1.250 Plätzen ausverkauft) – was eigentlich gute Tradition und Vorrecht der Kenner auf den Stehplätzen ist, aber in Corona-Zeiten eigentlich unterlassen werden soll, wegen Spucke und Aerosol. „Die will immer auffallen“, flüstert das alte Ehepaar von hinten und wir tauschen vielsagende Blicke aus, es hat sich eine stumme Allianz aus den Beobachtern und Verlierern des Schlagabtauschs gebildet.

Am Freitag steht meine Abreise um 22 Uhr mit dem Nachzug an. Den Tag will ich mir eigentlich mit einem Museumsbesuch (Kunst aus dem 20. Jahrhundert) verschönern, aber schon morgens beim Haarewaschen überkommt mich ein Schwindelanfall – von den heftigen Schmerzen im rechten Arm, die mich seit gestern morgen plagen. Es scheint eine Muskelüberlastung vom Koffertragen auf der Hinreise zu sein. Jede Bewegung des Arms jagt mir Schmerzen wie Messerstiche durch den Körper. Wie soll ich so den Tag herum bringen geschweige denn meinen Koffer zum Bahnhof schleppen und die lange Nacht auf der harten Liege ausharren? Ich beschließe, in die Notaufnahme eines Krankenhauses zu gehen in der Hoffnung auf eine Schmerz stillende Spritze. Vorher bringe ich mühevoll (mit Links) meinen Koffer in ein Schließfach am Hauptbahnhof und schlängele mich gegen 13 Uhr zwischen Notarztwagen zum Aufnahmeraum vom Rudolfstift. Die diensthabende Ärztin bietet mir ein Schmerzmittel per Tropf an. Okay. Ich werde in ein Vorzimmer mit Liegestühlen geführt, eine armer Tropf mit Rückenschmerzen hängt schon am Tropf. Ich dann auch. Nach 10 Minuten bekomme ich einen Kreislaufkollaps – ich alarmiere meinen Sitznachbarn, der nach Hilfe ruft, bevor ich wegkippe. Viele Stimmen um mich herum, ich werden im Stuhl flach gelegt und unter Aufregung („Kollaps“-Rufe) in den Notfallraum gefahren, dort sprechen sie über mich und ich soll auch etwas sagen (ob ich heute schon gegessen und getrunken habe), schaffe das aber nicht. Man misst meinen Blutdruck (extrem niedrig) und nimmt eine Blutprobe. Ich bekomme einen zweiten Tropf mit Flüssigkeit. Nach einigen langen Minuten bin ich wieder ansprechbar.

Den Nachmittag verbringe ich im Ruheraum des Hospitals auf meinem Liegestuhl und zittere vor mich hin. Eine Krankenschwester sieht ab und zu freundlich nach mir – hier sprechen alle Ärzte und Pfleger mit osteuropäischem Akzent – das ist auch so eine Wiener Besonderheit und kommt noch aus der k.u.k.-Zeit – es gibt viele Zuwanderer aus Tschechien, Ungarn und Rumänien. Um 17 Uhr fühle ich mich einigermaßen stabil, obwohl ich mich vor der langen Rückfahrt und meinem unzuverlässigen Körper fürchte. Ich bekomme Entlassungspapiere und einige Paracetamol-Tabletten (das Mittel aus dem Tropf zeigt keine durchschlagende schmerzstillende Wirkung) und auf meinen Wunsch auch Beruhigungstabletten, damit ich die Bahnfahrt durchstehen. Noch 5 Stunden bis zur Zugabfahrt und ich bin heimatlos.

Mir ist nach Natur und frischer Luft, also fahre ich in den Prater – den ich noch nicht kenne. Vom Riesenrad aus spaziere ich im Park umher und entlang der Hauptallee, die mit über 4 Kilometern die längste Kastanienallee Europas ist. Ich sammle zwei Kastanien als Souvenirs auf.

Hier färbt sich das Laub der Bäume schon herbstlich bunt, aber mir summt „Im Prater blüh’n wieder die Bäume“ im Ohr herum – eine Wiener Schnulze von Robert Stolz – der mir sogar als steinernes Monument begegnet.

Ich denke darüber nach, wie es wohl für eine Dirigentin sein muss, wenn sie ihren Arm nicht mehr bewegen kann. Dann kann sie ihren Beruf nicht mehr ausüben. Ich muss meine Schmerzen einfach als lebensnahe Recherche betrachten.

Als es dunkel wird, fahre ich zurück ins Zentrum und kehre in meinem Lieblingskaffeehaus Diglas ein (das es zum Glück noch gibt) und lasse mir dort eine warme Kürbissuppe schmecken. Der Kellner hat einen durchsichtigen Plastik-Mundschutz und fragt mich beim Bezahlen: „Brauchen Sie ein Lächeln?“ – was ich gerne annehme, aber eigentlich hat er „Rechnung“ gesagt.

Gegen 21 Uhr mache ich mich auf den Weg zum Hauptbahnhof, gehe zum Abschied noch an meiner alten Bekannten der Staatsoper vorbei, die monumental und divenhaft ihr Geheimnis hütet. Um 22 Uhr fährt der Zug aus. Ich habe ein Abteil für mich alleine und falle auf der schmalen Liege sogar für einige Stunden in einen tiefen Schlaf – dank der Medikamente.

Mein rechter Arm hat sich immer noch nicht erholt und ich tippe diese Zeilen unter Schmerzen – aber das gehört zum Autorinnen-Leben wohl dazu.

Das war also meine Recherchereise – mit vielen Eindrücken und auch einer Portion Drama.

Wien, Wien nur du allein, sollst stets die Stadt meiner Träume sein“, höre ich Richard Tauber mit seiner goldenen Stimme singen.

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